Artikel

Ein Centre Pompidou für die Bretagne
Neue Zürcher Zeitung

Christian de Portzamparcs Kulturkomplex in Rennes

In Rennes wurde am vergangenen Dienstag der von Christian de Portzamparc entworfene Kulturkomplex Les Champs libres eröffnet, der mehrere Institutionen unter einem Dach vereint. Ein Wahrzeichen für die Hauptstadt der Bretagne - und für die bretonische Identität.

31. März 2006 - Marc Zitzmann
Ehrgeiz oder Grössenwahnsinn? Mit 212 500 Einwohnern ist Rennes nicht nur eine der kleinsten Städte der Welt mit einer Metro, dem 2002 in Betrieb genommenen VAL. Die Hauptstadt der Bretagne nimmt mit dem letzten Dienstag eröffneten Kulturkomplex Les Champs libres auch explizit Bezug auf zwei der spektakulärsten Kulturbauten des späten 20. Jahrhunderts: das Pariser Centre Pompidou und das Guggenheim- Museum Bilbao. Der Vergleich mit der baskischen Hafenstadt hinkt freilich. Rennes mag seine Probleme haben: Wegen des starken Bevölkerungswachstums wird der Raum knapp und verstärkt sich die soziale Segregation, der Alkoholkonsum vieler bretonischer Jugendlicher ist besorgniserregend . . . Aber mit einer Arbeitslosenrate von bloss 8 Prozent, weit unter dem Landesschnitt, läuft der Wirtschaftsmotor auch ohne katalysierenden Bilbao-Effekt auf Hochtouren.

Drei Institutionen unter einem Dach

Triftiger ist der Vergleich mit dem Centre Pompidou. Wie in diesem wohnen auch in den Champs libres mehrere Institutionen unter einem Dach. Anders jedoch als Renzo Piano und Richard Rogers in ihrer 1977 fertiggestellten Architektur- Ikone erhebt Christian de Portzamparc diese Koexistenz zum wichtigsten Gestaltungsprinzip seines Kulturkomplexes. So sind die drei neuen Nachbarn schon von aussen klar zu unterscheiden: Das Musée de Bretagne bildet einen rechteckigen, fast fensterlosen Sockel über dem verglasten Erdgeschoss, welchen der von einem Dom überragte Konus des Espace des sciences und die fünfeckige umgekehrte Pyramide der Bibliothèque de Rennes durchstossen. Gemahnt das Museum von aussen an die Steinplatte eines Dolmens, dessen rosagraue Betonverkleidung den Granit der Felsküste evoziert, so verweisen die 16 000 Zinkschuppen des Wissenschaftszentrums auf die Schieferdächer der Stadt, während sich die auf drei Seiten verglaste Bibliothek mit ihrer weiss lackierten Aluminiumhaut ganz zeitgenössisch gibt.

Auch in der Empfangshalle stossen heutig- kühle Grautöne und das Altrot des regionaltypischen Schiefersteins aufeinander. Charakteristisch für Portzamparc, den Architekten der Pariser Cité de la musique, ist die Gestaltung der weitläufigen Halle als ein Stadtviertel en miniature. Durch einen der drei Eingänge kommend, spaziert der Besucher an den Gebäuden der Bibliothek und des Wissenschaftszentrums vorbei zu einer bunt-fröhlichen kleinen Bibliothek und zum verzauberten «Laboratoire de Merlin» für Kinder oder zu einem Medienraum mit Internetzugang, Fernsehern und 220 Periodika. Auch dank der Arbeit des Grafikers Ruedi Baur, des Leiters des Instituts für Designforschung der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich, vermag man sich auf Anhieb zu orientieren. Die Logos und Informationstafeln bringen überdies den dringend nötigen Schuss Farbe und Verspieltheit in den sonst etwas strengen Bau.

Die Champs libres warten mit modernster Technik auf. So bietet das Wissenschaftszentrum neben einem der Geologie gewidmeten Saal, dessen Erdbebensimulator Kinder von 7 bis 77 Jahren begeistern dürfte, ein digitales Planetarium mit einem halbkugelförmigen Bildschirm von 14 Metern Durchmesser. In der Bibliothek ist der Verleih der 190 000 frei zugänglichen Bände voll automatisiert: Der Benutzer nimmt ein Buch aus dem Regal, führt es unter ein Gerät, das den Titel registriert, und legt es nach der Lektüre einfach in eine Box im Erdgeschoss zurück - ab Oktober wird sogar ein Roboter die Rückgaben sortieren. Die Bibliothekare können sich so auf Information und Beratung konzentrieren.

