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Neue Zürcher Zeitung

Architektonischer Erneuerungsprozess in Peking

19. November 2002 - Justus Krüger
Eine abgeschabte Stahlkugel zertrümmert noch die letzten grauen Häuserstümpfe, als das alte, von engen Gassen geprägte Viertel neben der Verbotenen Stadt schon einer Mondlandschaft gleicht. Ein solcher Anblick ist in Peking durchaus nicht ungewöhnlich. Die sanitären Verhältnisse seien eben unerträglich gewesen, heisst es wie üblich, und überdies sei wegen des Platzmangels in der Innenstadt der Abbruch der einstöckigen Gebäude unvermeidlich. Sanierungen werden so gut wie nie in Betracht gezogen, stattdessen wird grossflächig abgerissen.

Während die neueste und bisher radikalste Modernisierungswelle Peking überrollt, ist es das Ziel der Planer, aus der chinesischen Hauptstadt bis zum Beginn der Olympischen Spiele 2008 eine Metropole zu machen, die sich vor Paris und New York nicht schämen muss. Dass sie dabei vor lauter Übereifer die Spuren der Vergangenheit auslöschen, veranschaulicht ihren oft unreflektierten Begriff von Moderne und ein unfruchtbares Verhältnis zur Tradition des eigenen Landes. Doch das neue Peking, das an die Stelle der alten Nachbarschaften tritt, ist alles andere als überzeugend.


Architektonischer Selbstmord

Nur wenige Schritte vom Kaiserpalast entfernt führt eine schmale Strasse durch ein rotes Tor in ein Gitter alter Gassen, gesäumt von grauen Ziegelhäusern, die nicht nur zwei langlebige Dynastien überdauert, sondern auch Revolution, Krieg und Bürgerkrieg überstanden haben. Hinter den alten Mauern verbergen sich die für Peking typischen «Siheyuan», die Wohnanlagen der alten Oberschicht. Abgeschirmt vom zudringlichen Blick, waren die alten Gemäuer um schattige Höfe angeordnet, in denen sich die Aristokraten einst dem Lärm der Stadt entzogen. Nach gut 50 Jahren sozialistischer Siedlungspolitik und einem rasanten Bevölkerungszuwachs ist das alte Oberklassenidyll längst passé. Die Gebäude, obwohl übernutzt und heruntergekommen, stehen noch. Aber nicht mehr lange. Die alten Mauern werden alle vom gleichen hastig hingeschmierten Zeichen verunziert: «chai» - Abriss.

Die Behörden agieren oft unkoordiniert und rücksichtslos. Als die Bewohner des Nanchizi- Distrikts am Morgen des 14. Mai auf die Strasse traten, wurden sie von einem Plakat überrascht, das sie über die Zukunft ihres Bezirks informierte: Innerhalb eines Monats hätten sie ihre Wohnungen zu räumen, denn der Abriss des alten Viertels sei beschlossene Sache. Dass die Bezirksverwaltung hinter dem Projekt stand, stellte sich erst heraus, nachdem sich Angestellte der mit dem Abriss betrauten Firmen gegen den Willen der Anrainer Zutritt in die Wohnungen verschafft hatten. Wenig später wurde mit dem Abriss des alten Viertels begonnen, obwohl das städtische Hauptplanungsamt den Nanchizi-Bezirk erst vor zwei Jahren zusammen mit 24 weiteren Nachbarschaften unter Denkmalschutz gestellt hatte. Dass der Abriss des historischen Viertels, von unbefugter Stelle eingeleitet und mit nicht ganz legalen Methoden durchgeführt, keinen Skandal auslöste, spricht Bände über den Zustand der öffentlichen Meinung in der Volksrepublik China. Die Zerstörung des Bezirks setzt ein Fragezeichen hinter das Schicksal der anderen für schützenswert befundenen Ensembles.

Der brachiale Umgang mit dem historischen Erbe Pekings hat Tradition. In der stürmischen Aufbauphase nach der kommunistischen Staatsgründung 1949 stiessen die Advokaten einer behutsamen Stadtentwicklung bei den Fetischisten der sozialistischen Moderne auf taube Ohren. Mao wollte 10 000 Fabrikschlote über Pekings Dächern rauchen sehen. Riesige Schneisen wurden durch die Stadt geschlagen, und die Nord- Süd-Achse, die seit Jahrhunderten den nach geomantischen Kriterien geordneten Grundriss Pekings bestimmt hatte, wurde zerstört, um den Tiananmen, den Platz des Himmlischen Friedens, zu einem monströsen Aufmarschplatz auszuwalzen. Die bis dahin vollständig erhaltenen Stadtmauern wurden abgebrochen, die Trümmer halfen beim Aufbau der Fabriken und Wohnhäuser des neuen China. Nun aber werden die wenigen verbliebenen Bruchstücke in eine 1,5 Kilometer lange Mauerrekonstruktion eingefügt - doch die alten Fragmente reichen nicht aus, um auch nur die Fassade des neuen Denkmals zu bedecken.


