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Gefährliche Brandung
Der Standard

Seit über 60 Jahren erblickt Oscar Niemeyer vor den Fenstern seines Büros vor allem eines: die Wellen des Atlantik. Nun ist dem Meister der betongegossenen Welle eine Ausstellung in Frankfurt gewidmet.

29. März 2003 - Ute Woltron
Rio de Janeiro ist nicht Bibione. Wenn der Landwind über die rundlichen Granitberge und Dschungelfetzen der Stadt Richtung Meer braust, beginnen Luft und Wasser miteinander zu spielen, dann bäumen sich die Wellen haushoch und donnern schon einmal aus sechs, acht Metern Höhe auf den Strand, der einmal als der schönste der Welt galt.

Ressaca nennen die Cariocas dieses Spektakel der gefährlichen Brandung, der Strand heißt wie der Stadtteil, nämlich Copacabana, und einer der ältesten Einwohner hier ist Oscar Niemeyer. Brasilianer. Architekt. Legende. 95 Jahre alt wurde er vergangenen Dezember, und seit mehr als 60 Jahren kann er den Wellengang von seinem Büro aus beobachten. Die Wellen und die Mädchen. Und die ewigen Fußballspieler im heißen Sand.

Er selbst, so heißt es, sei der Meister der gebauten Welle und der letzte große Architekt der so genannten Moderne. Wenn er in seinem Atelier hoch über der Copa sitzt, hinter rundlich ausbuchtenden Glaswellen des Art Deco, ist er ein kleiner, fußballbäuchiger Mann. Hosenträger halten statisches Gleichgewicht zwischen Hemd und Hose, und egal, in welcher Sprache die Konversation beginnt, sehr bald mündet das Gespräch in einen wortlosen Dialog zwischen Zeichenstift und Papier. Geführt wird der von Niemeyer allein.

Er skizziert, wie nur ganz alte Architekten skizzieren können. Stehend, die Linke in der Hosentasche. Die Linie fließt aus der rechten Schulter, sie rinnt durch den Arm in den Daumen, überträgt sich auf den Stift, und Farbe und Papier werden zum Medium, das die Geschichte eines Lebens in Bildern und Architekturen erzählt.

Das große Kapitel darin heißt Brasília, die Stadt, die Niemeyer gemeinsam mit Lúcio Costa in den späten 50er-Jahren auf ein karges Hochplateau im Landesinneren gezaubert hat. Die Wellen seiner Heimatstadt Rio nahm er damals mit und goss sie in Beton, und wenn der alte Mann heute die wogenden Umrisse der Kathedrale Brasílias mit ihrer Dornenkrone malt, dann wohnt diesem Gebilde immer noch eine enorme Kraft inne, die modern, weil zeitlos geblieben ist.

Gleich neben dieser seltsamen Kirche führt eine Spindeltreppe hinunter in ein Baptisterium. An und für sich ein Detail, aus Stahlbeton gemacht und lediglich eine kleine Spielerei im großen Ganzen. Doch an den nur knapp zentimeterbreiten Schalungspuren ihrer Unterseite lässt sich heute noch mit Auge und Finger ablesen, mit welch unglaublicher Präzision, Kunstfertigkeit und Sorgfalt vor einem halben Jahrhundert hier in der Weite des brasilianischen Nirgendwo gebaut wurde.

Heute fressen sich die Metropolen Brasiliens mit atemberaubender Geschwindigkeit so gut wie planlos und schlampig gebaut ins Niemandsland vor. „Beklagenswert“ sei der Zustand der Städte, sagt Niemeyer, sie seien den „divergierenden Interessen der öffentlichen Hand und der zerstörerischen Tätigkeit der Immobilienhändler ausgesetzt.“

Er selbst hatte sein Land verlassen, sobald Brasília errichtet war: Der politische Wind hatte gedreht, die Militärdiktatur die Macht ergriffen. In Paris baute der überzeugte Kommunist und zugleich Sohn aus reichem Haus 1965 die Zentrale der Kommunistischen Partei - ein elegant geschwungenes Hochhaus neben einem fließend überdachten Plenarsaal, das Georges Pompidou zu der Äußerung verleitete, diese Architektur sei „das einzig Gute, das die Kommunisten je gemacht haben“.

