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Der Natur auf der Spur
Neue Zürcher Zeitung

Die Architekten Herzog & de Meuron zeigen im «Canadian Centre for Architecture» in Montreal eine grosse Retrospektive. Ein Gespräch mit Jacques Herzog

3. November 2002
NZZ am Sonntag: Die Ausstellung im Canadian Centre for Architecture (CCA) ist eine Art Retrospektive auf das bisherige Werk von Herzog & de Meuron. Sie verzichtet aber weitgehend auf Pläne und Photographien und zeigt vor allem Modelle, die wie ein riesiger Materialstrom in zwei Reihen über sockelartige Tische fliessen. Welche Überlegungen stehen dahinter?

Jacques Herzog: Der kuratorische Input für diese Ausstellung kam von Kurt Forster und Philip Ursprung. Sie hatten nach Besuchen in unseren Basler Räumen Bilder von Naturkundemuseen aus dem 19. Jahrhundert im Kopf, die überquellen von Materialien, Farben und Formen. Die Kuratoren wollten zeigen, was wir über die Jahre hinweg Tag für Tag produziert haben.

Von wem stammt die Architektur der Ausstellung?

Die haben Herzog & de Meuron entwickelt. Wir haben die Sockel, auf denen die Modelle ausliegen, vor Ort ausgeführt wie ein Gebäude. Dass sie eine Zwischenform aus Tisch und Laufsteg sind, hat mit zweierlei zu tun. Einmal erinnern sie an die Ausstellung, die Rémy Zaugg 1995 für uns im Centre Pompidou eingerichtet hat; dort wurde das Material auf richtigen Tischen ausgebreitet. Dann verweisen die Sockel auf Möbel, die wir für Prada in Tokio zum Auslegen von Waren entwickelt haben. Durch diese Verbindung mit dem Markt bleibt die Idee der Kuratoren nicht historisch.

Verbirgt sich darin Distanz zum Konzept einer Naturgeschichte Ihres Denkens, das die Kuratoren betonen?

Diese Ausstellung im CCA ist in gewisser Weise eine Abfall-Ausstellung. Sie präsentiert keine für sich gültigen Objekte, sondern die Überbleibsel unserer Denkprozesse. Die Modelle und Skizzen sind Instrumente, mit denen wir uns Klarheit verschaffen. Die Naturgeschichte zeigt Versteinerungen, Knochen etc., die ebenfalls Rückstände von vitalen Prozessen sind. In diesem Sinn stimmt die Analogie für uns durchaus.

Die Ausstellung im Centre Pompidou erinnerte an den Lesesaal einer Universität, also an eine Vorstellung von Aufklärung. Ist Ihrer Architektur heute die Präsentation der Mode angemessener?

Überhaupt nicht. Wir denken nicht so linear. In Paris war es durch das grelle Licht fast schwieriger, die Projekte zu studieren, als jetzt. Im CCA ist die Ausstellung viel zugänglicher. Der Hauptunterschied besteht darin, dass die Arbeiten jetzt aneinander stossen und in unerwartete Nachbarschaften kommen, während 1995 die Projekte linear aufeinander folgten.

Diese Nachbarschaften erschliessen sich nicht immer.

Das kommt durchaus vor. Wir sagen nicht, dass alles miteinander zu tun hat. Die aktuelle Ausstellung legt den Akzent auf Ähnlichkeiten, auf Überlegungen, die in unseren Köpfen vorhanden sind und plötzlich aus irgendwelchen Gründen in den Vordergrund treten oder fast verschwinden.

Einmal stehen sich ein frühes minimalistisches Gittermodell und die bunten Glaskugeln für ein Prada-Gebäude gegenüber, die an neobarockes Art déco denken lassen. Ist das eine Entwicklung?

Für uns ist das Gitter viel komplizierter und barocker als die bunten Glaskugeln. Wir sind in den letzten Jahren einfacher geworden, auch wenn die Formen komplexer werden. Es gab für uns auch nie ein Denken in einer Kiste, wie man uns gerne unterstellt. Diese einfache Form konnten wir als intellektuelle Waffe einsetzen, als Postmoderne und Konstruktivismus favorisiert wurden. Seither hat sie sich abgenutzt, und wir entwickeln andere Möglichkeiten, mit denen wir auf unsere Zeit reagieren können.

