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Die Stadt als Freizeitpark
Neue Zürcher Zeitung

Dalian oder die Defizite der chinesischen Architektur

Bestandeserneuerung und Nutzungsmischung spielen in der chinesischen Stadtplanung noch keine Rolle. Stattdessen dominieren medienwirksame Neubauprojekte die öffentliche Debatte. Stellvertretend für diese Entwicklung steht die Dreimillionenstadt Dalian. Auch wenn die nordchinesische Metropole inzwischen ihre Stadtgeschichte wiederentdeckt hat, ist von der restaurierten Altstadt kaum mehr als die Fassade geblieben.

3. Januar 2003 - Philipp Meuser
«Die Stadt gehört nicht dem Bürgermeister.» Mit diesen Worten provozierte der Architekt Sun Yi Min seine Berufskollegen kürzlich auf einer Architekturtagung in Dalian. Damit wollte der kantonesische Hochschulprofessor auf das nach wie vor autokratische und wenig kooperative Planungssystem im bevölkerungsreichsten Land der Welt aufmerksam machen. Denn immer noch fehlt es in der chinesischen Stadtentwicklung an einer qualifizierten Auseinandersetzung mit Schlüsselthemen wie Bestandeserneuerung und Nutzungsmischung. Während etwa im südchinesischen Guangzhou erste Modellprojekte zur Stadtreparatur in Planung sind, werden in den Mega-Citys Schanghai und Peking wertvolle Altstadtbereiche abgerissen. Hier müsse, wie Sun forderte, ein grundlegendes Umdenken erfolgen, wolle man das Gesicht der chinesischen Städte nicht ganz der Globalisierung preisgeben.
Kopierte Architekturbilder

Das «Sechste deutsch-chinesische Symposium für Architektur und Stadtentwicklung» - eine Veranstaltungsreihe, die seit 1999 von der Heinrich-Böll-Stiftung finanziert wird - fand im vergangenen Herbst in der nordchinesischen Küstenstadt Dalian statt, die neben Shenzhen und Schanghai mit jährlich über 20 Prozent die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten zu verzeichnen hat. Dieser Prosperität entsprechend steht die drei Millionen Einwohner zählende Stadt unter einem hohen Planungsdruck, dem die örtlichen Architekten kaum gerecht werden können. Wang Zhenggang, Chefplaner des Dalian Urban Planning and Land Ressources Bureau (DUPLRB), prognostiziert bis zum Jahre 2020 einen Anstieg der städtischen Bevölkerung um 35 Prozent und der ländlichen Bevölkerung um weitere 50 Prozent. Um die Zuwanderung in die Provinz Liaoning zu kanalisieren, werden insgesamt vier Satellitenstädte errichtet, die durch eine Schnellbahn mit dem Zentrum verbunden werden sollen. Zudem ist geplant, die über ein Dutzend Industriegebiete auf drei Bereiche zu reduzieren.

Bei der Gestaltung der Gebäude scheinen sich die Architekten ihre Anregungen in den internationalen Hochglanzmagazinen zu suchen. Der chinesische Stilmix geht so weit, dass Repliken des französischen Klassizismus und des amerikanischen Neotraditionalismus neben japanischem High-Tech und kanadischer Blockhaus-Architektur in dichter Nachbarschaft stehen. In Sichtweite des Jahrhundertparks, der 1998 zum Hundertjahrjubiläum der Stadt eröffnet wurde, entsteht derzeit sogar eine exklusive Wohnanlage in der Form von Neuschwanstein. In den Erkern und Türmchen wird sich bald der neue chinesische Geldadel niederlassen. Die exklusiven Apartments erzielen inzwischen auf dem Immobilienmarkt Quadratmeterpreise, die mit jenen westeuropäischer Stadtzentren konkurrieren können. Fast ausschliesslich handelt es sich um Eigentumswohnungen, die von privaten Projektentwicklern angeboten werden. Immer wieder steht dabei eine gewisse Sehnsucht nach europäischer Romantik oder US-amerikanischer Vorstadtidylle im Fokus der Vermarkter. Welche Bedeutung die Architektur für das Selbstverständnis der Stadt hat, lässt sich nicht zuletzt auch am Architekturmuseum von Dalian ablesen. Das 1997 errichtete Gebäude dokumentiert die wichtigsten Neubauprojekte der vergangenen Jahre und damit zugleich die Globalisierungseffekte, denen die Stadt ausgesetzt ist.

