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Wer Kirchengebäude retten will, muss Umnutzungen tolerieren
Neue Zürcher Zeitung

Zahlreichen deutschen Gotteshäusern drohen Profanierung und Schliessung - der Abriss aber schreckt selbst kirchenferne Kreise

Finanznöte haben längst auch die Volkskirchen erreicht. Notgedrungen beginnen Gemeinden, sich von Bauten zu trennen. Zur Rettung der Kirchen empfiehlt sich die Umnutzung, jedoch stösst diese an theologische, ethische oder kulturelle Grenzen.

24. April 2006 - Joachim Güntner
In Berlin liegt Schnee, die Luft ist frostig, als wir der Kirche zum Heiligen Kreuz zustreben. Montags schwingen dort Senioren das Tanzbein. Und mittwochs werden während der kalten Jahreszeit in der Wärmestube Essen und Kaffee ausgegeben. Mancher hier im Stadtviertel Kreuzberg, wo viele Menschen auf der Strasse leben, ist dankbar für das Angebot einer warmen Mahlzeit. Wohl an die 120 Leute hat Pfarrerin Dagmar Apel heuer gezählt. Auch die Haare kann man sich schneiden lassen. Die Kirchengemeinde holt regelmässig einen Friseur ins Gotteshaus. In den Räumen, die nach dem Umbau im Obergeschoss entstanden sind, erhalten Flüchtlinge und Asylsuchende Rechtsberatung. Dort befinden sich auch die Büros der Mitarbeiter. Im Gemeindehaus konnten sie nicht bleiben; die Immobilie wurde zugunsten eines Hauses für obdachlose Männer aufgegeben.

Kiez-Kirche, City-Kirche, Kulturkirche - mit diesen Bezeichnungen verbindet sich eine wachsende Zahl alternativ genutzter Kirchenbauten in Deutschland. Berlins Kirche zum Heiligen Kreuz gilt als eines der gelungenen Exempel. Dem evangelischen Gotteshaus kam zupass, dass seine Leitung bereits in den 1980er Jahren vor der Frage stand, entweder zu resignieren oder einen radikalen Neuanfang zu probieren. 1995 waren alle wesentlichen Umbauten abgeschlossen. Der neugotische Backsteinbau aus wilhelminischer Zeit hatte einen freistehenden Liftturm sowie Einbauten aus Stahl erhalten, namentlich Treppen und eine Galerie. Vor allem aber führte man religiöses Leben und Diakonie, die sich sehr auseinander entwickelt hatten, wieder zusammen. Zuvor war der Gottesdienst gegenüber dem sozialen Engagement ins Hintertreffen geraten; die Kirche, verglichen mit dem Gemeindehaus, schien verwaist. Nach dem Umbau lebte sie auf. Zum sonntäglichen Gottesdienst, zu Taufen, Trauungen, Konfirmationen und den Feiern des kirchlichen Jahres gesellten sich Konzerte, Liederabende, Lesungen. Mittlerweile gibt es Eltern-Kind-Kreise in ihren Mauern, Meditationsgruppen, Kurse in richtigem Atmen und für Laienschauspieler. Handwerker kommen in der Kirche zur rituellen Freisprechung zusammen, Berlins Diakonie hält hier ihre Hauptversammlung ab.

Historisch ist die Multifunktionalität einer Kirche nichts Neues. Erst im Laufe der Geschichte und dann vollends im 19. Jahrhundert wurden die Kirchen zu exklusiven Orten des Gottesdienstes. Die mittelalterlichen Kirchen hingegen dienten nicht nur der Liturgie, sondern auch als Versammlungsort für die Bürgerschaft oder die Zünfte. Ulms monumentales Münster ist ja von der Bürgerschaft errichtet worden, nicht von irgendeinem Domkapitel. Mittelalterliche Kirchen besassen noch keine feste, die Nutzbarkeit einschränkende Bestuhlung. Sakrale und profane Handlungen teilten sich den Raum. In den Türmen wurde Gericht gehalten, und das Läuten der Glocken bei Feuer war kein kirchlicher, sondern ein städtischer Dienst. Noch heute unterstehen deswegen viele Kirchtürme einer Stadt oder Kommune.

