Artikel

Flanieren in der Bildwohnzentrale
Neue Zürcher Zeitung

«L'image habitable» - ein Projekt in fünf Genfer Institutionen

22. November 2002 - Andrea Springer
Was charakterisiert natürliche und künstliche Räume im Museum, und welche Verknüpfungen und Abgrenzungen entstehen daraus? Solchen Fragen widmet sich derzeit eine Ausstellungsreihe in Genf: «L'image habitable» lautet der Titel dieser von Simon Lamunière vorgeschlagenen Schau, die seit September insgesamt fünf Kunsträume und Museen bespielt. Das Projekt setzt sich auf überzeugende Weise mit den Zwischenräumen von Kunst, Informatik und Architektur auseinander.

Simulierte Räume zu durchqueren und sich in Interpretationen aufzuhalten, ohne den Faden zur sichtbaren Welt abreissen zu lassen, dieses Versprechen löst die Version D im Centre pour l'image contemporaine, Saint-Gervais, mit differenzierten Beiträgen ein. Zilla Leutenegger (geb. 1968) hat sich im «Forum Hotel» auf dem Mond einquartiert. In einer Doppelprojektion schwenkt die Kamera über Mondkrater. Auf vier Monitoren erscheinen Nachrichten, die vom Mondplaneten kommen: Zilla ruft auf dem Dach des Hotels nach ihrer Mutter, während die Erdkugel hinter ihr auftaucht und wieder verschwindet. Störungsgeräusche unterbrechen zeitweise die Übertragung zur Erde. Eine Gratwanderung zwischen Phantasma und Erinnerungsbild, Autoporträt und inszeniertem Rollenspiel, eine Bildplattform zwischen dem Märchen vom «Kleinen Prinzen» und Neil Armstrongs historischer Monderkundung.
Interaktionsort Shopping-Mall

Die Bildwelten dagegen, die Sven Påhlsson (geb. 1965) unter die Lupe nimmt, sind auf den ersten Blick synthetische Räume. Da breiten sich Fertighäuser einer realen Vorstadt im Südwesten Amerikas vor uns aus und verbinden sich mit den Vorstellungen, die man von stereotypen Reihenhaussiedlungen hat. Klischees vom Eigenheim schieben imaginäre Bilder in die Realität zurück. Das Serielle der Häuser lässt einen begrenzten physischen (Spiel-)Raum zu. «Sprawlville» ist eine wuchernde 3D-animierte Stadtlandschaft aus Shopping-Malls und Parkgaragen, überwacht von Spotlights der Polizeihelikopter. Die Familie zwischen Bausatzkokon und Einkaufscenter, dem einzig interaktiven Ort.

Hans Schabus (geb. 1970) beschäftigt sich mit einer weiteren Dimension mentaler Konstruktionen, und das gleich auf mehreren Ebenen: der Installation, dem Film und der Photographie, die anhand von Architekturentwürfen Dokumentarisches assoziiert. Für den Film «Der Passagier» hat er eine Handkamera an einer Lokomotive befestigt. Eine Projektion zeigt in Betrachterrealität den Parcours eines elektrischen Zugs, der unterhalb der Decke durch sein Atelier fährt. Nebenan ein Tisch, ähnlich einem Spieltisch, mit integrierter Stereoanlage, Bar und Miniaturzug, der den projizierten Atelierparcours nachfährt. Der Reisende konstruiert seine eigenen Visionen im Zug; eine Reflexion darüber, wie Massstäbe unsere Interpretation manipulieren.
Wandelbare Städte

Konstruktionen, die existierende Stadtkonzepte als Ausgangspunkt nehmen, zeigt der Kunstraum Attitudes, dessen Version E von Jean-Paul Felley und Olivier Kaeser kuratiert wurde. Dort führt die italienische Architektengruppe A12 ein Designplateau, eine spannungsreiche Beziehung zum musealen Raum vor. Das Publikum durchwandert den skizzierten Nachbau eines Stadtviertels auf Kieselsteingräben und flachen Holzbrücken. Im Wechsel geschaltete Diapositive (Diaporama), die horizontal und vertikal auf weissen Lackuntergrund projiziert werden, können physisch betreten werden. Ein altes Genfer Stadtporträt umschliesst als Breitwandprojektion die bühnenhafte Szenerie und kontrastiert mit den «dokumentarischen Illusionsmaschinen». Denn es handelt sich um eine Vielzahl von Objekten, die im Auge der A12 kollektive Orte bilden, eine Art Musterkollektion des Genfer Stadtmobiliars.

Im Gegensatz zum Bürgertum des 19. Jahrhunderts, wo noch eine klare Trennung zwischen Privateigentum als Erbe napoleonischer Gesetze und öffentlichem Architekturdekor herrschte, zirkulieren funktionale Elemente und reiner Dekor heute im Ensemble: Piktogramme, Theaterplakate, Bushaltestellen und Halfpipes für Skateboarder kennzeichnen das Stadtbild von Genf. - Ein Automat mit durchsichtigen Plastic-Kugeln neben der Installation, der normalerweise an italienischen Riviera-Stränden mit Kinderüberraschungen bestückt ist, wurde diesmal mit Miniflyern gefüllt, die das Konzept der A12 nochmals auf den Punkt bringen; ohne analytisch zu sein, schärft die Gruppe den Blick für die Wandelbarkeit zeitgenössischer Städte in puncto Konservierung, Funktion und Stilbildung.

Wenn der Abstand zwischen physischem und imaginärem Bild in Zukunft immer geringer wird und Medien- und Datenräume die Strukturen der Orte, in denen wir leben, immer stärker mitgestalten, dann wird das Bedürfnis nach identitätsstiftenden Architekten, Künstlern und Designern immer grösser.

Andrea Springer

[ L'image habitable. Versions multiples. Ausstellungsreihe in Genf. Bis 31. Januar 2003. Version C: Musée d'art moderne et contemporain (Mamco). Version D: Centre pour l'image contemporaine, Saint-Gervais. Version E: Attitudes - espace d'arts contemporains. Katalog Fr. 25.-. ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: