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Architektonische Zukunftsvisionen
Neue Zürcher Zeitung

MVRDV in Rotterdam und Düsseldorf

Das niederländische Architekturbüro MVRDV vereint in seiner Tätigkeit Pragmatismus und Vision. Während eine im Nederlands Architectuurinstituut in Rotterdam gestartete Wanderausstellung ins Innere der Bauten und Projekte führt, zeigen die Avantgardisten aus Rotterdam in Düsseldorf Szenarien für die künftige Entwicklung des Ruhrgebiets.

30. Dezember 2002 - Hubertus Adam
Die Idee des Stapelns und Schichtens von Funktionen zieht sich wie ein roter Faden durch das theoretische und praktische Œuvre des Rotterdamer Architekturbüros MVRDV - angefangen mit dem unrealisierten, im Jahr der Bürogründung vorgelegten Entwurf «Berlin Voids» (1991), einem 27-geschossigen Wohnriegel für den Stadtteil Prenzlauer Berg. Nicht ein stereotypes Hochhaus in der Tradition der Nachkriegsmoderne war das Ziel, sondern ein dreidimensionales, von Löchern, Leerstellen und öffentlichen Räumen durchbrochenes Puzzle aus Wohnungen verschiedenster Typen. Die traditionelle, sich um Höfe gruppierende und in die Tiefe erstreckende Mietskaserne war gleichsam aus den Angeln gehoben und in die Vertikale gekippt worden.


Endlose Interieurs

Der Gedanke vertikaler Verdichtung setzte sich fort, ob im niederländischen Pavillon für die Expo 2000 in Hannover oder im Projekt «Pig City», demzufolge die Schweinezuchtbetriebe der Niederlande in autarken und nach ökologischen Kriterien bewirtschafteten «Pig Towers» konzentriert werden sollten. Jüngster realisierter Bau ist der auf einer Hafenmole errichtete Wohnkomplex «Silodam» nordwestlich des Stadtzentrums von Amsterdam. Mit dem zehngeschossigen, in vier Abschnitte gleicher Länge gegliederten Riegel entwickelten MVRDV ein Gegenmodell zur Unité d'habitation: Während Le Corbusier unterschiedliche Wohnungstypen um nahezu identische innere Strassen organisierte, manipulierten MVRDV das Erschliessungssystem, das - durch unterschiedliche Farbgebung differenziert - bald als Laubengang, Korridor, Brücke oder Passage ausgebildet ist. Jedem dieser Abschnitte ist ein bestimmter Wohnungstyp zugeordnet - eine Struktur, die sich auch an der Fassadenverkleidung des Äusseren abzeichnet: Auf der Mole errichtet, wirkt der Block von der Ferne wie ein mit Containern beladenes Schiff auf Reede.

Die Tatsache, dass bei den Projekten von MVRDV komplexe Raumprogramme in Körpern von zumeist klarer Gestalt Unterbringung finden, führte nun im Nederlands Architectuurinstituut (NAI) zu der Ausstellung «The hungry box: The endless interiors of MVRDV». Anders als sonst richtet sich der Fokus nicht auf den Gedanken des Stapelns, sondern auf die Vielgestaltigkeit innerer Landschaften, die sich in den Gebäuden und Entwürfen der Rotterdamer Architekten ausdehnen. Neben Bauten wie dem Rundfunksender VPRO in Hilversum, dem niederländischen Pavillon und dem Silodam-Komplex werden auch einige weniger bekannte Projekte vorgestellt, darunter der Wettbewerbsbeitrag für das Eyebeam Institute in New York, der Entwurf für das aus containerartigen Raumstrukturen aggregierte ethnographische Museum am Pariser Quai Branly, das einer eurozentrischen Hierarchisierung entgegenwirken soll, sowie das Projekt einer Zentralbibliothek für die niederländische Provinz Brabant: Die radial angeordneten Regale sind entlang einer Wegespirale von insgesamt 17 Kilometern Länge placiert, welche sich um einen Hohlraum herum in die Höhe schraubt und einen schier endlosen zylindrischen Turm entstehen lässt - Bücher-Babel am Beginn des 21. Jahrhunderts. Bei dem HAN-Gebäude der Universität Nijmegen sowie dem Palau de la Biodiversidad für Barcelona werden zentrale Hallen von einer Vielzahl unterschiedlich dimensionierter und multifunktional nutzbarer Raumelemente umfangen. Bestückt mit Modellen und auf Leinwänden aufgezogenen Grossfotos, ist die Schau als erste einer Serie von Wanderausstellungen konzipiert, mit denen das NAI in Europa und den USA zeitgenössische niederländische Architekturbüros vorstellen möchte.


Metropole an Rhein und Ruhr

Die Arbeitsbereiche von MVRDV oszillieren seit der Gründung des Büros zwischen Pragmatismus und Vision. Bücher wie «Farmax» und das aus einer Videoinstallation hervorgegangene «Metacity - Datatown» explizieren das von den Architekten verfolgte Konzept von «Datascapes», also einer computergenerierten Architektur, die auf der Auswertung einer Unzahl von statistischen Daten beruht. Mit trendigen Powerpoint-Präsentationen gelingt es Winy Maas, dem Frontman von MVRDV, dem Thema der Raum- und Landesplanung, das lang als spröde galt und auf Fachkreise beschränkt war, neue Aufmerksamkeit zu verschaffen. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Ausstellung «RheinRuhrCity - die unentdeckte Metropole», welche derzeit im NRW- Forum Kultur und Wirtschaft im Düsseldorfer Ehrenhof präsentiert wird.

Das Ruhrgebiet als grossflächiger Ballungsraum mit knapp 5,5 Millionen Einwohnern befindet sich in einem Prozess des postindustriellen Strukturwandels. Motor dieses Transformationsprozesses war im vergangenen Jahrzehnt die «IBA Emscher-Park». Trotz einigen Erfolgen steht es mit der Entwicklung nicht zum Besten: Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich über bundesrepublikanischem Durchschnitt, das Image der Region hat sich in der Aussenwahrnehmung nur wenig verbessert. Ein Problem stellt nicht zuletzt die durch die Eigenständigkeit der Gemeinden bedingte Städtekonkurrenz dar, die eine übergreifende Planung verhindert. So sind verschiedenenorts Medienzentren, Shopping-Malls oder Musicaltheater entstanden, die sich wirtschaftlich nicht als tragfähig erweisen können. Blockiert durch die auf Besitzstandswahrung bedachten lokalen Entscheidungsträger und die Interessen des Landes Nordrhein-Westfalen, agiert der Kommunalverband Ruhr (KVR) wenig erfolgreich.

«RheinRuhrCity» zeigt Szenarien für eine Entwicklung der Ruhrregion jenseits lokaler Beschränktheit auf. In der Mitte von Europa gelegen, von anderen Ballungsräumen wie der niederländischen Randstad, Hamburg und Frankfurt aus gut zu erreichen und überdies infrastrukturell perfekt erschlossen, bietet die Gegend zwischen Dortmund und Duisburg laut MVRDV beste Voraussetzungen, sich als Metropole zu etablieren. In grossflächigen Projektionen werden auf Basis eines Helikopterflugs über die Region vier «Extremszenarien» simuliert. «Park City» setzt auf Entvölkerung und grossflächige Renaturierung. «Archipel City» postuliert gegenüber der herrschenden Städtekonkurrenz die Ausbildung und Stärkung von spezifischen Funktionen an einzelnen Standorten: Essen als Mega-Business- Center in der Art der Pariser Défense, Oberhausen als Mega-Shopping-Center, Bochum als Mega-Universität, Düsseldorf als Mega-Airport. «Campus City» visualisiert die Verwandlung des Ruhrgebiets in eine gigantische Forschungsstadt. «Netzwerk City» schliesslich zeigt eine durch Kapazitätssteigerung und Ausbau der Infrastrukturachsen bedingte Verdichtung und Vernetzung.

Für die Ausstellung wurde ein als «innovatives Planungs-Tool» bezeichnetes, auf der Auswertung von statistischen Daten beruhendes Computerprogramm entwickelt, das MVRDV «Regionmaker» nennen. Während man am Monitor Häuschen und Bäume verstreut, stellen sich Zweifel hinsichtlich der Ernsthaftigkeit des Vorgehens von MVRDV ein. Aber mitunter bedarf es wohl erst einmal der Provokation, um den Zustand der Lethargie zu überwinden.


[Bis 5. Januar im NAI Rotterdam, anschliessend an verschiedenen Orten in Europa und den USA. Anstelle eines Katalogs liegt der Band 111 von «El Croquis» vor; im Januar erscheint zudem im Verlag des NAI ein von Aaron Betsky herausgegebenes Buch über MVRDV. - Bis 16. Februar im NRW-Forum Kultur und Wirtschaft in Düsseldorf. Begleitpublikation: MVRDV. The Regionmaker - RheinRuhrCity. Hatje-Cantz- Verlag, Ostfildern-Ruit 2002. 352 S., Euro 25.-.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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