Ein erfolgreicheres Konzept hat dagegen das Wohnviertel Pao Wai zu bieten. Das Gebiet in Sichtweite des internationalen Flughafens von Dalian gleicht einem Bilderbuchdorf, in dem sich Einfamilienhäuser nach nordamerikanischem Vorbild um kleine Grüninseln gruppieren, auf denen lebensgrosse Kühe und überdimensionierte Gartenzwerge eine kindlich-surreale Kulisse bilden. Oberhalb des von Hügeln umringten Hauptplatzes ragen sogar Dinosaurierköpfe aus dem Felsen. Sie sind so gross, dass die daneben stehenden Häuser wie Miniaturen in einer Modelllandschaft wirken. Unweigerlich drückt sich darin auch der Wunsch aus, das endlose Meer ein und desselben Haustypus zu differenzieren. Zwischen den Attrappen, die genauso gut in einem Filmstudio stehen könnten, und den weissen Wohngebäuden, deren Erker und Giebel dem «New Urbanism» nacheifern, sorgen Dutzende von Gärtnern für die Grünanlagen, die mit ihren pseudo-antiken Statuen zum Vermarktungskonzept des Viertels gehören. Mit Erfolg: Selbst die Häuserreihen mit direktem Blick auf den Flughafen erfreuen sich bei den an Lärm gewöhnten Chinesen grösster Beliebtheit.
Russische und japanische Vergangenheit

Die Anfänge Dalians gehen auf das Jahr 1898 zurück, als die Halbinsel Liadong unter russischer Herrschaft stand. Die für die zaristischen Stadtgründungen im 19. Jahrhundert typischen Blöcke und Plätze bilden auch heute noch das Muster des Stadtgrundrisses. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Plan des Russen Sacharow nach 1905 von den Japanern zu Ende geführt wurde. Nach dem Russisch-Japanischen Krieg hatte das Zarenreich die Hafenstadt Dalian abtreten müssen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges verantworteten Japaner die Stadtentwicklung. Die Monumentalarchitektur, die vor allem in den dreissiger Jahren entstand, prägt bis heute das Stadtbild.

Während die neuen Projekte im öffentlichen Raum wie nahezu überall in China die offizielle Nationalgeschichte thematisieren, hat Dalian mit der Sanierung und Rekonstruktion des russischen Viertels einen Sonderweg eingeschlagen. Noch Anfang der neunziger Jahre wurde über einen Abriss der Holzhäuser aus dem frühen 20. Jahrhundert nachgedacht. Im Hinblick auf den wachsenden Tourismus rückte die Stadt jedoch von dieser Idee ab und entschied sich für eine Konservierung dieses nichtchinesischen Kapitels der Stadtgeschichte. Soziologisch betrachtet hat das Quartier freilich einen nicht mehr zu reparierenden Bruch erlebt. Die Bewohner, die in Räumen ohne fliessendes Wasser lebten, wurden in Neubauwohnungen am Stadtrand umgesiedelt. Seither präsentieren sich die russischen Holzgebäude wie in einem Architekturmuseum unter freiem Himmel: unbewohnt und mit Souvenirgeschäften im Erdgeschoss. Nach Ladenschluss gleicht der Ort daher einer Geisterstadt. Weitaus besser in die Stadtstruktur integriert sind dagegen die zahlreichen Villen aus der japanischen Besatzungszeit. Viele von ihnen thronen auf den umliegenden Hügeln mit Aussicht auf Stadt und Meer. Vor dem Zugriff durch Projektentwickler sind sie weitgehend geschützt, können sie doch inmitten der kleinteiligen Nachbarschaft kaum durch anonyme Wohnblocks ersetzt werden. Hinzu kommt, dass die Stadtverwaltung inzwischen auch die japanische Besatzungszeit als Teil der architektonischen Identität Dalians anerkennt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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