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John M. Johansen, lernte noch bei Walter Gropius und prophezeit jetzt hellsichtig eine von Nanotechnologie geprägte Architektur

Der US-Architekt John M. Johansen, Jahrgang 1916, ist noch bei Walter Gropius zur Schule gegangen und hat an der amerikanischen Moderne mitgebaut. Jetzt prophezeit der alte Herr hellsichtig eine neue, von Nanotechnologie geprägte Architektur der fernen Zukunft.

11. Januar 2003 - Ute Woltron
John M. Johansen ist, wie man in Amerika zu sagen pflegt, kein „spring chicken“ mehr. Der New Yorker hat mit seinen 86 Jahren den großen Teil seines außergewöhnlichen Architektenlebens bereits hinter sich gebracht, was ihn allerdings keineswegs daran hindert, mit geistiger Behändigkeit in eine ferne und aufregende Zukunft vorzustoßen, in der von neuen Technologien geprägte Häuser kraft tektonischer DNAs wie von Zauberhand aus dem Boden schießen, sich Gebäude samt Einrichtung selbst strukturieren und darüber hinaus ununterbrochen ihren Benutzern anpassen.

Während die heutigen Kinder der Architektur mit dem Computer allerlei Spielchen treiben und virtuelle Blobs und Bubbles in farbenfrohen Mustern generieren, denkt Johansen über die Wurzeln der architektonischen Existenz nach und gräbt die Fundamente alles Gebauten bis hin zu den Molekülen und Atomen ab. Vor allem die Nanotechnologie, so prophezeit er, würde in den kommenden hundert Jahren unser aller Leben revolutionieren - und sie würde eine neue „Spezies der Architektur“ hervorbringen, die er unter dem Begriff „Nanoarchitektur“ zusammenfasst.

Sein gleichnamiges neues Buch zu diesem Thema liest sich freilich wie ein von euphorischem Optimismus konstruierter Sciencefiction-Trip für Techniker und Baumeister - und es erinnert stark an den Nano-Bestseller Diamond Agedes amerikanischen Physikers Neil Stephenson (erschienen 1995). Doch Johansen lässt etwaigen Kritikern gegenüber die Nachsicht des Visionärs walten. Es sei schließlich stets die menschliche Vorstellungskraft gewesen, die in die Zukunft geführt habe, und viele Fiktionen des Gestern wären heute bereits Realität. Tatsächlich macht der Architekt nichts anderes, als tief in den Laboratorien der experimentellen Wissenschaft zu wühlen und die radikalsten Erfindungen dieser Zunft fiktiv in der Architektur zur Anwendung zu bringen - was reizvoll ist, und was letztlich immer schon Triebkraft für das Neue in der Kunst des Bauens war.

Hydraulik und Pneumatik sind da quasi schon alte Hüte, doch auch kinetische Strukturen, Bioengineering, Elektromagnetismus und das Herumbasteln an den molekularen Grundfesten von Baustoffen könnte, so der betagte Bau-Mann, eine neue Haute Couture der Architektur hervorbringen. Anhand einer Reihe von Entwürfen zeigt Johansen vor, wie das aussehen und funktionieren könnte. Er transportiert etwa ein federleichtes Konferenzzentrum in Blasenform per Hubschrauber auf die Dächer hoher Häuser, linkt sich mit seiner Tragstruktur in der bestehenden Statik ein und entfaltet das Konstrukt vor Ort. Er lässt Hausgebilde aus hauchfeinen, genmanipulierten Materialien wie Seerosen auf dem Meer schwimmen und molekular engineerte mehrgeschoßige Appartementhäuser wie Bäume aus dem Erdboden wachsen: Alles Fantastereien, denen allerdings reale wissenschaftliche Theorien zugrunde liegen.
„Zuerst einmal“, so relativiert Johansen, „muss gesagt werden, dass molekular-engineerte Häuser natürlich noch Theorie sind. Doch die Projekte, die ich in den vergangenen zehn Jahren konzipierte, basieren tatsächlich auf Technologien, die früher oder später realisiert werden, die Anwendung von molekularem Engineering, die Architektur einschließt, bleibt spekulativ.“ Aber irgendjemand hat immer architektonische Spekulation betrieben, und Technologiefreak Johansen meint: „Ich bin tief davon überzeugt, dass Architektur Struktur ist, und dass sie, im Unterschied zu anderen Künsten, eine dienende Kunst ist.“ So nehme man denn die neuen Möglichkeiten neuer Strukturen und denke ein wenig darüber nach.

