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Die Heilkraft der Provinz
Neue Zürcher Zeitung

Das neue Nischni oder die Arbeit Russlands an seinem Stil

Es war in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, als in der russischen Provinz Aussergewöhnliches geschah. In Nischni Nowgorod, Russlands drittgrösster Metropole, stand der westliche Besucher staunend vor Neubauten und Renovationen im historischen Zentrum der Stadt - die Arbeit Russlands an einem neuen Stil hatte begonnen.

2. Dezember 2002 - Karl Schlögel
Russland ist gross, und Russland hat nicht nur eine Hauptstadt. Es hat eine Hauptstadt der Nostalgie, des Phantomschmerzes und des russischen Traums von Europa: Sankt Petersburg, Piter. Es hat Moskau, wo die Reichtümer Eurasiens zusammenströmen, wo ein Turm nach dem anderen in den Himmel schiesst und ein babylonischer Tower of Russia die Phantasie der Planer beflügelt. Russland hat Hauptstädte der Peripherie und des Verfalls, weit vorgeschoben in heroischen Zeiten, gegründet in einer Zeit der Überspannung der Kräfte, nun nicht mehr zu halten. Und Russland hat Zentren, die ihr eigenes Leben leben, ohne die Spur eines Minderwertigkeitskomplexes. Hauptstädte des Dazwischen, Hauptstädte der Provinz. Nischni Nowgorod, die drittgrösste Stadt Russlands, vor der Revolution legendärer Messeort und «Geldbeutel Russlands», von 1932 bis 1991 Gorki genannt und lange geschlossen für Ausländer, ist eine solche Stadt. Seit kurzem ist sie noch etwas mehr: eine Hauptstadt der russischen Architektur. Dort passiert offenbar, was in Moskau unmöglich ist, da der Druck der Investoren und die Gier nach schnellem Profit übermächtig sind, und dort gelingt etwas, wozu Petersburg, das ganz und gar von der Rettung seiner Substanz okkupiert ist, nicht kommt: die Arbeit an einer Form, ohne die ein neues Russland auf Dauer nicht auskommt.


Elektrischer Funkenschlag

Es war den ersten Besuchern Nischnis in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre sehr rasch klar, dass dort etwas Besonderes geschehen sein musste. Man bekam dort etwas zu sehen, was man bis dahin nirgends sonst in Russland zu sehen bekommen hatte, und auch nicht in Europa. Gleichsam über Nacht war etwas aufgetaucht, worauf niemand vorbereitet gewesen war. Es war das 1995 fertiggestellte Gebäude der Bank Garantija in der Malaja-Pokrowskaja-Strasse im historischen Zentrum der Stadt. Es war ein Neubau, der mit seinen runden und organischen Formen, mit den ovalen Fenstern und den Kerbungen in der Fassade, mit dem wie eine Lotosblüte sich öffnenden Turm von allem absetzte, was man an sowjetischen und postsowjetischen Neubauten zu sehen bekam. Die «Diktatur des Rechtecks» war hier elegant und ironisch ausser Gefecht gesetzt.

Andererseits: Auch der erste Eindruck eines Déjà-vu trog, der Eindruck, dass man es hier einfach mit der Kopie eines Jugendstilgebäudes zu tun habe. Das Bankgebäude spielte mit Zitaten des russischen «stil modern», wie hier Art nouveau oder Jugendstil genannt werden, mit der provozierenden Weisse der Secession, mit der Majolika über dem Portal und den Anspielungen auf Iwan Bilibins altrussische Motive von Pfau und Feuervogel und den Wölbungen, und doch war es etwas anderes: symmetrisch und auf der Längsseite mit einer strengen, fast klassizistischen Fassade. Ein Jugendstil nach dem Jugendstil, kein Remake, sondern etwas ganz Neues. Auch im Inneren ergab sich ein ähnlicher Eindruck: Die Stufen der Treppen «fliessen» gleichsam herab, und doch sind Räume und Grundriss gänzlich funktional. Das Gebäude hat die Züge einer Skulptur und erinnert an eine Truhe für die Aufbewahrung von Kostbarkeiten. Der Bau, leicht zurückgesetzt von der Strassenlinie, fügt sich vollständig in die historische Umgebung ein - und die ist interessant: alte Kaufmannsvillen, ein konstruktivistisches Wohnhaus, klassizistische Gebäude an der Hauptstrasse des alten Nischni Nowgorod.

Das Garantija-Gebäude ist nicht das einzige. In der Frunse-Strasse ist ein 1996 fertig gestelltes Bürogebäude zu besichtigen, in dem eine Bank, eine Pensionskasse, ein Standesamt untergebracht sind. Auch hier die Verbindung fliessender, organischer Formen mit den Erfordernissen der modernen Organisation, wuchtige Konturen, gemildert durch die Halbbögen der Fenster, ein Majolikaband und ein Mosaik mit historischen Motiven über dem Eingang. Auch hier werden Konturen und Linien aufgenommen, die in der nächsten Umgebung - im Gebäude der Staatsbank von 1913 - zu finden sind. Dort, an einer der Musterbauten des Jugendstils des vorrevolutionären Nischni Nowgorod, ist ein gelungener Erweiterungsbau zu sehen, der auf vollkommene Weise die Verbindung über ein Jahrhundert hinweg herstellt.

Wer sich in der Stadt bewegt, hat an verschiedenen Stellen dieses Aha-Erlebnis. Es handelt sich dabei nicht nur um Banken oder Bürogebäude, sondern auch um eine mittlerweile stattliche Zahl von Wohn- und Geschäftshäusern, Hotels, Kinos und Cafés, sogar Kirchenbauten.

Die neuen Arbeiten in Nischni Nowgorod beziehen sich indes nicht nur auf den Jugendstil. Inzwischen finden sich auch herausragende Beispiele für einen erneuerten Konstruktivismus - in Gestalt von Geschäftshäusern, Schulen, Sportanlagen -, und selbst an die Erbschaft der dreissiger Jahre haben sich die Architekten von Nischni herangewagt: In unmittelbarer Nachbarschaft zu den monumentalen Wohnanlagen in Sozgorod, den Vierteln, die für die Arbeiter der Gorkier Autowerke errichtet worden waren, sind Wohnhäuser errichtet worden, die die Übermächtigkeit und Strenge des stalinschen Empire auf souveräne Weise auflösen, indem sie sich seiner Formen abmildernd bedienen.

Die Arbeiten der Nischnier Architekten sind von der russischen Architekturkritik zunächst etwas verdutzt und überrascht aufgenommen und dann enthusiastisch gefeiert worden. Die Bank Garantija, das Bürogebäude in der Frunse- Strasse, das Wohnhaus in Sozgorod sind in ganz Russland bekannt. Die Arbeiten sind vielfach ausgezeichnet worden mit nationalen Architekturpreisen. Die Namen der Architekten sind den Kennern in ganz Russland und mittlerweile auch darüber hinaus geläufig: Alexander Charitonow, Jewgeni Pestow, Valeri Nikishin, Sergei Tumanin, Sergei Timofejew, Alexander Chudin, Olga Orelskaja, die Mitglieder des Büros Archstroi und andere. Alexander Charitonow, der Spiritus Rector und unermüdliche Promotor der Nischnier Avantgarde, wurde 1998 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Der Tod dieses von Kraft strotzenden und sich immer um sein «Team» kümmernden Architekten bei einem Autounfall im Jahre 1999 war für alle, die ihn kannten, ein grosser Schock.

Es war wesentlich das Verdienst dieser Gruppe von Architekten und Stadtplanern, die Arbeit an der Form, die irgendwann abgebrochen war, wieder aufgenommen zu haben, und zwar behutsam, mit Takt und ohne von einem Extrem ins andere, aus der Monotonie der Sowjetmoderne in die Exaltationen der Postmoderne, umzukippen. Sie haben sich nicht in nostalgischen Retrospektivismus und neorussischen Kitsch geflüchtet, von dem das postsowjetische Moskau strotzt. Die Nischni-Nowgoroder Schule hat einen Takt und eine Diskretion an den Tag gelegt, die in einer Zeit politischer Wirren und ästhetischer Verunsicherung keineswegs selbstverständlich sind und die über eine Inspiriertheit verfügen, die im Zustand der Erschöpfung, in dem das Land sich befindet, bewunderungswürdig ist.