Schwindende Lebensart

Was an traditioneller Architektur den ideologisch motivierten Kahlschlag jener Jahre überstanden hat, fällt heute einem neureichen Chic zum Opfer. Die Idee einer «neutralen Moderne», auf die etwa das Schweizer Architekturbüro Burckhardt & Partner mit seinem Entwurf für ein von Medienwänden umgebenes Olympiastadion setzt, das im Jahr 2008 vollendet sein soll, ist die Ausnahme. Unterdessen verschwindet mit dem alten «hutong», dem typischen Gewirr schmaler Gassen und kleiner Wohnhöfe, die Lebensart der einfachen Leute. Kleinhandel, Restaurants, Werkstätten am Strassenrand, Barbiere, Nachbarschaftstreffs, Garküchen und dergleichen mehr prägen das Leben in den alten Vierteln. Der ganze Handel und Wandel, genauso wie die engen nachbarschaftlichen Beziehungen, hängt von der kleinteiligen Raumordnung, dem Wohnzimmercharakter der Gassen und den niedrigen Mieten ab. Dabei hat die nachbarschaftliche Nähe ihre Kehrseite, und es gibt einen Grund für das niedrige Niveau der Mietpreise: Die Häuser bröckeln vor sich hin, der Wohnraum ist knapp bemessen, die sanitären Verhältnisse sind schlecht. Daher stehen viele Bewohner dem Umzug in neue, komfortablere Wohnungen durchaus aufgeschlossen gegenüber.

Selbst wenn die alten Viertel saniert werden würden, hätte sich die Bevölkerungsstruktur drastisch zu ändern: Die Instandsetzung ist teuer, und das Geld müsste durch die Mietpreise hereingeholt werden. Dass ein solches Sanierungsprogramm profitabel sein kann, hat sich im Schanghaier Duolun-Bezirk gezeigt; ein Investorenkonsortium rang der Stadtregierung die Entwicklungsrechte für ein historisches Stadtquartier mit Kolonialarchitektur ab, das zu einem schicken Szeneviertel umgebaut werden soll. In Peking ist man für solche Experimente nicht zu haben.

Mit einem einzigen Büroblock ist in Peking nämlich kurzfristig mehr Geld zu verdienen als mit einem ganzen, kostspielig in Hinblick auf Wohnen, Einzelhandel und Tourismus sanierten Stadtviertel. Ausserdem entspricht behutsame Modernisierung einfach nicht dem Geschmack der neuen unternehmerischen Oberschicht. Seit dem Beginn der Öffnungspolitik 1978 und dem darauf folgenden Wirtschaftsboom ist sie darauf aus, ihren Immobilien einen möglichst modernen und westlichen Look zu verleihen. Es gelten die Devisen: Je höher, desto moderner, je glitzernder, desto westlicher. Doch weil das begehrte High- Tech-Design kostspielig ist, wird oft herkömmliche Ziegelbauweise mit kosmetischen Tricks zur Techno-Architektur umfrisiert. Das Ergebnis sind unehrliche Bauwerke, die Material, Struktur und Funktion konsequent verleugnen, um Opulenz oder Leichtigkeit vorzuspielen.

Während die alte Stadt einer unglückseligen Allianz aus technokratischem Modernisierungswillen, einem schwer belasteten Verhältnis zur Tradition, materiellen Zwängen, Mangel an Sachverstand und handfesten Geldinteressen zum Opfer fällt, können die wenigen geglückten Beispiele moderner Baukunst das Stadtbild nicht prägen. Auch monumentale Solitäre wie das futuristische Nationaltheater unweit des Tiananmen, ein 300-Millionen-Dollar-Projekt des Franzosen Paul Andreu, leisten einen eher zweifelhaften Beitrag zur Gestalt der Stadt. Die Aufmerksamkeit der Planer richtet sich weiterhin auf die westliche Baukunst. Die gilt es nach Peking zu verpflanzen: ein beinahe Frankenstein'sches Unterfangen, durch das sich die Stadt unter dem von anachronistischer Zukunftseuphorie getrübten Blick postkommunistischer Sozialingenieure in eine urbane Vollprothese zu verwandeln droht.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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