Ökonomischer Druck

Die historisierenden, oft im neugotischen Stil gehaltenen Grosskirchen, die mehr als tausend Besuchern Platz boten, waren eine Antwort auf die Bevölkerungsexplosion in den Städten des 19. Jahrhunderts. Manche Gemeinden zählten bis zu hunderttausend Köpfe, nannten mehrere Kirchen ihr eigen und mussten durch Teilung verkleinert werden. Heute stehen die christlichen Volkskirchen in Deutschland vor einer ins Gegenteil verwandelten Situation. Sinkende Geburtenraten (unter Protestanten noch deutlicher als bei Katholiken) und Kirchenaustritte sorgen seit Jahrzehnten für Mitgliederschwund. Eine hohe Arbeitslosigkeit und Reformen der Einkommenssteuer schlagen negativ auf das Aufkommen der Kirchensteuer durch.

Der ökonomische Druck ist enorm. Vor die Wahl gestellt, diakonische und seelsorgerische Dienste zu beschränken oder Gebäude aufzugeben, lavieren die Bischöfe. Kirche ist keine Institution, die leichten Herzens Personal entlässt. Also stellt man, was auch ein Desaster birgt, vorerst nur keine neuen, jungen Kräfte ein. Im Umgang mit Gebäuden gilt die Devise: lieber ein Gemeindehaus oder Bauten der Diakonie schliessen als eine Kirche veräussern. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte nicht nur ein Boom im Neu- und Wiederaufbau von Kirchen eingesetzt, es hatte sich auch das Wirken der Gemeinde institutionell differenziert: Man zog aus der Kirche aus und in neugeschaffene Gemeindehäuser und Verwaltungsgebäude ein. Dieser Trend erfährt jetzt eine Umkehrung. Kirchen öffnen sich für zusätzliche, meist kulturelle Nutzungen und holen zugleich das Gemeindeleben in ihre Mauern zurück. Die Büros und Dienste werden, wie am eingangs geschilderten Kreuzberger Beispiel gut zu sehen, wieder direkt in der Kirche angesiedelt. Revidiert wird auch der Zuschnitt der Gemeinden. Das Bistum Essen, das sparen muss wie kaum ein anderes in Deutschland, will jeweils fünf bis sieben Gemeinden zu einer Grosspfarrei zusammenfassen.

Strukturelle Reformen mögen den Kirchen helfen, doch ihr Gesamtbestand wird sich keinesfalls retten lassen. Im Januar 2006 meldete Radio Vatikan, das Bistum Essen müsse ein Viertel seiner Kirchen schliessen. Kirchgänger klagen bisweilen über die Gleichgültigkeit, mit welcher manche Gemeindemitglieder die drohende Schliessung ihres Gotteshauses hinnehmen. Alle Indifferenz aber hört sofort auf, wenn der Abriss historischer Kirchen ansteht. Die Lücke, die dann offenbar nicht nur im Stadtbild, sondern auch im Gemüt gerissen zu werden droht, schmerzt selbst gänzlich säkulare Geister. Eine Entsprechung dazu bietet der Jubel, der bei der Einweihung von Dresdens wiederaufgebauter Frauenkirche ertönte: In ihn stimmten auch kirchenferne Kreise ein. Aus Sentimentalität? Anscheinend befriedigen zumal historische oder historisch anmutende Kirchengebäude ein Bedürfnis nach Heimat, nach Landmarken in Zeit und Raum, nach Historie im raschen Wandel der Gegenwart, vielleicht auch nach einem Mahnmal der Transzendenz inmitten der funktionalen Diesseitigkeit moderner Städte. Kulturpsychologisch ist dieses Phänomen kaum ausgelotet.

Kein Muezzin im Glockenturm

Im September 2003 gab das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz eine «Entscheidungshilfe» heraus, um Riten allfälliger Profanierung von Kirchen sowie Kriterien und Grenzen möglicher Umnutzung zu beschreiben. Der Abriss gilt als Ultima Ratio, der Verkauf als unerwünscht, aber bisweilen unvermeidlich. Um keine Illusionen über den Ernst der Lage aufkommen zu lassen, verweist man auf die «seit den 1950er Jahren kontinuierlich rückläufige Zahl der allsonntäglichen Gottesdienstteilnehmer von fast 12 Millionen auf inzwischen rund 4 Millionen». Trotz diesen Nöten verzichtet die Handreichung nicht auf die Formulierung von Vorlieben: Die Übernahme von Kirchenräumen durch die öffentliche Hand sei dem Verkauf an Private vorzuziehen, und lieber möchte man der Kultur eine Stätte bieten als dem Kommerz. Auch sollten Mischnutzungen in Erwägung gezogen werden, «die der Würde des Raumes Rechnung tragen».

