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Weil sie es können, wollen, müssen
Der Standard

Die schönsten Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt, sagte Friedrich Schiller. Die schönsten Träume von Freiheit werden gebaut, sagen die, die es gemacht haben: die verrücktesten neuen Häuser, erfunden von Freigeistern aller Art und auf der ganzen - nicht nur der reichen - Welt.

19. Oktober 2002 - Ute Woltron
Architektur, das lässt sich ohne weiteres behaupten, kann zu einem Kerker werden, zu einem Wohngefängnis, zu einem Albtraum auf soundso wenigen oder auch soundso vielen Quadratmetern. Die Hasenställe für Menschen sind entwürdigend und quälend, und der Traum von einem ordentlichen Eigenheim ist immer noch der meistgeträumte, vor allem von Menschen in der Stadt.

Natürlich - es hat sich auch im Wohnbau einiges getan, die Grundrisse sind etwas besser und freier geworden, die Wohnpferche für möglichst viele auf möglichst kleinem Platz unterzubringende Menschen scheinen einer schlechteren Vergangenheit anzugehören. Doch sie stehen noch, sie werden nach wie vor bewohnt, und auch ihre Nachfolger sind nicht immer dergestalt, dass Freude am Wohnen aufkommen mag: Das Korsett der Einfallslosigkeit beginnt im Kopf der Städtebauer, der Baunormenmacher, der Investoren und schließlich der Planer, es setzt sich fort auf der Baustelle mit all ihren stahlbetonschweren Zwängen und faktischen Scheinnotwendigkeiten, und es erreicht im standardisierten Innenausbau eine oft groteske, alles gleichmachende, bevormundende Vollendung.

Dass der Mensch auch anders hausen kann - oder, und das nicht nur in Drittweltländern, auch muss - als in standardisierten Wohnboxen, macht eine erfreuliche, nachgerade fröhlich stimmende Publikation aus dem Hause Prestel klar: xtreme houses (herausgegeben und geschrieben von Courtenay Smith und Sean Topham) mag zwar nicht für jedermann die rechte Wohnlösung parat haben, doch die vielen, zum Teil köstlich abartigen Haus- und Hüllenkonstrukte, die hier weltweit gesammelt und zu einem kunterbunten Band zusammengetragen wurden, regen schließlich zu einem Überdenken des ewig gleichen Herkömmlichen an: Warum, so geht ein alter, zugegebenermaßen etwas anzüglicher Witz, pflegen Hunde so gerne an ihrem Hinterteil zu schlecken? Weil sie es können, lautet die nüchterne Erkenntnis.

Weil sie es konnten, wollten, mussten, leben diverse Wohner, die in xtreme houses präsentiert werden, in Hüllen ganz anderer Art: Weil sie sich freidachten, weil sie ihre ganz persönlichen Wohnvorstellungen aus den bekannten Schemata herauszulösen vermochten und weil sie selbst unter kräftiger Handanlegung ihre - sowohl in herkömmlichen Wohnkerkern oder unter dem fehlenden Obdach auf der Straße geträumte - Wohnfreiheit und Utopie unter Freisetzung großer Mengen von Spaß und Engagement umsetzten.

Robert Bruno zum Beispiel ist einer von ihnen. Der Mann wohnt in Texas, er genießt also die baulichen Vorzüge eher wärmerer Gefilde, weshalb er sich auch um bauphysikalische Zwänge kaum zu scheren scheint. Seit 1978 schweißt Bruno unverdrossen an einem gewaltigen Gebilde auf corbusierartigen Stelzen herum, das sich dinosaurierartig über die kargen Hänge des Landes zu erheben scheint. Über hundert Tonnen des sperrigen Materials hat er derweilen gekonnt verbogen und verbraten, unter Auslassung geräumiger Glotzscheiben und Hervorbringung gewaltiger innerer Domräume und unter strikter Missachtung jeglichen rechten Winkels. Mittlerweile ist das Werk so weit gediehen, dass Bruno sein konventionelles Zwei-Garagen-Ranchhaus gleich nebenan verlassen und den Saurier besiedeln konnte.

Im Gegensatz zu Bruno, dem rabiaten Stahltierschweißer, ist die Britin Sarah Wigglesworth Architektin. Auch ihr Haus fällt, so könnte man sagen, eindeutig aus der Reihe, in diesem Fall aus der typischen Londoner Reihenhausreihe. Wigglesworths Wohnhaus sieht aus, als hätte sie in Vorbereitung für den Bau monatelang frühmorgens in diversen Mülleimern und Abfallhalden der Stadt gewühlt, um an Gratisbaumaterial zu kommen.

Sie befüllte etwa Säcke mit einem Gemisch aus Sand, Zement und Lehm und türmte sie zu Mauern auf. Sie schaufelte Steinbrocken in Drahtkäfige und verhüllte Betonstützen damit. Sie errichtete Wände aus Strohballen, verkleidete sie mit innen mit Textilien und ließ außen deren Struktur durch Polykarbonatwellen schimmern. Das Haus in der Orchard Street wurde so zu einer kompakten, flippigen Angelegenheit, die auch aufzeigen will, dass es eben anders, mit rezyklierbaren Materialien und freigedachten Konzepten geht - bei gleicher, wenn nicht besserer Wohnqualität.

Stichwort Material und Preis: Als der Stuttgarter Maschinenbaustudent Michael Hönes im Jahr 1991 Südafrika besuchte, fielen ihm die innovativen, aus Blechdosen und Draht selbst gebastelten Spielzeuge der Kinder in den Straßen auf. Er versuchte sich selbst an einer Feuerstelle aus Getränkedosen und Draht, nahm sie in Betrieb und bemerkte sofort, dass erst ein Tisch und Sessel die Sache zur Gemütlichkeit abrunden würden. Um sich und dem Material treu zu bleiben, verwendete er als Konstruktionsstoff abermals Draht und Dosen - und fand sich bald als Zulieferant diverser Nachbarn wieder.

Feuerstellen, Möbel, Hundehütten und dergleichen entstanden, schließlich zynischerweise auch eine kleine Hütte für das Hausmädchen eines Nachbarn. Als die schließlich kurzerhand ihre fünfköpfige Familie in das Blechdosenhaus übersiedelte, machte das Beispiel unter den Einheimischen Schule. Sie entdeckten das überall in Massen gratis zur Verfügung stehende Baumaterial für sich: Die ersten Tin-Can-Häuser wurden gebaut, Konstrukteur Hönes half dabei mit Know-how, perfektionierte die Technologie und konnte seine Billighäuser, die zu willkommenen Wohnstätten der Armen geworden waren, im Jahr 2000 einem satteren Publikum auf der Weltausstellung in Hannover präsentieren.

Das Thema Shantytown und Obdachlosigkeit wird generell nicht nur in ein paar Nebensätzen alibihaft abgehandelt in xtreme houses, sondern stellt sich als wichtiger Teil der Publikation dar.

Während der Japaner Shigeru Ban seine vormals für Flüchtlinge konzipierten Papierrollenhäuser mittlerweile auch für ganz Reiche errichtet - wie im Falle des hier gezeigten naked house in reichlich modifizierter, mit Glas und edlen Materialien raffinierter gemachten Form, versteht sich -, konstruieren immer wieder auch andere geschulte Planer kostengünstige, leicht zu errichtende und zu transportierende Unterkünfte.

Da gibt es zum Beispiel Valeska Peschkes allerorten aufblasbares instant home aus Gummiplane, für das die Berlinerin auch das dazugehörige luftig gefüllte Mobiliar mitentworfen hat. Da rollt etwa Krysztof Wodiczkos homeless vehicle project wie ein überdimensionaler Einkaufswagen samt einer mitgeführten und zur Schlafstätte ausziehbaren Tonne durch die Einkaufsstraßen von New York und Boston. Und da ist auch noch Martín de Azúzas basic house-Prototyp, der wohl leichteste Schlaf-und Schutzcontainer, der je erfunden wurde. Das gute Teil wiegt so gut wie nichts und passt in eine Jeanshosentasche. Holt man es hervor, so entfaltet es sich lediglich kraft eines leichten Lüfterls, der Sonneneinstrahlung oder der Körperwärme zu einem geräumigen Kubus. Die silbrige Seite schützt vor Hitze, die güldene isoliert die Kälte. Ganz wenig kann sehr viel sein.

Eine andere, experimentelle und an der Grenze zu Aktionismus und Kunstbetrieb schrammende Art, mit Räumen umzugehen, zeigt die frische und offensichtlich ideenreiche österreichische Truppe mit dem optimistischen Titel alles wird gut anhand ihres urban sushi, einer Prototyp-Installation, die im Übrigen im Frühjahr bereits in der Mega-Künstlerhaus-Ausstellung zu sehen war: Das Leben, so sehen es die Architekten, sei ohnehin nichts anderes als ein ewiger Kreislauf, also entwarfen sie ein kompaktes Wohnrad, dem die für die Prozesse des Auf-der-Welt-Seins notwendigen Funktionen alle eingeschrieben sind - im Umdrehen, sozusagen.

Xtreme houses ist letztlich nur eine von vielen Publikationen zum Thema „Neue Häuser“, „Neue Architektur“, „Neues Planen“. Doch sie ist das mit Abstand griffigste, frechste und empfehlenswerteste Nachschlagewerk dieser Art im heurigen Architekturbücherjahr.

Hier kommen nicht die ewig gleichen, ewig toll entwerfenden, ewig im Rampenlicht einer architekturgeduldigen Öffentlichkeit stehenden Bausuperstars und Computerwürger zum Zug, sondern freigeistige Entwerfer, Selberbauer, Autodidakten und Architekten. Mit anderen Worten: Hier waren ziemlich viele Irre am Werk, und das Werk ist gut geworden.

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