Die sechs Stockwerke, auf denen je eine Abteilung untergebracht ist, sind alle gleich strukturiert: am Eingang der Empfangsschalter und das Gerät für die Identifikation der Bücher; dahinter die grauen Regale, deren geringe Höhe auf Klaustrophobiker beruhigend wirken dürfte; zur Fensterfront hin die Lesetische mit Blick auf die Esplanade Charles-de-Gaulle. Im Rahmen der Umgestaltung des Bahnhofsviertels wird der vordem oberirdische Parkplatz bis 2008 unter den Platz verlegt, an welchen der renovierte Saal für Massenspektakel «Le Liberté», ein neuer Multiplex mit 13 Sälen von Portzamparc sowie zwei öffentliche Gebäude angrenzen werden.

Wahrzeichen der bretonischen Identität

Den ersten Stock der Champs libres bildet ein Gefüge von Plattformen und Stegen, das um die Bibliothek und das Wissenschaftszentrum mäandert. Hier breitet sich über 1900 Quadratmeter die Dauerausstellung des Museums aus. «Bretagne est Univers» entwirft mit Hilfe von 2300 Exponaten einen detaillierten Abriss der Geschichte der Region vom Paläolithikum bis zur Jetztzeit. Gezeigt werden neben kunsthandwerklichen Arbeiten wie der berühmten «Brigitte», einer gallo-römischen Statuette, auch Alltagsgegenstände wie Mobiliar, Geschirr und Kleider. Der folkloristische Aspekt tritt klar zurück zugunsten der Didaktik und - dank Elizabeth de Portzamparcs eleganter Szenographie - auch der Ästhetik. Das Musée de Bretagne ist alles andere als ein Kuriositätenkabinett von bloss lokalem Interesse - es beleuchtet, so sein Chefkonservator, Jean-Paul Le Maguet, im Gespräch, «das Werden einer Region aus einer europäischen Perspektive».

Das Thema der bretonischen Identität wird in den Champs libres auf vielfältige, auch für auswärtige Besucher ansprechende Art und Weise aufgefächert. Das Wissenschaftszentrum zeigt die Formung der Landschaft, insbesondere des armorikanischen Gebirges. Die Bibliothek konserviert das erste lateinisch-bretonisch-französische Wörterbuch aus dem Jahr 1499. Und das Museum zeigt in zwei grossen Sälen Wechselausstellungen zu im weitesten Sinne regionalen Themen - so Ende April ein Panorama der florierenden bretonischen Comicszene. Derweil im 450 Plätze fassenden Konferenzsaal der Historiker Maurice Olender über Rassismus und der Drei-Sterne- Koch Olivier Roellinger über Gastronomie sprechen werden.

Kulturelle Schätze

Rennes besitzt noch andere Institutionen von überregionaler Bedeutung. Die Oper, die trotz bescheidenen Mitteln auch Raritäten wie «L'Isola disabitata» von Joseph Haydn aufs Programm setzt. Das von Catherine Diverrès geleitete Tanzzentrum und das Théâtre national de Bretagne, wo Matthias Langhoff, Stanislas Nordey, François Tanguy und Marcial Di Fonzo Bo regelmässig ihre Arbeiten präsentieren - das Haus gibt sich dezidiert (und bisweilen etwas gewollt) modern. Nicht zu vergessen das wegen eines Gemäldes, Georges de La Tours «Nouveau-né», bekannte Musée des Beaux-Arts, das auch mit bedeutenden Werken von Lubin Baugin, Veronese, Rubens, Corot, Gauguin sowie vor allem mit einer erstklassigen Sammlung von Zeichnungen und mit zwei schönen Stillleben von Chardin aufwartet. Aber bis auf eine Sektion über die Schule von Pont-Aven im Kunstmuseum und bis auf das Ecomusée La Bintinais, das die Geschichte eines Grossbauernhofs nachzeichnet, war das genuin Bretonische in Rennes bisher nur am Rande vertreten. Les Champs libres schliessen hier eine Lücke - und verschaffen der Hauptstadt der Bretagne zugleich ein Wahrzeichen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: