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beifuß, gundelrebe und vogelmiere
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Ein Gespräch mit Elisabeth „Liz“ Mitter über wenig bekannte Verwendungsmöglichkeiten dreier vermeintlicher Unkräuter und ein Blick in die Geschichte der Kräuterkunde am Beispiel des Beifuß.

1. Februar 2000 - Ute Haage
Gundelrebe im Knödel: „Was kommt dir zu Beifuß, Gundelrebe und Vogelmiere in den Sinn?“, fragte Liz bei einem unserer leider viel zu seltenen Gespräche. Was mir in den Sinn kommt? Nichts Besonderes - es sind recht häufige Pflanzen, die beinahe überall wachsen, besonders Gundelrebe und Vogelmiere. Der Beifuß ist ein großer Korbblütler, die Gundelrebe ein kleiner Lippenblütler und die Vogelmiere ein unscheinbares Nelkengewächs.
„Und Gänsebraten, Knödel und Salat kommen dir nicht in den Sinn?” Nein, in der Tat nicht. „Auch nicht Fußbäder und Kräutertee?“ Nein, auch das nicht. Warum auch?
„Weil diese drei Pflanzen praktische Küchen- und Heilkräuter sind! Ist dir das noch nie aufgefallen?“
Nein, das ist mir noch nie aufgefallen. Ich habe in dieser Hinsicht noch nicht mit den dreien zu tun gehabt – weder „privat“ noch „beruflich“. Weißt du, Liz, ich kenne niemanden, der oder die diese Pflanzen verwendet und zuhause haben wir das auch nicht gemacht. Und im Planungsstudium ging es vor allem um die Systematik der Pflanzen, um Ökologie, um Pflanzengesellschaften, die Bestimmung der Pflanzen, ihre Gefährdung und Naturschutz. Ich zeige dir, was im Oberdorfer steht: „3010. Gewöhnlicher Beifuß, Artemisia vulgaris L., verbr. in staudenreich. Unkrautfluren, an Wegen, Schutt- u. Müllplätzen, auch in Ufern, im Auengebüsch, auf ± frisch. od. feucht., nährstoffreich., ± humos. Böd., an älteren konsolidiert. Ruderalstell., windblütg, Wind- u. Klebausbrtg (verschleimende Samen), alter Kulturbegleiter, früher auch Heil- u. Gewürzpf., Artemisietea-Kl.char., v. all. In Artemisienea-Ges. – Ebene bis mittl. Gebirgslag., A bis 800 m – H (Ch), formenreich“ (Oberdorfer, 1994, S.943). Das sind die Informationen, mit denen ich vor allem arbeite.
„Hier ist ja der Hinweis darauf, daß der Beifuß eine alte Heil- und Gewürzpflanze ist!“ Das stimmt. Aber der Zusatz „früher“ verleitet dazu, anzunehmen, daß er heute keine Heil- und Gewürzpflanze mehr ist.

„Seine Verwendung in der Küche hat heute bei uns wahrscheinlich wirklich stark abgenommen. Aber glaubst du nicht, daß ihn deine Großmutter gekannt und verwendet hat?“ Ich war nicht besonders am Garten, der Hauswirtschaft oder dem Kochen interessiert, wie die Großmutter noch im Haus gewirtschaftet hat. Soviel ich weiß, verwendete sie keinen Beifuß, sondern Wermut.

