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Der Zeitgeist heißt Sport
Der Standard

Das Stadion ist die Linse, die das große Geschäft mit Sport und Leidenschaft konzentriert. Die Arenen der Zukunft werden die neuen Wahrzeichen der Städte werden.

3. Juni 2006 - Ute Woltron
Brasilianisches Fußballmeisterschaftsfinale im Sommer 1980: Die Nacht hat knapp 40 Grad. Die Straßen von Rio de Janeiro sind menschenleer: Flamengo tanzt gegen Fluminense. Das Maracana ist zu diesem Zeitpunkt das größte Fußballstadion der Welt. Unten auf dem Rasen laufen 22 austrainierte Männer im Flutlicht dem Ball nach. Wir hier oben sind 200.000 Stimmen stark. Zweihunderttausend Menschen, gut 20.000 mehr, als das Stadion eigentlich fassen dürfte, sind hergepilgert, um Kickern wie Zico zu huldigen, wenn sie Tore schießen.

Der Fla-Flu von 1980 bleibt Legende. Erstens, weil Flamengo, der Club der Schwarzen und der Arbeiter, wieder einmal die Wohlstandsburlis von Fluminense paniert und vierfacher brasilianischer Meister wird. Zweitens, weil später nie wieder eine derartige Menschenmasse live dabei sein wird, wenn Fußball gespielt wird.

Live, das bedeutet heute vor dem Fernseher zu sitzen. Damals hieß es, dabei gewesen zu sein. Die Welt der Stadien und des Sports verändert sich rasant, und die nackten Betonarenen - wie es das Maracana (1950) damals eine war - sind Vergangenheit. Sie gehören, so der Australier Rod Sheard, der ersten, quasi archaischen Generation von Stadien an. Heute, ein Vierteljahrhundert später, steuern wir bereits auf die fünfte Stadien-Generation zu. Doch der Reihe nach.

Rod Sheard ist einer der Leithammel von HOK Sports Architects, dem weltweit führenden Sportarenenbauer mit Zentralen in Kansas, London, Brisbane: 350 Mitarbeiter stark, seit 28 Jahren auf dem Sportstättenmarkt aktiv, bis dato haben die HOK-Architekten und Ingenieure rund 800 Projekte realisiert. Er selbst gilt als die Spürnase für neue Trends in Sachen Sportstadien, und um Investoren, Clubs und Stadtregierungen die Sinnhaftigkeit des Archetyps Stadion verständlich zu machen, hat er die Fünf-Generationen-Theorie ausgearbeitet und unter anderem in dem Buch The Stadium. Architecture for the New Global Culture (Periplus Editions, 2005) niedergeschrieben. Denn der Sport, so Sheard, ist die neue globale Währung. Sieg bringt Gewinn, und kein anderer Gebäudetypus konzentriert mehr Aufmerksamkeit auf sich als das Stadion.

Die erste Stadiengeneration etablierte sich ab Ende des 19. Jahrhunderts und war nichts anderes als die große Auffangschüssel für möglichst viele Zuschauer. Das Fernsehen war noch nicht erfunden, der Sport finanzierte sich über den Ticketverkauf. Die Stadien waren groß, aber unbequem. