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Innovative Konstruktionen
Neue Zürcher Zeitung

Ingenieure und Architekten

10. März 2003 - Bruno Meyer
Grössere Gebäude werden heute von Teams entworfen, die aus Architekten und Ingenieuren bestehen. Diese Teams sind in ihrer Zusammensetzung infolge fortschreitender Spezialisierung immer komplexer geworden. Trotzdem lassen sich die Ingenieure und die Architekten weiterhin als zwei Berufsgruppen unterscheiden, die nach eigenen Kriterien an den Projekten beteiligt sind. Die wohl wichtigste Nahtstelle ist das Tragwerk. Es besteht aus jenen Bauteilen, welche dem Gebäude Bestand verleihen und in ihrem Zusammenwirken als Konstruktion bezeichnet werden. Aus Sicherheitsgründen zählt man noch Teile wie die Verkleidung dazu, sofern ihr Versagen Menschenleben gefährdet. In Extremfällen wie beispielsweise bei Brücken oder Schalenkonstruktionen kann das Tragwerk nahezu identisch sein mit dem Bauwerk selbst. In diesem Geflecht von Funktionen und Zuständigkeiten gibt es keine fixen Grössen. Sie werden vielmehr von den Beteiligten - einschliesslich der Bauherren - laufend neu definiert. Bei näherem Hinsehen gehen auch die Meinungen über die Bedeutung der Konstruktion für die Architektur auseinander. Als Potenzial darin enthalten ist aber die Möglichkeit, die Konstruktion als Gestaltungsmittel zu nutzen.

Bei Projektorganisationen für Gebäude ist es meist so, dass der Auftrag für das Tragwerk einem Bauingenieur als Fachplaner erteilt wird, während der Architekt für Entwurf und Gesamtleitung der direkte Ansprechpartner der Bauherrschaft ist. Im Einzelfall ist zunächst offen, ob zwischen den entwerfenden und konstruierenden Kräften eine Wechselwirkung stattfindet oder ob die Bauingenieure einfach architektonische Entwürfe zur statischen Berechnung übernehmen. Beispiele aus Geschichte und Gegenwart freilich zeigen, dass innovative Konstruktionen aus der engen Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur resultieren und dass sie dann vor allem den Gesamteindruck zu einem Zeichen von ausserordentlicher Kreativität machen. Deshalb ist es nicht immer leicht, den Beitrag des Ingenieurs zu bestimmen.

In seinem Buch «Architects + Engineers = Structures» präsentiert der Architekt Ivan Margolius 44 Beispiele von der Renaissance bis in die Gegenwart, wobei mehr als die Hälfte der ausgewählten Objekte aus der Zeit nach 1945 stammen. Auffallend ist, dass Grossbauten oft aus Anlass von Grossereignissen wie Weltausstellungen und Olympischen Spielen sowie aus dem Bedarf an Bauten für Kunst und Kultur wie Kirchen oder Opernhäuser entstanden sind. In jüngster Zeit werden aber auch scheinbar untergeordnete Objekte wie Fussgängerbrücken als Herausforderung an die Konstruktion akzeptiert. Auf eine leicht verständliche Art plädiert Margolius für die partnerschaftliche Zusammenarbeit und wünscht, dass die Bauingenieure im Entwurfsprozess als Koautoren auftreten und dann in der Öffentlichkeit auch namentlich genannt werden. Seine Vision für die Zukunft zielt auf Weiterentwicklung von Formen mit Membran-, Tensegrity-, Schalen- oder Hybridtragwerken. Dazu bemerkte der New Yorker Künstler Tony Robbin, als er sie systematisch untersucht hatte: «Sie werden die heimliche Avantgarde der Architektur sein» (in: Engineering a New Architecture, 1996).

Einen anderen Weg schlägt der Architekturkritiker Sutherland Lyall ein. Er vereint 25 hervorragende Bauten der Gegenwart in einem Bildband. Zur Hälfte sind es Ausstellungsgebäude wie der Millennium Dome in London (Richard Rogers und Happold), das Guggenheim Museum in Bilbao (Frank O. Gehry und Skidmore Owings & Merill) sowie das Expodach in Hannover (Herzog & Partner und Julius Natterer). Ebenso bedeutend sind Verwaltungsgebäude wie jenes der Industrie- und Handelskammer in Berlin (Nicholas Grimshaw und Whitby & Bird) oder der Ausbau des Flughafens Roissy-Charles-de-Gaulle in Paris (Paul Andreu sowie Paul Muller und RFR). Eine Sonderstellung nehmen die Bauten von Santiago Calatrava ein, der Talent und Qualifikation als Architekt und Ingenieur in einer Person vereinigt. Komplementär dazu stehen Ingenieurbauten wie etwa das Riesenrad London Eye (Jane Wernick von Ove Arup sowie Marks Barfield), die Passerelle Solferino in Paris (Marc Mimram) und die Fussgängerbrücken über die Viamalaschlucht bei Thusis (Conzett Bronzini Gartmann). - Auf verdienstvolle Weise rücken die beiden Autoren mit ihren Publikationen über das Konstruieren einen bedeutenden Zweig des Bauingenieurwesens ins Licht und erhellen damit den Einfluss technischer Entwicklungen auf die Architektur und die gebaute Umwelt.


[Ivan Margolius: Architects + Engineers = Structures. Wiley, London 2002. 104 S., £ 19.99. - Sutherland Lyall: Ingenieur - Bau - Kunst. Die Konstruktion der neuen Form. Kohlhammer- Verlag, Stuttgart 2002. 223 S., Fr. 129.-.]

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