„Ich erzähle dir etwas über den Beifuß. Er ist eine sehr interessante und wirksame Heilpflanze. Es ist eigentlich recht praktisch, daß er „überall“ wächst, das erleichtert das Sammeln. Beim Sammeln sind der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt wichtig. Die ganze Pflanze wird kurz vor dem Aufblühen abgeschnitten und verkehrt zum Trocknen aufgehängt. Zum Kochen und Tee machen werden die Blüten genommen, denn die Blätter sind zu bitter. Mit frischen Blättern kann ein wohltuendes Fußbad für z.B. nach langen Wanderungen geschwollene Füße gemacht werden. Der Beifuß unterstützt die Fettverdauung – er hilft fette Speisen wie Gans, Aal oder Schweinebraten – besser zu verdauen. Dabei wird er z. B. als Pulver mitgekocht. Die Speisen schmekken nicht nach Beifuß, das sollen sie auch nicht, aber er entfaltet trotzdem seine Wirkung. Er ist eine Bitterpflanze und wirkt ausgleichend auf den Säure-Basen-Haushalt des Körpers. Er ist ein sogenannter Säurezieher. Er eignet sich auch als Mittel gegen Kater, am Morgen als Tee genommen oder bereits am Vortag gegessen. Ebenso mindert er die blähende Wirkung von Bohnen, Linsen, Kohl und Kraut.

Mit dem richtigen Würzen kannst du sehr viel für die Bekömmlichkeit des Essens tun und auch für deine Gesundheit! Beim Würzen geht es nicht nur um den Geschmack!

Nehmen wir die Gundelrebe. Sie wächst auch beinahe überall und sie ist im Frühling eine der ersten grünen Pflanzen, noch vor den Küchenkräutern. Du kannst sie frisch oder getrocknet verwenden, z. B. in einer Eierspeise. Zur Zeit meiner Großeltern war sie ein selbstverständliches Knödelgewürz. Ein richtiger Knödel war mit Gundelrebe gewürzt, ich mache das heute noch. In Semmelknödel, Leberknödel, Tirolerknödel ... einfach alle. Ohne Gundelrebe schmecken mir die Knödel gar nicht. Im Volksmund heißt sie der „Steinumwickler“. Sie hilft nämlich gegen die sogenannten „Steinleiden“. Du kannst sie auch als Tee trinken, vom trockenen oder frischen Kraut. Der Tee hilft bei Asthma, Husten, Atembeschwerden, Blasen-, Milz-, Nieren- und Leberleiden, Magen- und Verdauungsstörungen, Würmer, Weißfluß und löst die Harnsäure.
Ich denke, es ist schon so, daß das richtige Würzen die Speisen verträglicher macht und wenn du dann noch in Ruhe ißt, dann bekommt es dir gut und es macht dich nicht dick oder verursacht sonstiges Unwohlsein.”

Und was kannst du mir zur Vogelmiere erzählen?
„Die Vogelmiere ist wieder so ein vermeintliches Unkraut. Dabei ist sie ebenfalls sehr gesund und enthält viele Mineralstoffe. Sie eignet sich vor allem für die frische Verwendung – auf Suppen und Salate, sie sollte nicht mitgekocht werden. Du kannst sie auch als Tee verwenden. Sie hilft bei Atembeschwerden, Augenleiden, Blasenleiden, zu starker Menstruation, Ausschlägen, Krampfadern, Hämmorhiden, Würmern. Sie wirkt blutreinigend.

Siehst du – drei so „Allerweltspflanzen“ mit so großer positiver Bedeutung. Hättest du das vermutet? Eigentlich unverständlich, daß die drei im allgemeinen als bloße Unkräuter angesehen werden. Es ist Vieles in Vergessenheit geraten. Ich habe noch viel von meinem Vater gelernt. Er hatte ein sehr umfangreiches Wissen über Kräuter, wo und wie sie gesammelt und konserviert werden und wie sie verwendet werden. Er wurde von überall geholt, vor allem, wenn das Vieh krank war. Später habe ich mich selbst intensiv mit Kräutern beschäftigt. Mittlerweile bemerke ich, daß Kräutern mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Vor ein paar Jahren war das nicht so. Da wurde mein Interesse und Wissen eher belächelt. Nun ist es so, daß es immer mehr Menschen gibt, die sich dafür interessieren und mich auch fragen – weißt du da etwas? Ich finde das gut, denn ich bin überzeugt, daß wir mit dem richtigen Einsatz von Kräutern viel Positives für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden tun können. Ich habe das bei mir selbst gesehen. Außerdem bereitet es mir große Freude, hinauszugehen und zu beobachten!“ (Gespräch mit Elisabeth „Liz“ Mitter in Radenthein im Herbst 1999).

Kräuterwissen in meinem Alltag

Das Gespräch hat mich veranlaßt darüber nachzudenken, welche Bedeutung Kräuterwissen in meinem Alltag hat. Es gibt ein paar Kräuter, die ich oft verwende. Da sind einmal Würzkräuter wie Oregano, Thymian, Kerbel, Basilikum und Teekräuter wie Schafgarbe, Salbei, Zinnkraut, Brennessel, Brombeere und Wermut. Zu den Würzkräutern fällt mir vor allem ein, daß sie mir gut schmecken und ich sie deshalb gerne verwende. Die Auswahl der Würzkräuter ist keine „bewußte“, sondern eine, die sich am Gewohnten orientiert und auch über Essen „außer Haus“ vermittelt wird. Bei den Teekräutern ist das anders. Hier habe ich Literatur zu Rate gezogen. Ich mische mir diese Teekräuter nach täglichem Empfinden zusammen und schätze ihre wohltuende Wirkung auf Körper, Seele und Geist. Diese Bedeutung ist alltags-praktisch. Den gleichen Dienst können mir andere Getränke nicht erweisen.

Weisen meine bescheidenen Kenntnisse auf den Verlust von Kräuterwissen hin? In gewisser Weise ja. Es ist jedoch nicht so, daß ich „nichts“ über Kräuter weiß. Meine Kenntnisse spiegeln jedoch ein „anderes“ Wissen. Es besteht vor allem in den nach Oberdorfer zitierten Aspekten wie Bestimmungsmerkmale, Vorkommen, Verbreitung und Vergesellschaftung. Wesentlich geringer ist mein Wissen in Bezug auf Inhaltsstoffe, Wirkungen, Verwendungsmöglichkeiten und Kulturgeschichte. Ich kenne den Beifuß, die Gundelrebe und die Vogelmiere, aber ich hätte nicht gewußt, was ich mit ihnen in der Küche anfangen soll. Ich habe meine Kräuterkenntnisse nicht durch familiär vermittelte Praxis erworben. Meine Kenntnisse sind primär universitär vermittelt und naturwissenschaftlich geprägt. Dadurch ergeben sich unterschiedliche Schwerpunkte des Wissens. Im Unterschied zu Liz sind meine Kenntnisse wenig alltagspraktisch.

Der Verlust von Kräuterwissen besteht im Verlust ihrer alltagspraktischen Bedeutung.

Wie kommt das? Ich denke, es gibt mehrere Ursachen. Zum einen ist alltagspraktisches Wissen über Kräuter heute nicht unbedingt notwendig. Zum anderen erfährt das botanisch-naturwissenschaftliche Wissen gesellschaftlich mehr Anerkennung.

Das praktische Kräuterwissen gehört zu dem Wissen und der Praxis, welche durch „Modernisierung“ „überwunden“ wurden. Durch eine Modernisierung, welche im Prinzip seit dem 16. Jahrhundert. stattfindet.

Nun möchte ich am Beispiel des Beifuß nachforschen, wie der Verlust von Wissen vor sich gegangen ist.

Der Beifuß etymologisch

Interessant ist folgende Bemerkung von Beckmann und Beckmann: „Viele heutige deutsche und auch wissenschaftliche Namen von Kräutern deuten auf Mythen hin, mit denen man oft die Hauptwirkungen der Pflanzen erschließen kann“ (Beckmann, Beckmann, 1998, S.63). In Kluge‘s Etymologischem Worterbuch steht: „Beifuß m. „Artemisia vulgaris“, fachsprachl. Die ursprüngliche Form des Pflanzennamens ist ahd. pipoz, mhd. biboz, mndd. bibot, fnhd. peipus (und ähnliches in einigen Mundartformen). Lautlich könnte dies eine Zusammensetzung aus bei und der auch in Amboß (s. d.) enthaltenen Ableitung zu g. *baut-a-„schlagen“ sein, doch bleibt das Benennungsmotiv und damit auch die Verknüpfung unklar. Das Wort ist im Westfälischen des 13. Jhs. umgedeutet worden zu bivot „Bei-Fuß“, sehr wahrscheinlich in Anlehnung an den antiken Glauben, daß ans Bein gebundener Beifuß vor Müdigkeit auf der Reise schütze (Plinius Nat. hist. 26, 150). Danach mndl. bivoet, mndd. Ndd. bifot und seit dem 14. Jh. auch fnhd. bivuoz, nhd. Beifuß“ (Kluge, 1989, S.71).

Der Beifuß ist mehr als ein würziger Fußbalsam

Bei Beckmann und Beckmann zeichnen die etymologischen Angaben zum Beifuß ein anderes Bild dieser Pflanze: „Biboz ist ein mittelalterliches Wort für den Beifuß und vielleicht auch für den Wermut und die Eberraute. Noch bis hin zu den Zeiten BAUHINs (1664), der diesen Arten viele Seiten widmet, galten sie als die Heilkräuter überhaupt, die alles vermögen. Der Wortstamm »Biboz« hängt auch mit dem Begriff »Butz« zusammen. Butz ist ein niederdeutsches Wort für Bett. Vom Butzemann heißt es in alten Kinderreimen: »Als wir von dem Tische kamen, gingen wir zu Bette, ich und du und´s Butzemännle, zankten um die Decke. – Als wir um die Decke zankten, fing das Bett an krachen. Ich und du und´s Butzmännle mußten herzlich lachen.« (ENZENSBERGER 1962). Der Butzemann entspricht dem Rumpelstilzchen der Märchen. Rummeln ist sich vergnügen, rammeln etwas fest einschlagen und rumpeln, Krach machen. »Bozzan« heißt in althochdeutsch stoßen. Der Name Beifuß ist also eine Verfremdung, die unverständlich bleibt, wenn man nicht weiß, daß durch die Lautverschiebungen aus dem »bi« ein »bei«, aus dem »o« ein »u«, aus dem »b«(p) ein »f« und aus dem »z« ein »ß« wurde (»Biboz«). Beifuß heißt also so etwas wie »Beibett« oder »Beistoß«“ (Beckmann, Beckmann, 1998, S. 185).

Die Unterschiedlichkeit der beiden etymologischen Angaben ist erstaunlich. Für Kluge bleibt die Bedeutung und Herkunft des Namens Beifuß unklar – oder wie er so schön sagt: das Benennungsmotiv. Er reduziert den Beifuß zum bloßen „Fußbalsam“. Beckmann/Beckmann leiten für den Namen Beifuß eine klare Bedeutung her. Wie kommt es zu so unterschiedlichen Angaben? Eine mögliche Erklärung in Anlehnung an das Spurenparadigma lautet: wer das Tier nicht kennt, kann auch seine Spur nicht entziffern. Beckmann und Beckmann kennen das Tier, sie wissen etwas über den Beifuß, was Kluge nicht weiß und können ihn daher mit Sexualität in Verbindung bringen.

Warum wird der Beifuß mit Sexualität in Verbindung gebracht?

Bisher gibt es dafür keinen Anhaltspunkt. Bisher erscheint es so, als sei der Gebrauch des Beifuß durch eine allgemeine Abwertung von Kräutern verschwunden. Der Hinweis auf Sexualität gibt Anlaß zur Vermutung, daß das heutige Wissen über den Beifuß nur einen Teil seines möglichen Wirkungsbereiches wieder gibt.

Auf welchen Quellen beruht das heutige Kräuterwissen?

Die Verwendung des Beifuß ist sehr alt. Oberdorfer weist mit der Anmerkung „alter Kulturbegleiter“ darauf hin. Nach Beckmann und Beckmann wurde der Beifuß in allen alten Kulturen verwendet. Es gibt archäologische Funde, die auf ein Alter von 17.000 Jahren verweisen und Beifuß in Mengen fanden (vgl. Beckmann, Beckmann, 1998, S.185).

„Artemisia vulgaris (Beifuß) stand bei den Angelsachsen und den keltischen Druiden hoch im Kurs. Es war eines der neun Kräuter, die Unheil und Gifte ab wehren sollten. Beifuß galt als ‚die Mutter der Kräuter‚ und wurde mit Hexenkünsten sowie mit Fruchtbarkeitsritualen in Verbindung gebracht. In griechischen und römischen Schriften aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. wird das Kraut häufig beschrieben, in chinesischen Texten reicht seine Erwähnung bis auf die Zeit um 500 n. Chr. zurück“ (Bown, 1998, S.243).

Der Beifuß war früher nicht nur Kulturbegleiter, sondern vielmehr eine zentrale Pflanze. Diese Bedeutung hat er heute nicht mehr.

Wie kommt es zu diesem Bedeutungsverlust?

Unser heutiges – schriftliches – Kräuterwissen beruht zum großen Teil auf der mittelalterlichen Rezeption antiker Kräuterkunde. Das antike Kräuterwissen wird jedoch bei der mitteleuropäischen Rezeption zensuriert.

Dieser Zensur unterlag auch der Beifuß. Er wurde verwendet als Räucherkraut, als Mittel gegen Flöhe, Fliegen, Mücken und andere Insekten und als Rauschdroge. Die vorrangige Bedeutung hatte der Beifuß jedoch als „Frauenkraut“. Er wurde benutzt, um die Periode auszulösen. Damit konnten Frauen den Zyklus regulieren.
In der Antike waren die Periodemittel äußerst verbreitet. Wissenschaftlich heißt ein Mittel, das die Periode auslöst, Emmenagogum (emmaenos, griech. = monatlich; agogos, griech. = herbeiführen). Der Begriff der »Abtreibung« war in der Antike nicht bekannt. (vgl. Beckmann, Beckmann 1998, S. 178). Als Periodemittel wurden in der Antike vor allem Beifuß und Wermut (Artemisia absinthium) benutzt.

Angaben zu Kräutern, die den weibliche Zyklus und die weibliche Fruchtbarkeit betreffen, werden bei der Rezeption antiken Wissens jedoch sukzessive reduziert und auch einfach weggelassen. „Hier wird deutlich, daß das antike Wissen von der Neuzeit nicht mehr toleriert wird. Da BAUHIN (1664) den DIOSCORIDES (ca. 50) genau kennt, kann man annehmen, daß er wichtige Bereiche des antiken Kräuterwissens verleugnet“ (Beckmann, Beckmann, 1998, S. 180).
Die Reduktion von Kräuterwissen geschah einerseits durch Zensur des antiken Wissens und andererseits durch die Unterdrückung des volksmedizinischen Wissens. Die Unterdrückung gelang, weil viele alte Heilpflanzen mit teuflischen Einflüssen in Zusammenhang gebracht wurden, oder weil ihnen ihre Wirksamkeit abgesprochen wurde oder/und weil sie als tödliche Gifte dargestellt wurden.
Der weibliche Körper wurde mit der Beginn der Neuzeit einem Produktionsapparat gleichgesetzt, der gesellschaftlichen Interessen zu dienen hatte.
Dies ist der Grund, warum alle Kräuter, die Periode, Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit beeinflussen, zu Hexenkräutern gestempelt wurden. Zu diesen als Hexenkräutern „verteufelten“ Pflanzen gehörte auch der Beifuß.

Zensur und Unterdrückung waren so gründlich und umfassend, daß Beckmann/Beckmann vom Untergang des Kräuterwissens sprechen. „Heute kann aber niemand mehr nachlesen, was man damals alles mit Kräutern machen konnte. Was man wie beeinflussen konnte, wurde zum Tabu“ (Beckmann, Beckmann 1998, S. 17).

Der Kreis schließt sich, wenn heute manche der früher verteufelten Hexenkräuter in der populären Kräuterkunde mit harmloseren Anwendungsbereichen“als „heilige‘ Pflanzen wieder auftauchen, wie z. B. das Johanniskraut (vgl. Beckmann, Beckmann, 1998, S. 18).

Zurichtung und Verlust

Frauen verdanken den modernen Naturwissenschaften eine unheimlichen Zugriff auf den weiblichen Körper (Stichwort Reproduktionstechnologie). Die modernen Naturwissenschaften ermöglichten die Entwicklung der modernen Medizin, wie wir sie heute kennen. Die moderne Medizin trennte sich gleich zu Beginn von der Kräuterkunde und diese Kluft besteht bis heute – nicht zum Vorteil von Frauen. Die damalige Unterdrückung von Kräuterwissen spiegelt die zunehmende Unterdrückung von Frauen, besonders hinsichtlich ihrer Möglichkeiten der Geburtenregelung, wider. Frauen und Natur wurden durch die modernen Naturwissenschaften gleichermaßen abgewertet, um sie mehr und mehr beherrschen zu können (vgl. Merchant, 1987).

Mit der Zuordnung der Frau zur Natur begann jedoch auch die Entzweiung der Frauen von der Natur. Heute stehen Frauen sozusagen dazwischen – der Natur entzweit, jedoch nicht heimisch in Technopatria (vgl. Thürmer-Rohr, 1999).
Die Geschichte des Beifuß ist auch ein Stück Geschichte über die Zurichtung von Frauen im modernen Patriarchat. Die Kenntnis davon betrachte ich als notwendig – notwendig, um nicht einem naiven Glauben an die „Segnungen“ der Modernisierung zu erliegen. Andererseits läßt die Geschichte jedoch keine einfache Identifikationssuche in der Vergangenheit zu. Sie läßt keine einfachen Schlüsse zu.

Kräuterkunde kann unsere Verstricktheit mit dem modernen Patriarchat nicht auf direktem Weg auflösen. Kräuterkunde kann so einfach keine umfassende Perspektive der „Befreiung“ begründen.
Ich habe jedoch von Liz gelernt, daß die Beschäftigung mit Kräuterkunde, das Sammeln und Verarbeiten von Kräutern, ein wichtiger Beitrag zu einem produktiven Verhältnis zur Natur ist. Ein produktives Verhältnis zu Natur ist Teil unserer Lebensgrundlagen. Gleichzeitig fordert Kräuterkunde zum Nachdenken über einen zuträglichen Alltag auf. Und sie ist ein Teil Kulturgeschichte der Natur, die moderne Abwertungen und Umdeutungen sichtbar macht.
Oder hätten Sie gewußt, wie viele Wirkungen in den drei vermeintlichen Unkräutern stecken?
Liz hat mich mit ihrem enormen Wissen und ihrer Freude an Kräuterkunde sehr beeindruckt. Ihr umfangreiches Wissen kommt in diesem kurzen Beitrag nicht annähernd zum Ausdruck. Ihrem Wissen wird sie selbst Ausdruck verleihen, denn sie zieht in Betracht, ihre Kenntnisse aufzuzeichnen und zu veröffentlichen. Darauf freue ich mich.

Literatur:
BECKMANN, Dieter, BECKMANN, Barbara (1998): Das geheime Wissen der Kräuterhexen. Alltagswissen vergangener Zeiten. 2. Auflage. München.
BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika, MIES, Maria (1997): Eine Kuh für Hillary. Die Subsistenzperspektive. München.
BOWN, Deni (1998): DuMont’s Große Kräuterenzyklopädie. Köln.
OBERDORFER, Erich (1994): Pflanzensoziologische Exkursionsflora. 7. Auflage. Stuttgart.
KLUGE, Friedrich (1989): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage. Berlin, New York.
MERCHANT, Carolyn (1987): Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft. München.
THÜRMER-ROHR, Christina (1999): Vagabundinnen. Feministische Essays. Frankfurt am Main.

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