Artikel

Lateinamerikas wertvollste Altstadt
Neue Zürcher Zeitung

Schauplatz Brasilien

Die Erneuerung des Zentrums von Salvador da Bahia

15. Oktober 2002 - Tomas Veser
Als vor zehn Jahren in Salvador da Bahia die Restaurierung des umfangreichsten Altstadtensembles in Lateinamerika begann, verfügten die Behörden trotz massiver Kritik die Umsiedlung der meisten Bewohner. Heute wirkt Alt-Salvador zwar als touristischer Magnet, konnte aber bisher kaum Mieter aus der Mittelschicht anziehen.

«Ein üppig spriessendes Gewächshaus, von der Natur für sich selbst gemacht», nannte einst Charles Darwin Salvador da Bahia, Brasiliens erste Hauptstadt, die von den Portugiesen 1501 als «Brückenkopf» zwischen Kolonie und Heimat an der atlantischen Küste gegründet worden war. Man liess sich von der Natur inspirieren und baute Kirchen, Paläste und Herrschaftshäuser mit wuchernden Dekors. Vor allem um die Kirchen zu schmücken, war den Portugiesen kein Mittel zu aufwendig und kein Weg zu weit. Fast alle Bauteile und Skulpturen wurden im Mutterland angefertigt und an Bord der Karavellen herbeigeschafft, die dann für den Rückweg mit Edelmetallen, aber auch mit Gewürzen und Zucker aus den Plantagen des Hinterlandes beladen wurden. Dort arbeiteten die Vorfahren eines Grossteils der heutigen Bewohner Salvadors als Sklaven. Auf der Praça da Sé erbauten Jesuiten im 17. Jahrhundert die Kathedrale und verschönerten sie mit vergoldeten Altären und Heiligendarstellungen. Portugiesische Azulejos schmücken die Rokoko-Kirche Ordem Terceira de São Francisco. Altar, Schnitzwerk und Skulpturenschmuck dieses Baudenkmals stellen selbst Werke des portugiesischen Barocks in den Schatten.


Kostbare Baudenkmäler

Doch nicht nur die Kirche fand Gefallen am Prunk. Auch Plantagenbesitzer und Kaufleute leisteten sich Repräsentationsbauten, deren barocke Verzierungen oft afrikanische und indianische Elemente aufwiesen. Das trug dazu bei, dass Salvador im 18. Jahrhundert zu einem der wertvollsten architektonischen Ensembles in ganz Lateinamerika wurde. Doch als die Kolonialregierung nach Rio de Janeiro umzog, nahm Salvadors Bedeutung ab. Für die meisten Brasilianer hat die Stadt freilich nichts von ihrer symbolischen Ausstrahlungskraft als Herz der brasilianischen Kultur verloren. Diese Argumente machte sich auch die Unesco zu eigen, als sie der Innenstadt 1985 den Rang eines Weltkulturerbes verlieh. Damals waren viele Baudenkmäler in desolatem Zustand, kaum ein Hausbesitzer wohnte noch in seinem Gebäude. Vor allem die zentralen Viertel Pelourinho und Maciel büssten ihre Attraktivität ein. Banken zogen in neue Stadtteile, Firmen folgten nach, Kinos wurden geschlossen, und selbst die Medizinfakultät der Universität gab ihr Altstadtgebäude auf.

Das Stadtzentrum zog zwielichtige Gestalten an, Drogenhandel und Prostitution blühten. Selbst tagsüber war für Besucher des Viertels das Risiko hoch, überfallen zu werden, da die Polizei diesen Teil Salvadors längst aufgegeben hatte. So entwickelten sich die Randgebiete zum eigentlichen Zentrum der auf zweieinhalb Millionen Einwohner angewachsenen Metropole, während der alte Stadtkern zur Peripherie wurde. Da die Stadtbehörden nicht in der Lage waren, Alt-Salvadors Untergang aufzuhalten, ergriff vor rund zehn Jahren die Regierung des Gliedstaates Bahia die Initiative. Der damalige Gouverneur Antonio Carlos Magalhães, kurz ACM genannt, versprach, die Altstadt zu restaurieren, und liess seinen Worten Taten folgen - zur grossen Verblüffung der an leere Versprechen gewöhnten Bürger. An Geldern fehlte es nicht, schliesslich gilt Bahia mit seinen Ölvorkommen und Bodenschätzen als Brasiliens zweitreichster Teilstaat.

Magalhães, heute Präsident des Senates in Brasilia, entschied sich für eine Art der Altstadterneuerung, die nicht nur in Denkmalschutzkreisen Kontroversen auslöste. Praktisch alle Bewohner der Viertel Pelourinho und Maciel mussten ausziehen, bevor eine staatliche Baufirma 1994 mit der Restaurierung beginnen konnte. Im ehrgeizigen Projekt der «Wiederbelebung», so der offizielle Begriff, waren die Einheimischen nicht vorgesehen. Militärpolizisten überbrachten den Hausbesetzern Räumungsbefehle, die notfalls mit Gewalt vollzogen wurden. Wer Besitzurkunden vorweisen konnte und bleiben wollte, wurde mit finanziellen Entschädigungen zum Auszug bewogen oder bei hartnäckigem Beharren enteignet. Von einer Rückkehr der einstigen Bewohner nach Sanierungsabschluss war nie die Rede. Es ging von Anfang an darum, eine attraktive Altstadt mit einem angemessenen Dienstleistungsangebot zu schaffen. Schadhafte Gebäude wurden nicht abgerissen, sondern entkernt. Hinter den Fassaden entstanden vor allem Geschäftsflächen und komfortable, moderne Wohnungen. Häuserfronten erhielten einen frischen Anstrich, wobei Blau und Rot dominieren. Mit Steuergeld entstand eine angemessene Infrastruktur, unter anderem ein Kanalisations- und Beleuchtungssystem, auch die Gassen wurden neu gepflastert.

Inzwischen ist die Erneuerung der zwei Quartiere so gut wie abgeschlossen, womit rund ein Siebtel der Altstadt in neuem Glanz erstrahlt. Dieser kleine, einst verrufene Teil des historischen Kerns zieht vor allem an den Wochenenden nicht nur Touristen, sondern auch Einheimische an. Sie finden hier eine beachtliche Auswahl an Hotels, Museen, Galerien und Restaurants. Viele der besten Köche Salvadors sind in das Pelourinho umgezogen. Am Rande der mit Marmor gepflasterten Plätze warten die Baianas, dunkelhäutige Frauen mit farbigen Turbanen, weiten Röcken und Spitzenblusen, auf Hungrige, die trotz tropischer Hitze Bohnenbrei mit Krabben oder scharfen Fischeintopf verzehren möchten. Tag und Nacht kümmern sich Militärpolizisten um die Sicherheit der Besucher. Sie patrouillieren durch die beleuchteten Gassen. Wegen der permanenten Kontrollen sind Prostitution und Strassenkriminalität zurückgegangen. Dafür beschweren sich die Bewohner des benachbarten, nicht renovierten Viertels Saúde, dass bei ihnen die Polizei nicht mehr präsent sei.


Fehlentwicklungen korrigieren

Offiziell feiert Salvadors Stadtverwaltung die Restaurierung als Erfolg, räumt aber ein, dass man «unerwünschte Entwicklungen» korrigieren müsse. Denn die sehnlichst herbeigewünschten Mieter oder Wohnungskäufer zeigen der renovierten Altstadt die kalte Schulter. Salvadorianer aus der Mittelklasse sind zwar stolz auf die Resultate der «Wiederbelebung». Kaum einer von ihnen möchte jedoch im historischen Zentrum leben. Sie ziehen geräumige Neubauwohnungen mit Tiefgaragen und Versorgungseinrichtungen in Hochhäusern am Stadtrand vor, die von Metallzäunen geschützt sind. Inzwischen wachsen auch bei den Mietern von Boutiquen und Restaurants die Sorgen, weil der Mietzins oft höher ist als der Umsatz. Vermutlich stünden viele renovierte Gebäude leer, hätte die Stadt in ihnen nicht Ämter untergebracht oder sie gratis an Karnevalsgruppen und gemeinnützige Organisationen vergeben. Die Bausubstanz instand zu halten, ist Aufgabe der Stadtkämmerei, die langsam nicht mehr weiss, woher sie das nötige Geld nehmen soll. Da ist es kein Wunder, dass sich die Anfangseuphorie gelegt hat. Hinzu kommt, dass schon wieder die ersten erneuerten Fassaden zu bröckeln beginnen. Im tropischen Klima wucherndes Unkraut überzieht an vielen Stellen Hauswände, Fensterbrüstungen und Regenrinnen. Und hie und da hat eindringendes Regenwasser bereits das Mauerwerk verschimmeln lassen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: