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Wolkenbauer, Aufklärer, Architekten
Neue Zürcher Zeitung

Retrospektive Diller & Scofidio in New York

Das als «Wolke» von Yverdon-les-Bains bekannt gewordene «Blur Building» war eine der Hauptattraktionen der Expo 02. Nun widmet das Whitney Museum seinen Erfindern, dem im Grenzbereich von Kunst und Architektur operierenden New Yorker Architektenduo Diller & Scofidio, eine umfangreiche Werkschau.

28. April 2003 - Hubertus Adam
Beweglich aufgehängt an Schienen, gleitet eine Schlagbohrmaschine durch die Ausstellungssäle im vierten Obergeschoss des Whitney Museum in New York. Nach dem Zufallsprinzip bohrt das digital gesteuerte Gerät Löcher in die Wände, die somit zunehmend perforiert erscheinen und sukzessive sogar Durchblicke zwischen den Ausstellungssälen freigeben. Tritt sonst der «white cube» des Museumsraums gemeinhin in den Hintergrund, um der Kunst den Vortritt zu lassen, so erzwingt er hier im Fortschritt seiner gezielten Zerstörung die Aufmerksamkeit der Besucher.

Indem die als «work in progress» konzipierte Installation «Mural» auf eine veränderte Wahrnehmung einer spezifischen Raumsituation zielt und mit den peepshowartigen Wandöffnungen an das voyeuristische Empfinden appelliert, umkreist sie Themen, welchen sich Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio seit Beginn ihrer gemeinsamen Tätigkeit im Jahr 1979 widmen. Es sollte aber zwanzig Jahre dauern, bis die beiden New Yorker Architekten, die an der Princeton University beziehungsweise der Cooper Union lehren, ihr erstes grosses Architekturprojekt realisieren konnten; und es ist bezeichnend, dass dieses nicht in den USA, sondern in Japan geschah. «Slither Building» heisst das experimentelle Gebäude in Gifu, dessen 105 Wohnungen in 15 Stapel zu 7 Einheiten organisiert sind. Jeder Stapel ist gegenüber seinem Nachbarn um 1,5 Grad abgewinkelt und überdies in der Horizontalen sowie der Vertikalen leicht versetzt. Anstelle eines stereotypen orthogonal ausgerichteten Riegels entstand somit ein leicht schwingendes Gebilde; zickzackförmige Laubengänge treten an die Stelle monotoner Erschliessungskorridore und verleihen den einzelnen Wohnungen Spezifik und Individualität.


Facetten der Wahrnehmung

Inzwischen ist den Architekten der lang verdiente Erfolg auch in den Vereinigten Staaten zuteil geworden. Im New Yorker Stadtteil Chelsea entsteht das aufsehenerregende Gebäude für die Non-Profit-Medienorganisation «Eyebeam», das als eine sich bandartig in die Vertikale schraubende Raumstruktur konzipiert wurde, und am Harborwalk in Boston wird das Institute of Contemporary Art als eine spektakulär über das Wasser auskragende zweigeschossige Glasbox errichtet, deren Sockel Freitreppen und ein ebenfalls verglastes Auditorium bilden. Mit beiden Projekten waren Diller & Scofidio auf der letztjährigen Architekturbiennale vertreten.

Zeitgleich mit der Hausschlange im fernen Gifu konnten Diller & Scofidio ein Projekt an einem der prominentesten Orte New Yorks realisieren: «The Brasserie» im Sockel von Mies van der Rohes Seagram Building. Ohne die Initiative von Phyllis Lambert, der Mies van der Rohe seinerzeit den Hochhausauftrag zu verdanken hatte und die bei baulichen Interventionen an diesem Meisterwerk der Moderne weiterhin Entscheidungsbefugnis besitzt, wäre die Wahl kaum auf ein derart unkonventionelles Architektenteam gefallen; so aber ist das wohl bemerkenswerteste Restaurantinterieur entstanden, das die Stadt am Hudson derzeit vorzuweisen hat. Durch eine geschickte Gliederung des Raums, der sich in verschieden materialisierte Bereiche unterteilt, gelang es, das Essen als ein zwischen Privatheit und Öffentlichkeit oszillierendes Ritual zu inszenieren. Eine Videokamera als gleichsam virtueller Portier erfasst die Gäste beim Betreten des kleinen Foyers; die Bilder werden auf den fünfzehn Monitoren über dem Bartresen in einer transitorischen Sequenz zur Schau gestellt.

Sehen und gesehen werden, offenbaren und verschleiern, beobachten und überwachen, das sind Facetten der Wahrnehmung, denen sich Diller & Scofidio auf verschiedene Arten nähern. Immer wieder ist es das technische Auge der Kamera oder des Röntgengerätes, dessen Bilder dem wirklichen Geschehen gegenübergestellt werden. Dabei vermischen sich reale Aufnahmen mit fiktiven, wie beispielsweise bei der zurzeit in Ausführung befindlichen Installation «Facsimile», einem Kunst-am-Bau-Projekt für das von Gensler Associates realisierte Moscone Convention Center West in San Francisco. Ein grosser Videomonitor fährt entlang der verspiegelten Fassade des Gebäudes und zeigt - wie in einem Brennglas - vergrösserte Ausschnitte des Geschehens im Inneren, die durch Überlagerung mit gespielten Szenen verfremdet sind.

In einem Land, das durch ein zunehmend obsessives Sicherheitsbedürfnis charakterisiert ist, in welchem unzählige Videokameras öffentliche Plätze erfassen und die Privatisierung des öffentlichen Raumes fortschreitet, besitzen die subversiven Arbeiten des Architektenteams Brisanz. Dabei setzen Diller & Scofidio nicht auf politische Statements, sondern auf Irritation. «Scanning - the aberrant architectures of Diller & Scofidio» heisst der Titel der grossen, von Kurator K. Michael Hays und Aaron Betsky, dem Leiter des Niederländischen Architekturinstituts Rotterdam, betreuten Retrospektive, in welcher das Whitney Museum of American Art die vielfältigen Arbeiten des Architektenduos dokumentiert - von den frühen Performances über diverse Szenographien und Installationen bis zu den jüngsten Bauten und Projekten. Dabei galt die Auseinandersetzung immer wieder der (amerikanischen) Alltagskultur. «Bad Press - Dissident Housework Series» (1993-98) etwa zeigt Hemden, die entgegen jeglicher Arbeitsökonomie durch Bügeln zu origamiartigen Textilfaltwerken geworden sind.

«The American Lawn: Surface of Everyday Life» (1998) ist eine mit dem ironisierten Gestus der Wissenschaftlichkeit vorgetragene Untersuchung des amerikanischen Abstandsgrüns. Und «Tourisms: Suit Case Studies» (1991) besteht aus 50 aufgeklappten Koffern, in denen Postkarten von Betten oder Schlachtfeldern aller amerikanischen Bundesstaaten zu sehen sind - reduzierte Konzentrate touristischen Interesses. Die aufwendigste Installation schliesslich ist «Master/Slave», die 1998 als Präsentation der Spielzeugrobotersammlung des Chefs der Möbelfirma Vitra, Rolf Fehlbaum, in der Fondation Cartier Paris erstmals gezeigt wurde. Auf einem 90 Meter langen Band in einem grossen Schaukasten drehen die hintereinander gereihten Figuren ihre endlosen Kreise, wobei sie von Überwachungskameras beobachtet und von Röntgengeräten durchleuchtet werden. Unversehens befindet sich der Besucher in der Rolle des Aufsehers. Könnte sich das Verhältnis umkehren, wenn die Kontrolle nicht mehr gelänge?


Körperlichkeit contra Entmaterialisierung

Das «Blur Building», die grandiose Wolke der Expo 02 in Yverdon, machte Diller & Scofidio auch hierzulande einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Als Negation der üblichen szenographischen Ausstellungsinszenierung konfrontierte das feuchte Nebelgebilde die Besucher mit ihrer eigenen Körperlichkeit und ermöglichte neue Perspektiven auf Landschaft und Umgebung: Auf- Klärung in des Wortes eigentlichstem Sinne. Wie in vielen Arbeiten der Architekten diente eine elaborierte Technik letztlich dazu, einer sich entsinnlichenden Welt Sinnlichkeit zurückzugeben. Ständig aufs Neue geht es um eine von visuellen Sedimenten und Rudimenten geprägte Wirklichkeit, um «Scanning» als Wahrnehmungsform der Wirklichkeit. Und doch schimmert in den Arbeiten von Diller & Scofidio die Hoffnung auf, dass die Virtualisierung in letzter Instanz der Körperlichkeit unterliegt.


[Bis 1. Juni; Katalog: Scanning - the aberrant architecture of Diller & Scofidio. Whitney Museum of American Art, New York 2003. 192 S., $ 45.- (ISBN 0-87427-131-2).]

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