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Kein Schatten am 11. September
ORF.at

Entwurf bezieht World Trade Center-Fundament mit ein - Symbolträchtige Höhe erinnert an US-Unabhängigkeits-
erklärung.

28. Februar 2003
Einen Ort der Lebensbejahung will Daniel Libeskind mit seinem Entwurf für die Neubebauung von Ground Zero erschaffen. Ein Turm, an dessen Spitze keine Chefetagen oder Finanzzentren situiert sind, sondern ein begehbares, spiralförmig angelegtes Gartenhaus.

„Gärten sind eine konstante Bejahung des Lebens“, so der in Berlin lebende US-Architekt. Die Höhe des geplanten Libeskind-Baus ist symbolträchtig: 1,776 Fuß (rund 541 Meter) soll der Turm empor ragen, die Zahl steht für das Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Zum vergleich: Der Wiener Stephansdom ragt knapp 137 Meter in die Höhe.

Damit wird Libeskinds Entwurf das höchste Gebäude der Welt. Libeskind will mit seinem „Gardens of the World“ betitelten Turm „die Essenz dessen, was passiert ist“, einfangen, und der „Welt zeigen, dass das Leben siegreich ist und dass das Leben gut ist“.


Entscheidende Details

Libeskinds Vorschlag besticht nach einer Analyse der „New York Times“ vor allem durch die Aussparung jenes Geländes, auf dem einst die WTC-Türme standen, für eine Gedenkstätte. Der zweite, ebenfalls entscheidende Pluspunkt für den Plan des in Berlin lebenden Architekten ist der Einbezug eines aktiven Straßenlebens in den kommerziellen Teil der neuen Anlage, hieß es in der Zeitung.


WTC-Fundament als Ort der Erinnerung

Als Fundament bewahrt sein Entwurf die mächtigen Betonwände der 24 Meter tiefen Bodenwanne, die das Wasser des Hudson River vom Fuß der World-Trade-Center-Türme zurückhielten. Die wundersamerweise unversehrten Wände sollen zukünftig einen Meditationsort, einen Ort der Erinnerung beherbergen.

Diese Wände „stehen, so eloquent wie die Verfassung, für die Dauerhaftigkeit der Demokratie und den Wert des individuellen Lebens“, so der Amerikaner Libeskind. In der Wanne soll auch ein Mahnmal errichtet werden, das in einem internationalen Wettbewerb gefunden werden soll.


Transparente Wände

Der Turm selbst besticht durch transparente Wände und die Einbeziehung in die Sykline von Manhattan. Der Blick auf die Freiheitsstatue - ein Bild, das der 1946 in Polen geborene und als Jugendlicher in die USA eingewanderte Libeskind „nie vergessen“ wird - soll durch Libeskinds Turm gleichsam verdoppelt und weitergeführt werden. Mehrere ebenso umgebende futuristische Gebäude und die Einbeziehung der Infrastruktur von Lower Manhattan komplettieren das Projekt.


„Platz des Lichts“

Sein gefeierter Bau des Jüdischen Museums in Berlin verhalf Libeskind zum Ruf des Memorial-Experten - und diesem wird er in seinem Ground-Zero-Projekt wieder gerecht: Die von ihm entworfene Erinnerungslandschaft sieht neben einem „Platz des 11. September“, einem „Park der Helden“ und einem „Museum der Hoffnung“, das im Zentrum von Ground Zero entstehen soll, auch einen „Platz des Lichts“ vor. Auf diesen soll jedes Jahr am 11. September zwischen 8.46 Uhr, dem Zeitpunkt des ersten Einschlags, bis 10.28 Uhr, dem Moment, als der zweite World-Trade-Center-Turm kollabierte, die Sonne ohne jeglichen Schattenwurf scheinen.


Architekt, Regisseur und Ausstellungsmacher

Der 1946 in Polen geborene Libeskind wurde 1965 US-Staatsbürger. Als studierter Musiker wechselte er zur Architektur und lebt und arbeitet heute in Berlin. Von ihm verwirklicht wurden, neben dem Jüdischen Museum in Berlin, u. a. das Kriegsmuseum in Manchester und das Stadtmuseum Osnabrück. Libeskind arbeitete auch als Regisseur und Ausstellungsmacher.

Immer wieder hat Libeskind die Last der Geschichte in seinen Werken beschworen. „Es sind zerrissene, poetische Geschichten, die Libeskind umsetzt“, sagt seine Berliner Kollegin Petra Kahlfeldt. Der Architekt, so urteilt sein Kollege Matthias Sauerbruch, exportiere mit seinem Entwurf eine europäische und vielleicht auch speziell deutsche Erfahrung im Umgang mit einer beschädigten Stadt nach New York.


Spätstarter Libeskind

Mit seinen Entwürfen hat Libeskind zwar immer wieder hochkarätige Wettbewerbe gewonnen, auf den ersten handfesten Auftrag, den Bau des Jüdischen Museums, musste er allerdings lange warten. „Ich bin vermutlich ein Spätstarter“, sagte er jüngst. Seit Jahren wartet er darauf, dass sein Entwurf für den Erweiterungsbau des Victoria & Albert Museums in London umgesetzt wird. Vielleicht wird Libeskind diesmal nicht so lange auf den Baubeginn im Herzen Manhattan warten müssen.

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