Niemeyer kehrte nach Rio zurück, blieb Kommunist und geißelt nach wie vor die „bedauerlichen Ungleichheiten“ der „Klassenarchitektur, der die notwendige soziale Grundlage fehlt, was zu all ihren Mängeln führt“. Sein in Rios Schwesterstadt Niterói, das 1991 eröffnet wurde, wirkt wie ein Fluchtpunkt aus diesem städtebaulichen Schlamassel, wie ein Flugobjekt, das nur kurz hoch oben auf einem Felsen verweilt, um in eine bessere Zukunft abzuheben. Rundherum das atemberaubende Panorama der Stadt. Im Dunst der Zuckerhut. Unten schwappt das Meer die Fäkalien der Millionenstadt an das felsige Ufer. Trotzdem ist der Ort magisch, die Architektur so seltsam und kraftvoll, wie alles, was Niemeyer gebaut hat.

Le Corbusier, so geht die Legende, habe ihn heimlich bewundert und von der Höhe seines Ruhmes herab beneidet, weil der Brasilianer mit einer instinktiven Formensicherheit stets auf Anhieb die richtige Linie fand. Kennengelernt hatten sie einander 1936, als Corbusier als Berater zum Bau des Ministeriums für Gesundheit und Erziehung in Rio de Janeiro herangezogen wurde. Niemeyer seinerseits war erbost darüber, dass er nicht die weltweite Anerkennung fand wie der Kollege, und er gründete zum Ausgleich ein Architekturmagazin, das vor allem dazu da war, seine Bauten zu rühmen.

Zu seinen freien, fließenden Formen fand der Architekt bereits in jungen Jahren, als er diverse Bauten für die Stadt Pampulha entwarf. Er selbst schreibt: „Alles begann, als ich die ersten Überlegungen für Pampulha machte und bewusst den so gelobten rechten Winkel und die rationelle Architektur von Reißschiene und Dreieck ignorierte, um beherzt in die Welt der Kurven und der neuen Formen einzudringen, die uns der Betonbau ermöglicht. Und auf dem Papier, beim Zeichnen dieser Entwürfe, habe ich dann gegen diese langweilige und monotone Architektur protestiert, die so leicht zu bewerkstelligen war und sich schnell von den Vereinigten Staaten bis nach Japan ausgedehnt hatte.“

Niemeyer zeichnete und skizzierte, seine Ingenieure setzten die Ideen um. Die Ausführung, so der Architekt, habe ihn nie sonderlich interessiert, viel wichtiger seien ihm Idee und Form gewesen. Für Pampulha entstanden etwa ein Tanzrestaurant samt geschwungener, überdachter Kolonnade und die Kirche des Heiligen Franziskus. Das aus vier kühnen Betonbögen gespannte Gotteshaus war so außergewöhnlich, dass sich die Kirchenmänner jahrelang weigerten, es einzuweihen.

Obwohl die Architekturen Oscar Niemeyers konstruktiv so gewagt und ausdrucksstark sind, wirken sie nie nervös oder beunruhigend. Sie wirken auch nicht spektakulär und sensationsheischend. Sie sind der gelassene, fast lässige Ausdruck eines extrem formtalentierten Geistes, der sich intuitiv freispielte und die architektonische Entsprechung zur großzügigen Natur seines gesegneten Landes fand.

Niemeyers eigenes Wohnhaus, in dem er seit 1953 lebt, liegt gut versteckt hoch oben in den Bergen Rios. „Die Kurve ist die Natur“, sagt er in einem Interview im Katalog zur Niemeyer-Ausstellung, die derzeit im Frankfurter Architekturmuseum zu sehen ist: „Berge, Körper, Wasser. Alles fließt. Und man darf die Natur nicht immer überall gegen rechte Winkel rennen lassen. In meinem Haus, das ich mir über den Hügeln von Rio entwarf, habe ich den Pool um den Felsen herumgebaut, das Haus schwingt sich in den dichten Wald hinein. Die Natur kommt ins Haus, das Haus umfasst die Natur.“

Architekturtheorie à la Niemeyer existiert nicht. „Was wollt ihr eigentlich bei mir?“ fragte er vor einigen Jahre eine Gruppe Architekturstudenten aus Wien, die sich in sein Atelier an der Copacabana verirrt hatten: „Da unten ist der Strand, da sind die Mädchen, der Fußball, das Meer. Die können euch mehr über Archtiektur beibringen als ich.“ []


[Oscar Niemeyer. Eine Legende der Moderne.
Architekturmuseum Frankfurt, bis 11.5.
Bei Birkhäuser erscheint der gleichnamige Katalog.]

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