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Die Architektur und ihre Betrachter
Der Standard

Kurz vor Weihnachten schnürt das ALBUM sein traditionelles Architekturbücherpaket. Heuer prominent vertreten: Dicke Wälzer über Weltarchitektur und Weltendesign, weiters viele kleinere, auch österreichische Publikationen, die es in sich haben.

14. Dezember 2002 - Ute Woltron
Architektur gehöre bewusst oder unbewusst zum Leben jedes Menschen, stellt Patrick Nuttgens im ersten Satz seines Buches Die Geschichte der Architektur (Phaidon, € 25,95) fest. Er hat natürlich völlig Recht mit dieser simplen Aussage, und wer immer meint, er verstünde nichts von Architektur, der irrt. Denn Architektur ist alles, was uns künstlich umgibt, und jeder pflegt mit seiner Umgebung Austausch. Natürlich lässt sich dieses subjektive Wissen um das Gebaute und seine Geschichte ganz einfach mittels der entsprechenden Fachpublikationen verfeinern, und Nuttgens Buch eignet sich gerade für neugierige Einsteiger bestens dazu. Sein nicht zu dickes, aber auch nicht zu mageres Werk über die Bautätigkeit des Menschen, beginnend mit den Hochkulturen zwischen Euphrat und Tigris bis zum „Ende der Gewissheit“, nämlich der „pluralistischen Architektur“ des ausklingenden 20. Jahrhunderts, erschien zwar bereits 1997 in englischer Ausgabe, liegt nun aber frisch übersetzt und in kostensparender Paperbackversion auch auf Deutsch vor.

Wer die neuesten Trends der Architekturwelt nachschlagen will, wird mit diesem Buch zwar nicht bedient, sehr wohl aber alle diejenigen, die wissen wollen, wie sich Gebautes von den ersten Laubhütten bis zu den Domen des Glaubens im Mittelalter und jenen des Geldes im 20. Jahrhundert entwickelt haben.

Nuttgens, seinerzeit Architekturprofessor an der University of York, schreibt präzise und verständlich, enthält sich wohltuend jeder Fachterminologie und liefert damit eine Ausnahme unter den Architekturpublikationen. Er stellt bei jedem Gebäude die simple, aber treffende Frage: „Warum ist es so gebaut?“ Karten und Zeittafeln runden sein Werk ab. Nuttgens' Fazit: „Jede Form der Architektur zeigt unabhängig von ihrem Stil, wie die menschliche Erfindungskraft die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen sucht. Es geht nicht nur darum, ein Dach über dem Kopf zu haben. Zu den menschlichen Bedürfnissen gehört auch der beständig in vielen verschiedenen Formen überall auf der Welt zu spürende Wunsch nach etwas Tieferem - nach Schönheit, Dauer und Unsterblichkeit.“

Schönheit, Dauer und Unsterblichkeit sind Begriffe, die in der zeitgenössischen Architekturdiskussion zwar ungern ausgesprochen werden, die aber natürlich in raffinierter, erweiterter Form nach wie vor dieselbe Bedeutung haben. Der britische Architekturjournalist Hugh Pearman hat den monströsen Versuch unternommen, die gesamte zeitgenössische Weltarchitektur in einen Band zu fassen. Das Resultat ist der entsprechend voluminöse Wälzer mit dem Titel Weltarchitektur heute (Phaidon, € 98,80).

