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Lotusblüte auf Betonsockel
Neue Zürcher Zeitung

Wohntürme, Quallensalat: Chinatown

31. Mai 2006 - Marc Zitzmann
«Zur Porte de Choisy?», mault der Taxifahrer. «Unmöglich! Schon zu Normalzeiten ist da alles verstopft - jetzt erst recht, wo sie das Tram bauen! Dazu diese Chinesen überall auf der Strasse!» Fazit des sinophoben Maghrebiners, der vom Autofahren lebt: Man frage sich, wer auf die Schnapsidee gekommen sei, das Automobil zu erfinden . . . Die Antwort findet sich wenig später: Es waren nicht die «Chinesen», sondern René Panhard und Emile Levassor. So zumindest steht es auf einem Schild am Eingang des Ziegelsteinbaus mit Sheddach am Ende der Avenue d'Ivry: «Ici nacquit l'industrie automobile en 1891.»

Die Firma Panhard-Levassor beschäftigte 1905 rund 1500 Arbeiter auf ihrem riesigen Fabrikgelände zwischen den heutigen Avenues d'Ivry und de Choisy. Heute sind die längst nicht mehr produzierten Modelle begehrte Sammlerstücke - die «Société de constructions mécaniques Panhard-Levassor» hat sich auf die Herstellung von Panzerfahrzeugen verlegt. So geht die Welt. Welcher der Stadtplaner, die ab 1965 das Viertel tiefgreifend umgestalteten, hätte imaginieren können, was heute daraus geworden ist? Damals wurden allenthalben hohe Wohntürme errichtet - doch die anvisierten Bewohner, «moderne» Jungfamilien aus dem mittleren und oberen Kader, blieben aus. Dafür strömten nach dem Fall von Saigon Zehntausende von oft chinesischstämmigen Flüchtlingen aus Vietnam, Kambodscha und Laos nach Frankreich - allein bis 1979 waren es 145 000. Ein Teil von ihnen zog in die halb leerstehenden Wohntürme des 13. Arrondissements.

Chinatown - oder eher: Indochinatown - ist ein faszinierendes Studienobjekt für Soziologen und Urbanisten. Quasi in Reinkultur lässt sich hier beobachten, wie eine Bevölkerungsgruppe sich ein Viertel aneignet, das für ganz andere bestimmt war. Das «Village des Olympiades» etwa wurde 1970 bis 1977 nach den Prinzipien von Le Corbusiers «Charta von Athen» erbaut: zehn bis zu 34-stöckige Wohntürme auf einem acht Meter hohen Betonsockel, unter dem Fahrbahnen hindurchführen. Doch alles hier wurde zweckentfremdet. Auf dem Sockel steht eine Pagode, in einer der unterirdischen Strassen findet sich ein Buddha-Tempel. Und der Güterbahnhof, wo früher die Einzelteile der Panhard-Automobile her- und die montierten PKW abtransportiert wurden, dient heute gar als unterirdischer Grossmarkt für exotische Produkte. Ein Dekor wie für einen Film noir: grasbewachsene Gleise führen von einem stillgelegten Tunnel zum schwarz gähnenden Eingang des Markts unter dem Betonsockel; zu Arbeitszeiten herrscht hier emsiges Gewusel.

Trotz der Vielzahl von Boutiquen, Supermärkten und Restaurants mit fernöstlichen Schriftzeichen wirkt Chinatown in Sachen Architektur und Urbanismus kaum «asiatisch». Sitzt man freilich im «Impérial Choisy» und labt sich an Quallensalat und frittiertem gehäutetem Krebs, stellt sich die Frage nach der Authentizität nicht mehr. Selbst wenn um einen herum neben schmatzenden Schlitzaugen auch schwarze Stups-, arabische Adler- und lateinische Langnasen dinieren . . .

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