Was heisst das?

Architektur ist immer sehr stark an ihre eigene Zeit gebunden. Warum haben die Menschen gotisch, dann im Renaissance-Stil und später barock gebaut? Das lässt sich doch nicht nur mit der Entwicklung der Technik erklären. Da haben sich Formen so weit abgenutzt, dass die Menschen damit ihre Zeit nicht mehr sehen konnten. Also haben sie es anders gemacht.

Wann entstand diese Notwendigkeit?

Der Wettbewerb für die Erweiterung des Museum of Modern Art in New York war dafür sehr wichtig. Da haben wir mit dem verdrehten Turm erstmals für ein grosses Publikum Kristallformen sichtbar gemacht.

Ein anderes Projekt, in dem rechtwinklige Formen durch biomorphe abgelöst werden, ist der Entwurf für die Universitätsbibliothek in Cottbus, die gerade gebaut wird. Wie ist es dazu gekommen?

Durch eine zentrale Veränderung. Zuerst sollte die Bibliothek zusammen mit Hörsälen gebaut werden. Beide verhielten sich wie Positiv und Negativ zueinander. Als das Schwestergebäude wegfiel, stand die Bibliothek alleine, und wir sahen, dass dieses erste grössere Gebäude in der Stadt nach dem Mauerfall in seiner Sprache trotz allen Feinheiten letztlich dieselbe Idee von Moderne weiterführt wie die Neoklassik der DDR-Bauten. Wir haben uns dann für eine skulpturale, freiere Form entschieden.

Das klingt so, als würden die freieren Formen der letzten Jahre eine Abkehr von einer bestimmten Art der Moderne markieren, die Sie als verbraucht erleben.

Weniger von der Moderne als von der Postmoderne und dem, was als Minimalismus bezeichnet wird. Wir wollen nutzen, was die Welt bietet. Dass es runde Formen gibt und eckige, ist für mich natürlich. Wieso soll man nur rechtwinklig bauen? Das wäre so, wie wenn einer immer das Gleiche isst. Dann könnten wir Architektur nicht als Landschaft entwerfen, wie wir es beim Hafen von Teneriffa oder beim Kultur- und Kongresszentrum in Barcelona tun. Statt eine Explosion von Möglichkeiten freizusetzen, müsste man einen Stil entwickeln und einen Kanon ausbilden. Das konnte Mies van der Rohe noch machen, weil die Moderne explizit eine neue Tradition und Mies sogar eine neue Klassik begründen wollte. Er hat damit eine Weltschule ausgelöst; überall entstanden Gebäude im «International Style». Wer will denn heute noch einen solchen Anspruch stellen? Mich schaudert der Gedanke, dass überall Gebäude in der Art von Herzog & de Meuron entstehen würden! Unsere Gegenwart ist anders, und Architektur ist das Psychogramm einer Zeit.

Wodurch ist unsere Zeit denn für Herzog & de Meuron vor allem geprägt?

Am einschneidendsten sind wohl die Möglichkeiten, die sich durch technologische Entwicklungen, im Bereich der Architektur vor allem durch die zunehmenden Rechenkapazitäten von Computern, ergeben.

Was wäre eine solche Möglichkeit?

Die Repetition, Serialität und Vorfabrikation, die für die Moderne zentral waren, sind heute für viel komplexere Formen möglich. Das geht so weit, dass das menschliche Auge das Repetitive gar nicht mehr wahrnehmen kann. In unserer Ausstellung hier im CCA sieht man, dass wir alte Verfahren wie das Abgiessen von Formen verwenden; der Computer erlaubt es aber, damit Formen herzustellen, die in ihrer Komplexität an den Formbildungsprozess der Natur erinnern. Das sieht man an den Maueröffnungen für das Schaulager ® der Laurenz-Stiftung, das nächstes Jahr bei Basel eröffnet wird, oder an den von Spitzen abgeleiteten Formen des Walker Art Center in Minneapolis; in beiden Fällen entstehen ganze Landkarten mit selbstähnlichen Strukturen, wie die Chaostheorie sie für die Natur beschreibt.

