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Im Gewächshaus leben
Neue Zürcher Zeitung

Die Architekten Lacaton & Vassal in Bordeaux

30. Dezember 2002 - Hans Hartje
Wer in Frankreich als Architekt seine Agentur nicht in Paris hat, muss oft lange warten, bis die Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam wird. Dem versucht seit Jahren das Architekturzentrum «Arc en rêve» in Bordeaux entgegenzuwirken. Besonders motiviert ist man dort, wenn die Ehrung lokalen Koryphäen zuteil wird. Zurzeit kommt mit Anne Lacaton (*1955) und Jean Philippe Vassal (*1954) ein Architektenteam aus Bordeaux in den Genuss einer Ausstellung. Ihnen ist kürzlich der Durchbruch gelungen mit dem bewusst ärmlich gehaltenen Umbau des Pariser Palais de Tokio zum Site de création contemporaine und der Innenausstattung des Museumscafés im Wiener Architekturzentrum. Diese beiden Realisierungen gewähren Einblick in ein Verfahren, dem in erster Linie daran gelegen ist, dass Aufwand und Resultat in einem finanziell und ökologisch vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Dazu kommt, dass beide Örtlichkeiten atmosphärisch «stimmen». Wesentlich eigenwilliger und damit interessanter jedoch sind die drei Einfamilienhäuser, die Lacaton & Vassal in die Stadtlandschaft von Bordeaux gezaubert haben.

Gemeinsam ist all diesen Bauten der Bezug zur Gewächshausarchitektur. So kommen im Haus Latapie Versatzstücke aus dem industriellen Saatbetrieb zum Einsatz. In Coutras hingegen verwandelten Lacaton & Vassal zwei originale Gewächshäuser in ein lichtdurchflutetes, perfekt klimatisiertes und dennoch die nötige Intimität wahrendes Einfamilienhaus. Ganz anders wiederum - und dennoch am Gewächshaus orientiert - präsentiert sich das in einem Pinienwäldchen bei Lège-Cap-Ferret an der Atlantikküste gelegene Ferienhaus. Hier stellten die prachtvolle Lage und das natürliche Umfeld die grössten Herausforderungen dar. Die Lösung hiess Pfahlbau (Le Corbusiers Pilotis-Bauten, Rem Koolhaas' Villa dall'Ava, aber auch das Baumhaus lassen grüssen). Das eingeschossige Gebäude steht auf soliden, in den sandigen Boden gerammten Stahlträgern, wobei nur die Tragkonstruktion und eine Treppe den Boden berühren. Sowohl vom Land wie vom Meer her gesehen, bleibt das Haus fast unsichtbar. Beim Bau mussten nur zwei nachweislich kranke Bäume gefällt werden, denn die Pinien wachsen durch das Gebäude hindurch.

Gleichzeitig mit dem Beginn der Ausstellung konnten Lacaton & Vassal im Wettbewerb für den Neubau der zukünftigen Fakultät für Betriebswirtschaft in Bordeaux einen Erfolg verbuchen. In der Ausstellung vermitteln grossformatig projizierte Bilder der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Grenoble eine Idee davon, wie der Neubau werden könnte: eine leichte Gewächshauskonstruktion, die ein Arbeiten im Grünen erlaubt: Was will man mehr?


[Bis zum 19. Januar im Centre d'architecture - arc en rêve. Anstelle eines Katalogs ist in der Ausstellung die Lacaton & Vassal gewidmete Nummer 21 der Zeitschrift «2G - Revista internacional de Arquitectura» erhältlich (Editorial Gustavo Gili, Barcelona 2002; Text englisch und spanisch).]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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