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Malerischer Historismus
Neue Zürcher Zeitung

Das Werk des Münchner Architekten Gabriel von Seidl

12. Februar 2003 - Hubertus Adam
Die lebendigste Schilderung von der Persönlichkeit des Münchner Architekten Gabriel von Seidl (1848-1913) vermitteln auch heute noch die Lebenserinnerungen des späteren Hamburger Stadtbaurats Fritz Schumacher, der am Beginn seiner Karriere in von Seidls Atelier angestellt gewesen war. Von der «Künstlerkegelbahn» im Garten des Familienanwesens berichtet er ebenso wie über von Seidls enge Kontakte zum Malerfürsten Franz von Lenbach oder die Arbeitsweise des Architekten, in dessen Arbeitszimmer sich Kisten voller Photographien befanden, ein «Herbarium seiner künstlerischen Entzückungen». Diese persönliche Vorbildersammlung mag charakteristisch sein für einen Architekten des späten Historismus. Sein Eklektizismus stiess denn auch bei einer jüngeren Architektengeneration auf Widerstand, ob es sich um Theodor Fischer handelte, Adolf Loos oder um Hermann Obrist, der konstatierte, dass «München im eigenen, sehr guten, selbst gemachten Renaissancefett ersticke».

Blieben von Seidl als Vertreter einer älteren Generation auch die Reformbestrebungen der Zeit um 1900 fremd, so steht das malerische Arrangement vieler seiner Bauten doch im Gegensatz zu der bald stereotypen, bald eher plumpen Ausprägung vieler historischer Bauten in Deutschland. Das Stadtbild Münchens wurde um 1900 massgeblich durch von Seidl geprägt: Zu seinen wichtigsten Bauten zählen das italianisierende Lenbachhaus (1891), die neoromanische Pfarrkirche St. Anna im Lehel (1892), das Bayerische Nationalmuseum (1899), das Künstlerhaus (1900), die Rondellbebauung am Stachus (1902) sowie der Kernbau des postum vollendeten Deutschen Museums. Darüber hinaus erhielt der erfolgreiche Architekt zahlreiche Aufträge aus ganz Deutschland, zumeist aus Kreisen, die in der Gründerzeit zu Geld gelangt waren.

Das lange währende Desinteresse der Forschung an den Bauten des Historismus, aber auch die dürftige Quellenlage - von Seidls Archiv wurde im Zweiten Weltkrieg vernichtet - verhinderten eine Beschäftigung mit dem nicht zuletzt auf Grund seiner (ebenfalls ausnahmslos zerstörten) Bierpaläste in München populär gewordenen Architekten. Nun liegt eine von der Kunsthistorikerin Veronika Hofer herausgegebene Publikation vor, die als Aufsatzsammlung konzipiert ist. Zweifellos kann diese Veröffentlichung eine wissenschaftliche Monographie nicht ersetzen: Ein Werkverzeichnis liegt nicht vor, manche Ausführungen fallen allzu kursorisch aus, und überdies bleibt die Einordnung des Œuvre in Architektur und Architekturdiskussion der Zeit defizitär. Gleichwohl werden wichtige Aspekte der Arbeit von Seidls thematisiert, etwa sein Bemühen um den Erhalt des traditionellen Ortsbildes von Bad Tölz oder das Engagement für die durch Kanalisierung und Energiegewinnungsmassnahmen gefährdeten Isar-Auen. «Man darf nie vergessen», so hatte schon Schumacher resümiert, «dass ein bestes Stück von Seidls Wirken ausserhalb seiner eigentlichen Bauten lag.»


[Gabriel von Seidl. Architekt und Naturschützer. Hrsg. Veronika Hofer. Heinrich-Hugendubel-Verlag, München 2002. 224 S., Fr. 36.-.]

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