Das Aha-Erlebnis in Nischni hat viel von einem Déjà-vu. Die Bauten von Charitonow und Pestow scheinen anzuknüpfen an die grosse Zeit der Metropole um die Jahrhundertwende. Hundert Jahre zuvor, im Sommer 1896, war in Nischni Nowgorod die Allrussische Industrie- und Kunstausstellung eröffnet worden. Die Stadt, die alljährlich die grosse Messe abhielt, zu der ganz Russland zusammenströmte, bereitete sich auf den Ansturm der Besucher, auf den Zaren und die kaiserliche Familie vor und brachte sich in einem einzigartigen Bauboom in Form. Die Pavillons der Ausstellung kann man heute nur noch im Katalog oder zerlegt und umgebaut in verschiedenen Städten Russlands sehen. Sie waren Wunderwerke der Ingenieurkunst und ein Experimentierplatz für Architekten. Die Ausstellung beflügelte die Stadt. Sie wuchs in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg fast auf das Doppelte.

Was Nischni heute ist, ist es - nach der Primärschicht des Kremls, der Klöster und Kirchen aus dem 14. und 15. Jahrhundert - in jenem Boom der Jahrhundertwende geworden. Da sind das grosse Messehaus im neorussischen Stil, die Gebäude der Wolga-Kama-Bank und von Rukawischnikow, die Passagen, die Kontore der Wolga- Flussschifffahrts-Gesellschaft, das Gebäude der Stadtduma, die Alexander-Newski-Kathedrale, die Staatsbank, das Stadttheater und die zahlreichen Villen, die sich die Nischnier Kaufleute und Fabrikanten auf dem Wolga-Hochufer hatten bauen lassen. Der Boom der Jahrhundertwende war zusammengefallen mit der Suche nach dem neuen Stil, und so kam es, dass Nischni in den zwei Jahrzehnten zwischen 1896 und 1914 ein Jugendstilgesicht bekam: Vieles davon ist erhalten, selbst die Villen aus Holz mit ihren Erkern, Vordächern, Balkonen. Was nicht Abriss, Sprengung, Vernachlässigung zum Opfer fiel, muss so etwas wie eine Schule des Geschmacks für die nachwachsenden Generationen abgegeben haben.

Dies ist aber nicht die einzige Schicht, bei deren Anblick der Besucher noch heute elektrisiert ist. Auch die Revolutionsarchitektur, der Konstruktivismus hat in Form von Wohnhäusern, einigen sogenannten Kommunehäusern, einem grossen Hotelbau, Kulturpalästen und Arbeiterklubs eine eindrucksvolle Spur hinterlassen. Die meisten von ihnen sind heute grau, unansehnlich, in schlechtem Zustand. Und doch ist unschwer zu erkennen, dass hier eine äusserst begabte und engagierte Generation von Baumeistern am Werk gewesen ist. Die Brüder Wesnin haben die Sirotkin-Villa, Ilja Golossow hat in den dreissiger Jahren einen grossen Wohnkomplex entworfen, ein bedeutender regionaler Vertreter des Konstruktivismus - Alexander Grinberg - hat das «Haus der Sowjets» gebaut. Und der amerikanische «Funktionalist» Albert Kahn hat an den Planungen für das Gorki-Autowerk in Kanavino mitgewirkt.


Ein verbotener Ort

Gewiss hat diese Umgebung ihren Anteil an der Herausbildung der Nischnier Schule ebenso gehabt wie die Ausbildung am renommierten Architektur- und Bau-Institut der Stadt. Bis auf den heutigen Tag ist zu spüren, dass Nischni eine Stadt mit grosser Vergangenheit ist und dass dies im Augenblick der Wende ein unschätzbar grosses kulturelles Kapital war. Die Stadt musste nicht neu erfunden werden. Es gab ein Vorbild. Der Mythos des grossen Jahrmarkts war irgendwie lebendig geblieben - über die Literatur Maxim Gorkis, über die Photographien Dmitriews und Karelins, über Ausstellungsstücke im Museum. Man erinnerte sich an die Bürgermeister und Gouverneure, die Bedeutendes geleistet hatten, an die Formen der Selbstverwaltung und das lebhafte geistige Leben, das es schon einmal gegeben hatte. Man wusste, was die reichen Kaufmannsfamilien als Mäzene für die Stadt getan hatten. Und schliesslich war die Stadt, anders als viele andere alte Städte, vom Grossen Krieg nicht berührt worden. Die schwersten Verluste gab es in den Jahren 1929 bis 1936, als Kirchen und Glockentürme niedergerissen und gesprengt wurden.

Der Rang der Stadt zwischen den dreissiger und neunziger Jahren beruhte auf den Gorkier Autowerken (GAZ), nicht mehr auf der Messe. Markenzeichen der Stadt war nun nicht mehr das Messehaus, sondern die Anlage, die sich die Werke Fords in Detroit zum Vorbild genommen hatte. Gorki belieferte die Sowjetunion seit der Inbetriebnahme der Werke 1932 mit rund 16 Millionen Autos, deren bekanntestes der «Wolga» war. Doch die Verwandlung der einstigen Kaufmannsstadt in eine Industriestadt, gar in eine der Schwerindustrie hatte auch ihre depravierenden Folgen: Die Stadt wurde wegen des militärisch- industriellen Komplexes zur geschlossenen Stadt, gesperrt für Ausländer. Sie wurde zum bevorzugtesten Verbannungsort, etwa für Andrei Sacharow, und fiel so für lange Zeit aus der weiten Welt heraus. Das änderte sich erst mit der Perestroika Ende der achtziger Jahre. Die Rückkehr der Stadt in die Welt ging erstaunlich rasch vor sich, und Nischni brachte einige politische Aktivisten hervor, die später auf der Moskauer Bühne eine Rolle spielten. Die Messe wurde wieder begründet. Die Stadt beging festlich ihr Gründungsjubiläum. Grosse internationale Firmen und Organisationen fanden sich in der Stadt ein. Nischni Nowgorod wurde zum Vorposten, an dem ein anderes Russland gedacht wurde: weniger zentralistisch, weniger hierarchisch, ein Russland der Regionen, nicht der Statthalterschaften.

Viel von der Aufbruchstimmung ist verflogen. Die politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen haben einen hohen Preis gefordert. Die Konversion, also die Verwandlung aus einer Stadt des militärisch-industriellen Komplexes in eine Stadt der zivilen Produktion, ist ausserordentlich schwierig. Grosse Teile der Riesenwerke in Sormowo, die für die Rüstung gearbeitet haben, stehen heute still, Zehntausende von Arbeitern haben ihre Arbeit verloren. Die Umstellung einer Stadt, die in so hohem Masse an der Autoindustrie hängt, erwies sich ebenfalls als schwieriger als gedacht, da die Modernisierung des Autogiganten nur langsam vorankommt und der Kunde den gebrauchten Audi oder Daewoo dem neuen «Wolga» oder «Gasel» (Gazelle) vorzieht.


