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Jetzt wird's körperlich
Jetzt wird's körperlich, Foto: Walter Zschokke
Spectrum

Kann man von zuviel Architektur auch einen Ausschlag bekommen? Ob eine diesbezügliche Überempfindlichkeit ansteckend ist oder genetisch bedingt, bleibt jedenfalls ungeklärt. Ein fiktives Gespräch.

30. November 2002 - Walter Zschokke
Soll ich mir die Gespräche von Nichtraucher mit Nichttrinker, die an ihrem Tisch im Café Museum sitzen, wieder einmal anhören, oder lasse ich die beiden hitzigen Debattierer (Macher sind sie eher nicht) an ihrem Tisch allein? befragt sich der Berichterstatter. Zu spät, sie haben mich erkannt und rufen mich her. Aber wer weiß, vielleicht wird's ja interessant.

Nichttrinker: Ich habe neuerdings eine Architekturallergie. Das ist kein Spaß.

Nichtraucher: Eine was?

Nichttrinker (mit leicht stolzem Unterton): Eine Architekturallergie.

Nichtraucher: Ja gibt's denn das? Mit Katzen kennt man das ja - aber gegenüber Architektur?

Nichttrinker: Doch, doch, das gibt es sehr wohl. Oft reicht es schon, wenn ich in den Medien etwas sehe oder davon lese.

Nichtraucher: Und wie äußert sich die Allergie, welche Symptome stellst du an dir fest?

Nichttrinker: Der Hals wird trocken, die Nase fängt an zu rinnen, am Rücken steigt ein Kribbeln hoch, der Puls wird flach, ich fange an zu frösteln und verfalle umgehend in eine tiefe Depression. Und es gibt auch Hautausschlag.

Nichtraucher: Das klingt ja eher ernsthaft. Und was tut man dagegen?

Nichttrinker: Ich halte mich von allem fern, was auch nur von weitem nach absichtsvoll gestalteter Architektur ausschaut, und zwar sowohl im Original wie auch in ausgestellter und in publizierter Form.

Nichtraucher: Und mit dieser Diät kommst du zurecht? Architektur ist ja eine ziemlich öffentliche Sache, der man schwerlich ausweichen kann.

Nichttrinker: Na ja, beim Radfahren mache ich einen Buckel, da rutscht sie dann drüber weg. In der Straßenbahn ist es schwieriger, die läuft auf Schienen, da hilft nur Augen zumachen. Im Auto geht das nicht, da muß ich bei der Routenwahl äußerst planmäßig vorgehen. Wenn bloß die Einbahnstraßen nicht wären. Und wenn unerwartet Architektur auftaucht, klappe ich die Sonnenblende herunter, das reduziert das Blickfeld und lindert das Bauchweh.

Nichtraucher: Bauchweh bekommst du auch?

Nichttrinker: Ja, und wie. Du weißt ja, wie sehr mich das Thema schon immer beschäftigt hat, aber jetzt wird's körperlich.

Nichtraucher: Aber die Zeugungsfähigkeit ist nicht beeinträchtigt?

Nichttrinker: Ich weiß nicht - den Wahrheitsbeweis möchte ich eher vermeiden, wenn ich an die Folgekosten denke.

Nichtraucher: Versuchen wir es mal andersherum. Worauf bist du denn speziell allergisch?

Nichttrinker: Auf alles, was sich so extrem auffällig in den Vordergrund drängt, mit aller Gewalt auf sich aufmerksam machen will, städtebaulich grundlos quer zur Umgebung steht und die Nachbarhäuser mit seiner schieren Präsenz gleichsam heruntermacht. Kurz, alles, was mir ungewollt ins Auge steigt.

Nichtraucher: Ich bin zwar kein Arzt, aber läßt es sich irgendwie eingrenzen, etwa auf neue Bauten, auf besonders große oder hohe Häuser?

Nichttrinker: Ja, neue zu meist, aber ältere auch. Ganz schlimm sind gewisse Türme. Ich kann beispielsweise nicht mehr auf der Reichsbrücke, sondern nur noch mit der U1 hinüber nach Kagran fahren. Die belegte Zunge vom U-Bahn-Design nehme ich in Kauf, aber oben drüber käme noch Schüttelfrost und sogar Netzhautablösung dazu.

Nichtraucher: Na, na, na; da wird's doch Abstufungen geben. Kannst du denn Türme nennen, bei denen du keine allergischen Symptome bekommst?

Nichttrinker: Bei Fernleitungsmasten bleibt alles ruhig, und auch die Speicherbauten im Alberner Hafen bewirken keine Abweichungen vom Neutralzustand. Aber bei den hochgezüchteten, aufgetakelten Vielgeschoßern, die sämtlich nur „Ich, ich, ich!“ rufen, ist die Allergie voll da. Weil sie fast von überall zu sehen sind, stellen sie für mich eine echte Bedrohung dar.

Nichtraucher: Und ein Abflauen der Allergie im Sinne einer Gewöhnung gibt es nicht?

Nichttrinker: Manchmal, das gebe ich ja zu, ist es weniger schlimm. Ja, ich kann mich sogar ein wenig an bestimmte Neubauten gewöhnen, wenn ich, die Symptome verdrängend, genauer hingeschaut habe und das eine oder andere zu erfassen, zu begreifen meine.

Nichtraucher: Hilft es dir denn, wenn einer von diesen Architekturkrankenpflegern oder -krankenschwestern, diesen „Architekturvermittlern“ ein Bauwerk vorstellt?

Nichttrinker: Solange die von einer erkennbaren Position weg und ohne viel Brimborium ein Bauwerk erläutern und ihre Meinung klar ausdrücken, komme ich ja ohne Bauchflimmern durch, aber wehe, es tauchen diese dürftigen Metaphern auf, da schießt mir das Wasser in die Augen, daß ich meine, ich bekomme den grauen Star. Aber Geschriebenes ist nicht so schlimm, ich muß es ja nicht lesen. Man spart sich sogar viel Zeit auf diese Weise. Zeitungen haben den immensen Vorteil, daß man ganze Seiten überspringen kann.

Nichtraucher: Eigentlich, wenn ich es genauer betrachte, ist Architektur selber Medium, drückt aus, was der Architekt zu einem bestimmten Zeitpunkt wollte, und vermittelt sich am besten direkt im Original. Bloß, um Architektur unmittelbar zu erleben, wird man sich hinbegeben und das Anschauen auch irgendwie einüben müssen, indem man anderen in ihrem Erkenntnisgang nachfolgt oder es eben selber versucht. Andererseits möchte man vielleicht wissen, was in der Sache erfahrene Leute von einem Bauwerk halten.

Nichttrinker: Aber diese „Kritiker“ müssen immer so gescheit daherschreiben, und überhaupt, nicht wenige agieren doch als bloße Propaganda-Schreiber für eine bestimmte Strömung.

Oder sagen wir doch ruhig: für eine bestimmte Clique. Und gewisse Architekten werden mit Samthandschuhen behandelt, während andere gar nie vorkommen.

Nichtraucher: Ich will ja hier nicht die Kritiker verteidigen - aber für architekturinteressierte Laien ist es doch wichtig, daß sie sich bei einigermaßen kompetenten Fachleuten informieren können. Und schließlich gibt es ja jede Menge Führungen zu alten und neuen Bauwerken. Davor und darin darf sich dann jeder selber seine Meinung bilden.

Nichttrinker: Bist du naiv! So läuft das doch nicht. Meinungen werden durch die Medien gemacht. Jene, die sich selber
kritisch eine eigene Meinung erarbeiten, sind sehr dünn gesät.

Nichtraucher: Nach dir sollte man womöglich auf Architekturberichterstattung und -diskussion ganz verzichten. Aber eine öffentliche Sache sollte auch öffentlich verhandelt werden.

Nichttrinker: Ja, schon, aber von Leuten, die sich eingearbeitet haben. Das Neujahrskonzert wird auch von zig Millionen Hörern und Zusehern wahrgenommen, aber bei der Wahl des Dirigenten und bei der Interpretation der Stücke gibt es vorher keine Publikumsbefragung.

Nichtraucher: Musik ist Musik, und Architektur ist Architektur. Die beiden Kunstgattungen sind zu verschieden, als daß man so kurz greifende Vergleiche ziehen könnte. Bleiben wir daher bei letzterer. Sie ließe sich durchaus öffentlich verhandeln, wenn da nicht absichtlich und unabsichtlich von verschiedenen Seiten manches vernebelt würde. Es gibt Investoreninteressen, Bauträgerinteressen, Architekteninteressen, dann kommt noch die Politik dazu, die das Produkt womöglich unbedingt als Erfolg verkaufen will, weit hinten dann die Nutzer oder Bewohnerinnen. Aber das hat alles mit Architekturqualität wenig zu tun.

Nichttrinker: Ja eben, und weil erkennbare Mittelmäßigkeit und dreist behauptete Qualität sich so oft nicht decken, bekomme ich dann von diesen Doppelbildern eine Architekturallergie.

Vor kurzem ist der Vegetarier dazugestoßen; als stiller Zuhörer halte ich mich zurück.

Vegetarier: Hast du noch nie etwas von bewußt selektiver Wahrnehmung gehört? Du mußt ja nicht alles in deine Augen einsaugen, was herumsteht. Du mußt einfach das, was dir Schwierigkeiten bereitet, ausblenden. Das machen wir sowieso die ganze Zeit. Wenn ich kein Fleisch esse, lasse ich auch einen Teil des Eßbaren einfach aus. Du mußt dir eben die Rosinen herauspicken. Der Anteil an achtbarer alter und ansprechender neuer Architektur ist größer, als du wahrhaben willst. Du mußt sie bloß aufsuchen. Alle anderen bekannten Kunstwerke werden gezielt aufgesucht, und manchmal stößt man sogar zufällig auf ein tolles Stück. Das ist doch auch bei den meisten Bauwerken so. Nur in eigenartig ausgesuchten Sonderfällen wird plötzlich so getan, als hinge die Zukunft der Menschheit davon ab, daß alle Gebäude zu etwas Besonderem werden. Das sind doch Scheingefechte, in Wirklichkeit geht es um ganz andere Fragen. Eine vertane Chance, eine Peinlichkeit oder Scheußlichkeit, ja auch ein Kleinod mehr oder weniger, das ist doch nicht das Kernproblem, das ist doch immer so gelaufen. Über die Jahrhunderte bleibt dann ein Rest vom Besseren übrig. Dazwischen gibt es glücklicherweise auch viel Unauffälliges, das die Einzelfälle umgibt, auffängt und sogar trägt. Ohne dieses Unauffällige wäre es wohl kaum auszuhalten. Man stelle sich vor, alles wäre „Architektur“, das wäre ja totalitär. So gesehen, sollten die Architekten vermehrt an einem Anwachsen dieses Unauffälligen arbeiten. Das dürfte schwierig genug sein und sie genauso beschäftigt halten wie ihre eitlen Produkte auch.

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