Sie haben sich von Mies van der Rohe und seiner Klassizität abgegrenzt. Doch in der neuen Ausstellung erscheint nun auch Ihr Werk sehr klassisch.

Mir ist es um den globalen Anspruch gegangen. Wir haben 170 Mitarbeiter und bauen auf der ganzen Welt. Diese Welt ist sehr unberechenbar für Architekten. Es gibt verschiedene Kriegsfronten, die Wirtschaft ist in einer schwierigen Lage, rund 95% aller Bauten werden direkt an Baufirmen vergeben. Wenn wir in dieser Situation dennoch den Anspruch haben, eine Architektur zu machen, die ganz auf dem Boden steht, ist das klassisch im traditionellen Sinn. Ein kleines Büro kann das viel leichter. Da kann man mit aller Sorgfalt schöne Möbelstücke anfertigen. Im globalen Massstab wird Architektur nur dann überleben, wenn es ihr gelingt, ihre eigene Sprache einzubringen.

Was wäre ein Beispiel dafür?

Wenn wir in China bauen, wollen wir nicht Hochhäuser hinstellen, die keine architektonische Handschrift mehr erkennen lassen. Man kann natürlich zynisch behaupten, die zeitgenössische Stadt sei generisch und baue sich selbst. Aber dann machen sich Architekten überflüssig und werden zu Symposiums-Architekten oder Grüssaugusten. Da wir das nicht wollen, suchen wir überall nach Formen, die es erlauben, unsere Entwürfe auf die konkrete Situation abzustimmen, sie auf den Boden zu bringen.

Mich überrascht die Formulierung, Ihre Architektur «auf den Boden zu bringen». Herzog & de Meuron gehen doch, bei allem intellektuellen Anspruch, vom Boden aus, den Materialien, der Situation, der Dinglichkeit des Bauens. Das ist fast eine Baumeisterhaltung.

Wir haben uns natürlich mit Philosophie und Sprachtheorie beschäftigt, und wenn wir, ähnlich wie Rémy Zaugg, in unseren Entwürfen die Wahrnehmbarkeit der Welt betonen, so hat das durchaus einen philosophischen Hintergrund. Wir bringen uns aber nicht in die Verlegenheit, davon Architektur abzuleiten. So etwas kann nur schiefgehen. Dann schweben die Entwürfe in der Luft. Wir zielen mit unserer Architektur in die Mitte des menschlichen Seins auf der Erde. Wir schätzen die Schwerkraft und die Sinnlichkeit des Materiellen. Wir sind nicht wie der Geist in der Flasche, der darunter leidet, dass er eine physische Existenzform annehmen muss. In diesem Sinn entsprechen wir einer baumeisterlichen Haltung, die wir allerdings ständig reflektieren. Nur so können wir als Architekten einen Beitrag zu unserer Zeit leisten.

Inwiefern?

Weil Architektur andernfalls maschinell entsteht. Vielleicht ist sie dann als Disziplin erlöst. Wenn es von alleine baut, so wie Pflanzen wachsen. Dann kann man je nach Bedürfnis etwas Geschmack oder Form drüberstreuen, aber wirklich gebraucht werden Architekten nicht mehr. In einer Welt, in der biologische Prozesse anders ablaufen als heute, in der transhumane Verbindungen aus Mensch und Computer Realität werden, ändern sich die Sinnlichkeit und die Wahrnehmung von der Welt vielleicht so stark, dass Architektur, wie wir sie uns bisher vorgestellt haben, obsolet wird. Sie taugt dann nur noch fürs Museum wie ein Pompadour- Sessel. Das wird man akzeptieren müssen.

Im CCA zeigen Sie ein Bild von Rémy Zaugg, auf dem er Bauen als Herstellen von Welt skizziert. Was für eine Welt wollen Herzog & de Meuron zeigen?

Viele Welten. Uns ist wichtig, dass der Betrachter etwas entdecken kann und für sich ein Stück Welt erstellt. Es geht uns nicht um ein bestimmtes oder gar um ein einziges Bild der Welt. Interview: Gerhard Mack


[ Herzog & de Meuron: Archéologie de l'Imaginaire. CCA Montreal, bis 6. 4. 2003. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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