Was die Grundmelodie angeht, unterscheiden sich die Umnutzungskriterien der katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland nicht wesentlich voneinander. Ein rotes Tuch für beide ist die Übergabe von Gotteshäusern an Muslime. Die katholischen Bischöfe schliessen «wegen der Symbolwirkung» und aus «Rücksicht auf die religiösen Gefühle der katholischen Gläubigen» eine kultische Nutzung durch nichtchristliche Religionsgemeinschaften generell aus. Die Protestanten können sich zumindest jüdische Gemeinden als gemeinschaftliche Nutzer ihrer Kirchen vorstellen. Allerdings haben sie einst schon - vor dem 11. September 2001 - liberaler gedacht. Mittlerweile jedoch bremst die Idee vom Clash of Civilisations den interreligiösen Dialog und die Bereitschaft, Andersgläubigen das Haus zu öffnen. Dabei ist den Oberen beider Konfessionen sehr wohl klar, dass, wer den Abriss verhindern will, für die Nutzung plädieren muss.

Viele Kirchen haben ja doch nur deshalb die Zeitläufte überdauert, weil sie zwar zweckentfremdet, aber doch immerhin genutzt worden sind. Kriege und die Aufhebung von Klöstern, vor allem die Folgen der Säkularisation nach 1803 machten aus Kirchen Bibliotheken, Versammlungs-, Ausstellungs- und Konzertsäle, Verwaltungseinrichtungen, Wohnungen, Gaststätten, Lagerhallen, Hörsäle. So blieben sie erhalten. In der Trierer Abteikirche St. Maximin wird seit einem Jahrzehnt Korbball gespielt und geturnt; benachbarte Schulen verwenden sie als Sporthalle. Die noch immer für Gottesdienste genutzte Stadtpfarrkirche Müncheberg beherbergt heute zusätzlich die Stadtbücherei und vermietet im Obergeschoss einen Sitzungssaal, hat eine Küche und Toiletten einbauen lassen und offeriert «Komplettservice» für Feiern, Tagungen, Galas, Modenschauen.

Wo liegen die Grenzen, zumal für kommerzielle Nutzung? Der bischöfliche Hinweis auf Bordelle, die es keinesfalls hinter Kirchenmauern geben dürfe, ist banal. Wie sieht es etwa mit Auto-Präsentationen aus? «Machen wir nicht», sagt Pfarrerin Apel von der Kirche zum Heiligen Kreuz in Berlin. Und Modenschauen? «Kommt auf den Einzelfall an», meint ihr Mitarbeiter. Auf eine Gewissensprobe stellte die Gemeinde ein Grossunternehmen, das die Kirche für eine publizitätsträchtige Kulturveranstaltung mieten wollte. Höchste politische Prominenz sollte zugegen sein. Weil aber die Firma mit der Rüstungsindustrie verbandelt sei, habe man ihr schliesslich doch eine Absage erteilt. Man hört heraus: Es ist der Kirche schwer gefallen.

Die Nachkriegsmoderne im Kirchenbau - zu Unrecht geschmäht

Matthias Ludwig ist Assistent des evangelischen Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart in Marburg. Wir fragten ihn, ob es symptomatisch sei, dass der Abriss vor allem Bauten der fünfziger oder auch sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts bedrohe.

Das lässt sich leider so generalisieren. Die Gemeinden entscheiden sich in den meisten Fällen, wenn sie zwei oder drei Gebäude besitzen und nur eines noch unterhalten können, für das älteste, die «Mutterkirche». Beim ersten Abriss, den jetzt Frankfurt erfuhr, dem der Heilandskirche im Stadtteil Bornheim, war das nachvollziehbar, da die verschonte Mutterkirche aus dem 18. Jahrhundert stammt und historisch wertvoll ist. Doch auch die Heilandskirche hatte ihren Wert; leider sind die Kirchenbauten aus den fünfziger und sechziger Jahren wenig geliebt.

Aber jene Jahre waren ja nicht einfach eine Bauboom-Phase, sondern Zeiten, in denen namhafte Architekten Kirchen gebaut haben.

Richtig. In meiner Jugend habe ich bei einem Kunstlehrer noch gelernt, gerade die Kirchen des 19. Jahrhunderts nicht zu lieben. Diese Geringschätzung ist längst umgeschlagen, der Denkmalschutz trägt sein Teil dazu bei. Gut so; viele jener Kirchen des Historismus sind Schätze. Aber die Kirchen der fünfziger und sechziger Jahre sind das auch. Die architektonische Moderne des 20. Jahrhunderts hat bewusst mit dem Historismus gebrochen. In den Siebzigern wurde gar die Bescheidenheit Programm: Statt Kirchen entstanden Gemeindezentren. Auch unter ihnen gibt es bedeutende Anlagen namhafter Architekten, städtebaulich gut konzipiert und heute hochgradig gefährdet.

An welche Architekten denken Sie?

Die abgerissene St.-Raphael-Kirche in Berlin zum Beispiel, an deren Stelle jetzt ein Supermarkt entsteht, war von Rudolf Schwarz. Er und Dominikus Böhm, von dem mehrere Kirchen im Ruhr- Bistum gefährdet sind, waren die Väter der kirchlichen Moderne auf katholischer Seite, ganz grosse Namen. Evangelischerseits fallen mir spontan Otto Bartning und Martin Elsässer ein. Eine Kirche, die im Ruhr-Bistum zu jenen 96 zählt, denen ab 2007 kein Bauunterhalt mehr gewährt wird, ist die Heilig-Kreuz-Kirche in Bottrop. 1955-57 nach Plänen von Rudolf Schwarz gebaut, mit einer riesigen Glaswand von Georg Meistermann, ein ungemein eindrucksvolles Bauwerk der Epoche.

In Duisburg ist St. Anna gefährdet, eine ganz frühe Nachkriegskirche, auch von Schwarz. Des weiteren gehören Kirchen der zwanziger und dreissiger Jahre zu denen mit ungewisser Zukunft, beispielsweise St. Engelbert in Essen von Dominikus Böhm. Sein Sohn Gottfried, Architekt skulpturaler Betonkirchen und gleichermassen bedeutend, ist ebenfalls von mehreren Kirchenschliessungen betroffen.

Können Sie auf evangelischer Seite Beispiele ähnlich akuter Gefährdung nennen?

In Hamburg wären dies etwa Kirchen von Friedhelm Grundmann, der in der Nachkriegszeit bis in die siebziger Jahre hinein sehr viele Kirchen gebaut hat. Oder ein Gemeindezentrum von Lothar Kallmeyer in Duisburg. Oder Bauten von Helmut Striffler, einem Schüler von Egon Eiermann. Striffler hat die Versöhnungskirche im Lager Dachau gebaut und die sehr bedeutende Trinitatiskirche in Mannheim, wirklich ein Juwel des Übergangs der fünfziger, sechziger Jahre, das heute gefährdet ist.

Ihr Schicksal ist noch nicht entschieden?

Viele der genannten Gebäude hängen in der Schwebe. Für andere, wie St. Johannes Capistran in Berlin-Tempelhof, gebaut von Reinhard Hofbauer, einem ebenfalls bedeutenden Nachkriegsarchitekten, scheint die Entscheidung gefallen. Das geht bis in ländliche Räume. In Altena in Westfalen z. B. wurde die Paul-Gerhardt-Kirche abgerissen. Und es betrifft Kirchen, die keineswegs baufällig sind, die man aber abreisst, um die Grundstücke zu verwerten und damit noch etwas Geld in die klamme Kasse zu bekommen. Oft allerdings kommt der Abriss teurer als der Ertrag.

Gegen den Abriss lässt sich theologisch argumentieren: Die Kirche wird unsichtbar, und das hat Folgen für das Leben der Gemeinde. Aber auch Architekturhistoriker sind entsetzt.

Bei den bedrohten Kirchen der Nachkriegszeit müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht der Bauten einer wichtigen Epoche entledigen. Es sind architektonische, auch kulturelle Schätze, Ausdruck eines gesellschaftlichen Verständnisses von Kirche in der Nachkriegszeit. Oft, darin liegt ein Problem, werden diese Kirchen nicht mehr verstanden, oder Menschen wollen sie nicht mehr verstehen. Vierzig, fünfzig Jahre sind ins Land gegangen, und die gesellschaftliche Situation hat sich gewandelt - zugleich ist aber der Abstand noch nicht so gross, dass wir die Nachkriegsbauten anblicken wie die Juwelen des 19. Jahrhunderts, die ihrerseits noch in den sechziger Jahren kühl, wenn nicht ablehnend betrachtet wurden. Damals hatte man kein Problem damit, etliche von ihnen radikal umzubauen. Das war kaum anders als bei den historistischen Profanbauten, die in grosser Zahl verändert oder gar abgerissen worden sind. Aber die Bauten jener Jahrzehnte nach dem Krieg sind oft schon des Denkmalschutzes wert, auch wenn sie noch nicht auf seinen Listen stehen. Der Denkmalschutz allein kann sie aber nicht halten. Es müsste schon eine breite Bewegung kommen, die betont, dass diese Gebäude, und das gilt nicht nur für Kirchen, für unsere Identität wichtig sind.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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