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Wunden und kleine Schritte
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Die wenigsten Ausländer wissen, dass Bukarest abseits der Ceausescu-Bauten eine architektonisch ungewöhnlich interessante und attraktive Stadt ist.

21. November 2002
Die rumänische Hauptstadt hat, was Baukunst betrifft, ein gewisses Image-Problem: Das bekannteste Gebäude der Stadt ist nach wie vor das megalomane „Haus des Volkes“, das Ceausescu aus Marmor und anderen kostbaren Materialien errichten ließ.

Dieser größte zusammenhängende Bau der Welt ist über die Wende hinaus zu einer Art negativem Wahrzeichen geworden. An einer belebten Straßenkreuzung beginnt die folgende Expedition.


Bukarest zur Rush-Hour

Bukarest, Platz der Einheit, 18.00 Uhr: Eine Rush-Hour - Verkehr wie in Paris, nur etwas chaotischer. Ohne Polizisten mit Trillerpfeifen geht hier gar nichts mehr. Ganz hinten über den Autokolonnen, unwirklich riesig, erscheint das marmorweiße „Haus des Volkes“. Es schwebt über der Stadt wie gebaute Science Fiction, wie der Palast eines außerirdischen Herrschers aus einer „Star Wars“-Folge.

Ebenfalls marmorweiß, eintönig und kilometerlang: Die ornamentalen Fronten zehnstöckiger Wohnblocks, die gleichzeitig mit dem Palast als Luxusviertel für bevorzugte Kader errichtet wurden. Der größte Teil des Bukarester Kern-Areals bietet aber ein völlig anderes Bild, das mit Ceausescus absurdem Stadtkonstrukt nicht das geringste zu tun hat.


Eine weitläufige Gartenstadt

Zwischen den Hauptverkehrsadern bildet Bukarest eine weitläufige Gartenstadt. Hier findet man Villen und einstöckige Häuser, asymmetrisch verzweigte Gassen und orthodoxe Kirchen, die die Umgebung kaum überragen. Die meisten Bauten sind von sehr gehobener architektonischer Qualität. Zwischen den orientalisch beeinflussten Säulen und Bögen des rumänischen Historismus und Jugendstil findet man sehr viel bauhaus-inspirierte klassische Moderne.

Dorin Stefan, Rumäniens Kommissär bei der diesjährigen Architektur-Biennale in Venedig, schätzt das labyrinthische und Unregelmäßige des alten Bukarest. „Bukarest ist aus mehreren Kernen zusammengewachsen. Diese Stadt hat sich nie rund um eine Festung entwickelt, war nie eine mittelalterliche Stadt, sondern ist um verschiedene Kirchen herum gewuchert, organisch und chaotisch. Deshalb ähnelt Bukarest einem Perserteppich, der aus verschiedenen Farben und Geweben besteht“, meint Stefan.


Eine Problemzone

Aus dem Teppichmuster der Stadt ließ Ceausescu breite Bahnen herausschneiden. Die Zonen hinter den Fassaden der Neubauten wirken heruntergekommen, wie ausgefranster Stoff. Manche sagen auch: Es sind schlecht vernarbte Wunden. Die Architekten der Stadt denken intensiv darüber nach, was man mit dieser Zone anfangen könnte.

Dorin Stefan hat mit einem Wohnungsumbau ein kleines, aber auffälliges Zeichen gesetzt. Vor einer Wohnung im ersten Stock wurde eine attraktive Konstruktion aus Glas und Metall angebracht. Innen hat man Wände entfernt, so dass der Wohnblock an dieser einen Stelle von vorn nach hinten durchsichtig wird.


Verbindung zweier Bilder

So hat der Architekt die Protzfassade mit dem Altstadtviertel dahinter gleichsam vernäht: „Es ist eine Art Tunnel, eine Verbindung zwischen der äußeren Front, die zum Boulevard gerichtet ist, und der Hinterseite, die zum älteren Teil von Bukarest führt. Es ist wie eine Art Licht-Tunnel: Er verbindet zwei verschiedene Bilder, indem er direkt durch den Wohnblock führt“, erklärt Stefan.


Kleine Schritte


Auf diese Weise setzt man kleine Schritte, weil die großen ausbleiben. Mitte der 90er Jahre gab es den internationalen Wettbewerb „Bukarest 2000“. Der deutsche Stararchitekt Meinhard von Gerkan gewann damals. Nach seinen Plänen sollte ein Business-Viertel mit Hochhäusern wie in Frankfurt das „Haus des Volkes“ entschärfen. Doch das Projekt wurde nie gebaut.


Der Architekt Augustin Ioan findet es so schade, dass seither vier Regierungen weder das Geld noch den politischen Willen dafür aufgebracht hätten.


Projekt Patriarchatskirche

Dafür soll Augustin Ioan jetzt selbst auf dem Einheitsboulevard bauen - und wird dafür von mehreren Seiten attackiert. Es geht nämlich um das Kirchenprojekt, das jahrelang unter dem Stichwort „Kathedrale des Volkes“ die Gemüter erhitzt hat. Jetzt spricht man schon bescheidener von der neuen rumänischen Patriarchatskirche. Und der Bau soll auch nicht mehr ganz so riesig dimensioniert sein wie zuerst geplant.

Augustin Ioans Projekt wird von seinen konservativen Gegnern „futuristisch“ genannt. Liberale Journalisten loben den relativ modernen Entwurf, finden aber den Standort indiskutabel. Der Hintergrund: Noch immer ist der orthodoxe Patriarch im Amt, dem ganz offen Kollaboration mit Ceausescu vorgeworfen wird.


Kritik an Hauptkathedrale

Daher erscheint es vielen unangemessen, dass jetzt die Hauptkathedrale der rumänischen Orthodoxie mitten im symbolischen Machtzentrum des früheren Regimes platziert werden soll.

Augustin Ioan widerspricht: „Wenn man dieser Logik folgt, dann müsste man dieselbe Kritik in Berlin äußern, wo Häuserblocks in einer von Albert Speer konzipierten Zone der Stadt entstehen. Dieser Boulevard in Bukarest ist ein städtisches Ödland, das man entwickeln muss. Man kann nicht sagen, hier wird nichts mehr gebaut, nur weil dieses Viertel nach den Wünschen Ceausescus entstanden ist. Es braucht an dieser Stelle ein großes Gebäude, um diesen enorm langen Boulevard zu unterteilen.“


Neue Architektur am Stadtrand

Ganz unbelastet von historischen Emotionen entsteht unterdessen am Stadtrand von Bukarest stellenweise beachtliche neue Architektur.

Alexandru Beldimann zum Beispiel hat eine sehr inspirierte kleine Villen-Siedlung für den gehobenen Mittelstand gebaut: Farbige geometrische Baukörper, die den Charakter der Bukarester klassischen Moderne, aber auch der reichhaltigen rumänischen Dorfarchitektur in sich tragen.

„Die Verwendung der Farben war insofern ein Experiment, als wir versuchen wollten, auf diese Art das noch ziemlich graue Bild der Stadt Bukarest zu beleben. Ich beziehe mich mit diesen Farben aber auch auf die internationale Moderne. Dieses Rot, Blau und Gelb haben die Avantgardisten der 20er Jahre verwendet, wie etwa Piet Mondrian in seinen Bildern oder Gerit Rietveld bei seinen Möbeln. Diese Traditionen wollte ich destillieren und etwas Neues daraus machen“, so Beldiman.


70 Prozent wohnen in Plattenbauten

Die meisten Rumänen können es sich aber nicht leisten, in solchen Häusern zu wohnen. 70 Prozent der Einwohner von Bukarest leben in Billig-Plattenbauten mit verrotteten Leitungen. Abreißen oder renovieren - und wenn ja, mit welchem Geld? Das Problem wird den Kommunen wohl noch Jahrzehnte nachhängen.

Und über das freie Land wird in absehbarer Zeit die „Häuslbauer“-Manie voll hereinbrechen. Da sind die Zuckerbäcker-Prachtburgen der zu Wohlstand gekommenen Roma noch die positivste Erscheinung, findet die Architektur-Theoretikerin Mariana Celac: „Ein extrem interessantes Phänomen, das Bilder von eindrucksvoller Vitalität und Vielfalt erzeugt. Es ist eine ästhetische Form, die den neuen Status einer Gemeinschaft ausdrückt: Nämlich den Status der Sesshaftigkeit, in dem Moment, wo das Wanderleben verlassen wird.“


Roma-Häuser

All die Säulchen, Balustraden und Türmchen, die Schnitzereien und die hochgetürmten, glitzernden Metalldächer mit Verzierungen, das sieht zwar kitschig, aber auch witzig aus.

„Die Formen der Roma-Häuser, über die man natürlich streiten kann, beruhen nicht nur auf Nachahmung der Umgebung, wie man oft geglaubt hat. Sie sind wohl auch Ausdruck eines latenten Gedächtnisses dieser Gemeinschaft, die den Orient vor einem Jahrtausend verlassen hat. Diese Hypothese von mir stützt sich auf die Struktur der Häuser, mit ihrem Hang zur Symmetrie, den großzügigen Veranden und üppigen Dächern“, erklärt Celac.


Forschungsprojekt

Im Rahmen eines Forschungsprojekts setzt sich Mariana Celac ganz wissenschaftlich mit der Roma-Architektur auseinander. Vor allem von älteren Kollegen wird es teils als Provokation empfunden, dass man diese Art von Architektur überhaupt ernst nimmt.

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