Eine entsprechende Systemtheorie der Architektur legte Johansen bereits 1989 in einem Aufsatz dar: „Alle Funktionen, Service, Struktur, Ausrüstung und ästhetischer Effekt müssen als untrennbare Einheit entworfen werden.“ Das Haus sei nicht länger als Wohnmaschine à la Corbusier zu betrachten, sondern würde, sobald technisch machbar, selbst ein Eigenleben entwickeln.

Der Mann, der hier die Architektur systemisch definiert, ist bei uns erstaunlich wenig bekannt, gilt jedoch in den avantgardistischeren Architekturkreisen seit Jahrzehnten als eine der wichtigsten Katalysatorfiguren. Johansen graduierte 1942 in Harvard, sein wichtigster Lehrer war Walter Gropius, seine Studienkollegen hießen etwa Philip Johnson und I. M. Pei. Er zeichnete eine Zeit lang bei Marcel Breuer, verselbstständigte sich in New Canaan, baute in der Folge beachtenswerte Einfamilienhäuser der klassischen amerikanischen Moderne, wandte sich allerdings bald, Kopf an Kopf mit Denkern wie Buckminster Fuller und den Burschen von Morphosis, von der „modern box“ ab und der Erforschung neuer Technologien zu.

1907 hatte beispielsweise ein gewisser Carl Ethan Akeley auf der Suche nach einem geeigneten Material für Dinosauriermodelle ein Betonspritzverfahren mit Namen „gunite“ entwickelt, das dünnste Schalenkonstruktionen möglich machte. Johansen transportierte einige Jahrzehnte später (wie auch der ebenfalls viel zu wenig beachtete mexikanische Kollege Félix Candela) diese Technologie in die Architektur und entwarf atemberaubende Schalengebilde, die - so nimmt man an - unter anderem Friedrich Kieslers berühmten Entwurf des „endless house“ beeinflussten. Sein (nie ausgeführtes) „Spray House #2“ von 1955 nahm die heute gängigen Blob-Konstruktionen vorweg, war aber technisch ganzheitlich und damit weitaus raffinierter gedacht: Über eine tragende, wüst gedrehte und gebogene Stahlgitterkonstruktion sollte Beton gesprüht werden, die Isolierung sollte innen aufgesprayt werden, außen lag eine Plastikschicht als Wasserschutz. Wände, Decken Böden bildeten eine ganzheitliche, sanft geschwungene Oberfläche. Alle Installationen waren in der tragenden Konstruktion eingebaut. In den Schalenverschnitten lagen die Fenster. Heute, ein halbes Jahrhundert später, werden ähnliche, computergenerierte Häuser zu Architekturikonen ernannt.

Doch auch Johansens tatsächlich gebaute Architekturen entwickelten ein interessantes Eigenleben. Seine berühmtesten Werke sind die Goddard Library der Clark-Universität in Worcester, Massachusetts (1986) und das rundliche amerikanische Botschaftsgebäude in Dublin (1956), das mit seinen vorgegossenen, geschwungenen Betonelementen so radikal war, dass sich der frisch gewählte US-Präsident John F. Kennedy für seine Verwirklichung stark machen musste.

In den heutigen Zeiten des Architektur-Starrummels steht es ganz gut an, der Vordenker dieser Szene zu gedenken. Morphosis etwa gaben bereits in den 60er-Jahren Johansen als „unseren genialen amerikanischen Helden“ an. Und Morphosis-Mann Peter Cook realisiert gerade in Graz mit dem Kunsthaus eines dieser Blasengebilde, wie sie vor einem halben Jahrhundert prophezeit (und vielfach heftig attackiert) worden waren. Nicht zuletzt aus diesem Grund wäre es angeraten, John M. Johansens kleinen Ausflug in eine mögliche Architekturzukunft genau zu studieren und durchaus ernst zu nehmen. „Als experimenteller Architekt habe ich beschlossen, nach vorne zu blicken, was bedeutet, die sich neu entwickelnden Technologien kennen- und verstehen zu lernen, so radikal das auch sein möge“, schreibt er im Nachwort. Er sei sich auch dessen bewusst, dass nachfolgende Architektengenerationen der kommenden Dekaden mit erweitertem Wissen zu anderen Ausdrucksformen kommen dürften: „Mögen meine Projekte eine Ermunterung für jene sein, die mir folgen werden.“ Wenigstens den Kiesler-Preis sollte dieser Mann der Zukunft noch zu Lebzeiten erhalten.

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