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Veduten des modernen Alltags
Neue Zürcher Zeitung

Stadtphotographie gibt es schon lange. Seit kurzem haben Künstler das Medium für die Gegenwart wiederentdeckt.

15. Dezember 2002 - Nadine Olonetzky
Ein Lichtermeer, so weit das Auge reicht: Andreas Gurskys Diptychon «Athen» gewährt einen grandiosen Panoramablick über die nächtliche Metropole. Im Vordergrund sind Häuserblocks und Strassenlampen zu erkennen. Dann irrlichtern helle Punkte in der Dunkelheit, bis schliesslich ganze Lichtknäuel aufstrahlen. Darüber dehnt sich ein Nachthimmel, dessen Schimmern das Licht der Stadt reflektiert. Gurskys riesige Farbphotographie hat eines der ersten Fotos der Welt zum kleinen Urahnen: Joseph Nicéphore Niepce stellte um 1826 seine Kamera ans Fenster seines Arbeitszimmers und belichtete die asphaltbeschichtete Zinnplatte acht Stunden lang. Das schwarzweisse Bild hebt Häuser und den Hof seines Landguts aus nebelhaftem Dunst hervor.

Die Architektur gehört von Anfang an zu den bevorzugten Themen der Photographie, nicht nur, weil Gebäude sich als unbewegte Gegenstände für die langen Belichtungszeiten besonders eignen. Man wollte die Häuser und Strassenzüge vor allem dokumentieren, um sie als Bild mitnehmen und anderen zeigen zu können. Bald sind die Häuser von Paris, die Brunnen Roms, die Pyramiden Ägyptens photographiert, und die sichtbare Welt wird zum transportablen Bild. Die Zeitgenossen waren begeistert von der Treue des Abbilds, sie lobten die Befreiung von der Subjektivität der Ansicht; die Abstraktion des Schwarzweiss und die Reduktion aufs Zweidimensionale störten kaum.


Fülle und Verödung

Heute weiss jeder um die Subjektivität und die Manipulierbarkeit des photographischen Bildes. Und die Stadt generiert weiterhin eine schier unerschöpfliche Fülle von Themen. Ihre Architektur wird ebenso dokumentiert wie die widersprüchlichen Lebensbedingungen und Selbstdarstellungen ihrer Menschen. Und in der Kunstphotographie verschmelzen Dokumentation und Inszenierung zu einer neuen Formulierung unserer Sicht auf die Stadt. Architektur tritt dabei bald um ihrer selbst willen, bald als gesellschaftlich bedeutungsvolle Aussage, dann auch als Hintergrund und Bühne für anderes Geschehen auf. Der photographische Blick richtet sich sowohl aufs Detail wie auf die Totale: Luftaufnahmen zeigen Siedlungsstrukturen, menschenleere Stadtlandschaften treten neben Strassenszenen, Genrebilder über das Leben in den modernen Metropolen. Vielfalt und Überfülle sind ebenso Thema wie Verödung und Monotonie.

Die Stadt ist ein Dschungel, ein undurchdringlicher Kosmos, wer sich darin orientieren will, muss ihre Zeichen lesen können. Das gilt geradezu klassisch für New York. In einem dicken Bilderbuch mit dem Titel «EndCommercial: Reading the City» zeigt Florian Böhm, wie er sie liest. Als Enzyklopädie des Alltags aufgebaut, ist das Bildmaterial des Photographen in einzelne Kapitel zu Themen wie Mülleimer, Einkaufswagen, Hydranten oder Nachbarschaften gruppiert, typographische Elemente, Signale und Schilder sind ein zentrales Thema. Subtil beobachtet Böhm oft übersehene Details wie die Verwendung von Klebeband im öffentlichen Raum.


Die Stadt lesen

Andere Photographen fokussieren die Häuser und urbanistischen Strukturen, wieder andere die Menschen und ihr Leben. Die reale Stadt wird zur Inspirationsquelle für Veduten des modernen Alltags, die vom Versuch erzählen, sich mit Bildern zu orientieren und die überwältigende Fülle der Eindrücke zu ordnen. So rückt Georg Aerni in seiner neusten Arbeit «Slopes & Houses» abwechselnd die Hochhäuser Hongkongs und die zum Schutz gegen Erosion mit einer Betonschicht versiegelten Hügel zwischen ihnen in den Blick. Die Wohnblocks werden zu seriellen Ornamenten; die Betonbuckel der Hänge mit Löchern für Bäume bilden vernachlässigte Übergangszonen oder Oasen der Erholung. Die Gegenüberstellung bringt die Textur Hongkongs zum Ausdruck.

Thomas Flechtner zeigt, wie La Chaux-de-Fonds nachts und im Winter aus sich selbst heraus leuchtet, wie die klaren Linien der Häuser und Strassen von der unerbittlichen Weichheit des Schnees verwischt werden. Märchenhaft rot, blau, violett und gelb färben sich Schnee, Himmel und Häuserwände. Zugleich ist die Stadt grausam und kalt, die Türen zu den warmen Stuben sind verschlossen. Beat Streuli zeigt dagegen in seiner Lektüre New Yorks, der grossflächigen Videoprojektion «Broadway/Prince Street 04-01», wie Passanten am Fussgängerstreifen warten und sich in Bewegung setzen, um eine Strasse zu überqueren. Schwarzweiss und in Farbe, in Zeitlupe und Nahaufnahme machen die ernsten, verspannten, gewöhnlichen, die schönen, lächelnden Gesichter die Gestimmtheit der Stadt spürbar. Valérie Jouve zeigt eine anonymisierte Stadt. In ihrer Serie «Figures» vereint sie dokumentarische Photographie mit der Inszenierung von Personen, die Stadt wird zur Bühne für den Stadtmenschen und seine schwierigen Gefühlslagen.

Und Joachim Brohm rückt mit seiner Arbeit «Areal» ein Gebiet an der Peripherie von München vor den Betrachter, das ebenso gut am Rand einer anderen mitteleuropäischen Stadt liegen könnte. Seit elf Jahren beobachtet er, wie es sich von der Industriezone zum Wohn- und Dienstleistungsareal wandelt. Brohms unprätentiöser Blick dokumentiert Zerfall und Schönheit, er hält die teils skurrilen Umnutzungen, die beginnenden Bauarbeiten und die ersten fertigen Häuser präzise fest. Dabei wirken die Errungenschaften der Industrie bisweilen abgetakelt, und die computergenerierten Bilder, die auf grossen Tafeln am Rand des Areals die schöne neue Wohnwelt ankündigen, machen nicht wirklich fröhlich.

[ Joachim Brohm und Valérie Jouve, Fotomuseum Winterthur, bis 5. 1. / EndCommercial: Reading the City, HatjeCantz-Verlag 2002. 544 Seiten, Fr. 70.-. ]

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