Pearman behandelt darin das Baugeschehen in 13 Themenkreisen, von Kunstbauten über Wohnbauten bis hin zu den neuesten Türmen und Wolkenkratzern. Der Zeitraum, den er sich gesteckt hat, umfasst grob die vergangenen drei Jahrzehnte, das Spektrum der präsentierten Häuser reicht nach Angaben des Autors „vom Radikalen bis zum Konventionellen“. Pearman vertieft sich auch in diverse Architekturtheorien, zitiert reichlich aus dem großen Wortschatz berühmter Architekten und zieht sodann seine eigenen, gleichwohl durchaus angreifbaren Schlüsse. Der Wolkenkratzer, so meint er zum Beispiel, sei die derzeit wichtigste Bauaufgabe: „Der Superturm - vielseitig verwendbar, Platz sparend und in der Lage, einen immer größeren Anteil seiner eigenen Energieversorgung selbst zu übernehmen - wird der Magnet des neuen Jahrhunderts sein. Die Erschaffung des nachhaltigen Turms - und damit die Erschaffung der nachhaltigen Stadt - stellt für die Architektur unserer Zeit die größte Herausforderung dar. Wenn sie bewältigt werden kann, wird alles andere folgen.“ Wir dürfen an dieser Stelle zumindest Zweifel äußern, angesichts einer Welt, in der die Verslumung gerade großer, hoch gebauter Städte voranschreitet, in der die Stadtflucht zumindest in der entwickelteren Welt wieder zum Thema wird.

Aber wie auch immer: Weltarchitektur heute klotzt mit 512 hochglänzend bedruckten Seiten, mit enorm viel Text und den entsprechend kleinen Fotos dazwischen. Disney-Architekturen von Michael Graves greifen hier ebenso Raum wie klassische Schönheiten, etwa Eero Saarinens eleganter, mittlerweile viel zu kleiner Flughafen in Washington, D.C., oder neuartige Architekturgebilde wie Ushida Findlays „Soft and Hairy House“ in Tsukuba, Japan. Dieses Buch wird kaum je durchgelesen, sondern eher in Häppchen studiert werden, und wer weiß, dass Architekturpublikationen wie diese eher vom Bild als vom geschriebenen Wort dominiert werden, wird sich über die aufwändigen Bildlegenden wahrscheinlich ein wenig ärgern. Warum ein grafischer Schlüssel des Rätsels Lösung birgt und warum nicht einfach unter den Bildern steht, was man gerade betrachtet, bleibt eine interessante architekturpublizistische Frage.

Im Gegensatz zu den zuvor genannten Werken ist die Publikation Designs für die wirkliche Welt (Generali Foundation, Wien, € 28,-) wahrlich kein klassisches Architekturbuch, sondern vielmehr eine publizistisch-künstlerische Melange aus Architektur, Design, Stadtrealität. Der Titel mag dem einen oder anderen bekannt vorkommen, tatsächlich ist er alt und wurde vom emigrierten österreichischen Architekten Victor Papanek erfunden, der bereits in den 60er-Jahren soziale Verantwortung, Ökologie, Architektur und Design zu einem zusammenhängenden Thema machte, der in Form eines anderen, leider vergriffenen köstlichen Werks erklärte, Wie Dinge nicht funktionieren, und der damit die seinerzeit moderne selbstverliebte Design- und Architekturwelt mit heftigem Humor angriff.

Designs für die wirkliche Welt ist der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Generali-Zentrum. Zu Anfang stand die Frage: „Inwieweit können wir unsere Lebenswelten gestalten?“ Die Antworten kamen von der österreichischen Architektin Azra Aksamija, die „anhand des Arizona Marktes, des größten Schwarzmarktes auf dem Balkan, urbane Phänomene visualisierte“. Weiters dabei: Florian Pumhösl, der Entwürfe des vorhin genannten Victor Papanek rekonstruierte, Marjetica Potrc, die aufzeigt, wie „Hightech-Probleme mit Lowtech-Lösungen“ bewältigt werden können, sowie Krzysztof Wodiczko mit „Apparaturen, die zur Benutzung durch Migranten konzipiert sind“. So weit nur ein kleiner Ausschnitt des Inhalts. Herausgeberin Sabine Breitwieser erklärt die Absicht von Ausstellung und Publikation: „KünstlerInnen beschränken sich nicht auf die ihnen von der bürgerlichen Gesellschaft zugewiesenen Gebiete der Ästhetik oder der Kunsträume, sondern beziehen sich in ihrer Arbeit immer wieder auch konkret auf die Gestaltung unseres Lebensraumes und der Lebenswelt generell. Die Interdisziplinarität, welche diese Auseinandersetzung bedingt, wird gerne als laienhafte Einmischung in fremde Fachgebiete abgetan oder - wenn daraus Vorschläge zur (Neu)gestaltung der Gesellschaft entstehen - für utopisch erklärt.“ Doch ein gewisses Maß an Utopie ist naturgemäß in jeder bahnbrechenden Architektur enthalten, und das Vermischen der Disziplinen scheint nachgerade lebensnotwendig im Zeitalter der Globalisierung.

Diesen Weg schlägt gewissermaßen auch die österreichische Architekturpublizistin Margit Ulama in ihrem Buch Architektur als Antinomie (folio, € 26,-) ein. Sie versucht, „aktuelle Tendenzen und Positionen“ im nationalen wie internationalen Architekturgeschehen zu erklären und in einen historischen Kontext zu stellen, und analysiert zu diesem Zweck die Gebäude und die Herangehensweisen an dieselben von heimischen Architekten wie Hermann Czech, Jabornegg & Pálffy sowie internationalen Bauleuten wie UN Studio, Peter Zumthor oder Herzog & de Meuron. Ulamas Fragestellung lautet: „Was ist denn zeitgemäße Architektur und wie ist darüber zu theoretisieren?“ Ihre Antworten bleiben verschlungen und abstrakt, das Buch bleibt interessanter Lesestoff für Insider und Leute, die mit der (letztlich fragwürdigen) ganz spezifischen Fachterminologie der Architekturpublizistik etwas anfangen können.

Sozusagen zum Punkt, und zwar zu einem ganz bestimmten in der Geschichte, kommt der Bildband Bauten im Style der Secession (Album Verlag, € 36,-). Wieder einmal hat Herausgeber Markus Kristan, der bereits einige schöne Loos-Bücher im Album Verlag verantwortete, in Archiven gewühlt und Historisches ausgegraben: Diesmal gewährt er uns eine Bildauswahl jener Bauten, die zwischen 1902 und 1911 in fünf großen Bänden unter dem Titel Wiener Neubauten im Style der Secession erschienen und damit auch einmal der „State of the Art“ gewesen waren. Interessant ist das Buch insofern, als hier Originalfotografien aus dieser Zeit zu sehen sind, Kristan formuliert das folgendermaßen: „Beim Betrachten der Abbildungen wird auch klar, dass die großen Ausstellungen der vergangenen Jahrzehnte, die sich mit Wien um 1900 befassten, in mancherlei Beziehung ein irreführendes Bild der Wirklichkeit gaben.“ Denn: „Die breite Masse der Bautätigkeit sah anders aus.“

Ganz anders als die gebaute Einfamilienhaustragödie in den Flachlanden Ostösterreichs beispielsweise sieht heute auch die Bautätigkeit der Tiroler Architekturzunft aus. Architekturkritiker Otto Kapfinger hat mit Bauen in Tirol seit 1980 (Anton Pustet, € 25,80) ein geradezu befreiendes kleines Büchlein hingelegt, das den Leser in guter alter Friedrich-Achleitner-Tradition an der Hand nimmt und durch diese fruchtbare Gegend für gute neue Gebäude führt. Der kleine Band passt in jede Wanderjackentasche, ist mit Plänen und Adressen gut ausgerüstet und präsentiert die einzelnen Gebäude in kurzem Text und schwarz-weißem Bild. Kapfinger beweist damit, dass interessante Architekturbücher keine Wälzer sein müssen, dass ein behutsam und intelligent gemachtes (und übrigens preisgekröntes) Layout selbst eine Art Architektur darstellt. Zu guter Letzt zeigt er mit dem Buchinhalt, dass die Tiroler Baukunst sich längst nicht mehr hinter der nachbarlich-vorarlbergerischen zu verstecken braucht. Solides Können gepaart mit Witz und Esprit zeichnet diese Häuser aus.

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