Zeit ist wieder Geld

Aber auch die Zeit der tiefsten Depression scheint vorüber. Wenn man auf dem Hochufer über der Wolga steht, auf den mächtigen Strom und das weite Land blickt, bemerkt man eine eigentümliche Belebung des Verkehrs. Es gab Sommer in den Krisenjahren, da war weit und breit kein Schiff zu sehen; nun reihen sie sich fast in dichter Folge. An der Anlegestelle ist wieder stärkerer Betrieb, und in der Stadt sieht man Touristen. Die Gegend um den Bahnhof ist belebt wie immer, aber neue High-Tech-Bauten sind hinzugekommen. Der Bahnhof ist modernisiert, auf «westlichen Standard» gebracht. In der Bolschaja Pokrowskaja, der Hauptstrasse, die Fussgängerzone ist, sind alle internationalen Marken vertreten. Die Atmosphäre in den Strassencafés ist angenehm. In den Banken, auf der Post, in den Geschäften geht es geschäftsmässig zu. Man hat Zeit zu verlieren. Es gibt eine Rushhour, das untrüglichste Kennzeichen für den Rhythmus einer halbwegs intakten Stadt. Überall wird renoviert. Die Buchhandlung Dirigeable steht mit ihrem Sortiment dem der hauptstädtischen Buchhandlungen nicht nach. Die Abteilung Regionales zeigt, dass die Arbeit an der Geschichte des eigenen Ortes in Gang gekommen ist.

Das Inventar der alten Sowjetunion ist spurlos verschwunden. Cafés tragen vorzugsweise französische Namen, und ihre Interieurs sind zumeist postmodern. Alles scheint leichter zu gehen: die Kommunikation, die Fortbewegung, der Konsum. Nischni ist kein Einzelfall. Auch Kazan baut. In Samara gibt es sogar so etwas wie eine eigene Schule, und manche sagen, sie sei noch subtiler als die von Nowgorod. Die Region hat sich zusammengeschlossen im Verbund der «Grossen Wolga», die sich freilich bis Orenburg und zum Ural erstreckt. Alle sagen, man müsste nach Tscheboksary fahren, um zu sehen, was sich in der russischen Provinz tut: Der Gouverneur Fjodorow hat es geschafft, Tscheboksary zur ersten komplett vernetzten russischen Stadt zu machen, mit Internetzugang für jedermann. Ein eigentümlicher Wettstreit ist entlang der Grossen Wolga, dem «russischen Nil», wie Wassili Rosanow den Strom genannt hat, in Gang gekommen. Es gibt keine Provinzialität im alten Sinne mehr. Es gibt eine Professionalität, deren Standards sich per Internet und weltweite Kommunikation durchgesetzt haben. Es gibt eine Art, Fragen zu stellen und Antworten zu geben, die die mühselige Verständigung von einst hinter sich hat. Bestimmte Dinge verstehen sich von selbst.

Nicht überall ist Nischni neu. Es gibt Bezirke der Stadt, die alten Arbeiterbezirke von Kanawino oder Sormowo, wo man merkt, dass der Rhythmus des industriellen Alltags aus dem Tritt geraten ist, wo sich eine Kluft auftut zwischen den aggressiven Jeepfahrern und denen, die weiterhin auf den Trolleybus angewiesen sind. Spät am Abend wird an den Kiosken, wo Bier ausgeschenkt wird, klar, dass ganze Viertel und Rayons abgehängt werden von der Entwicklung im Zentrum der Stadt.

Russland wird ohne Städte wie Nischni als Zentren der Vermittlung, der Akkumulation von Kräften und der Innovation nicht auskommen. Die Blüte der russischen Provinz um 1900 ist ein gutes Beispiel für eine Modernisierung, die nicht punktuell geblieben ist. Moskau, das allen Reichtum des Landes auf sich zieht, ist kein Vorbild. Es ist schon jetzt so etwas wie ein fremder Planet. In Städten wie Nischni geht das Experiment einer Modernisierung, die sich selber trägt und nicht ausser Kontrolle gerät, in die zweite Runde. Seine Garanten sind anders als in den Enklaven der Globalisierung eine irgendwie noch überschaubare städtische Öffentlichkeit, eine Elitenbildung auf engstem Raum und die Bildung von lokalen Zusammenhängen, die tragfähig und belastbar sind. Nur dort sind Dinge denkbar, aus denen die Zuversicht spricht, dass nicht alles Naturprozess ist und dass eine Zivilisierung der Kräfte des Marktes möglich ist.

Prof. Dr. Karl Schlögel lehrt osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Zuletzt erschien von ihm bei Hanser der Essay-Band «Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang».

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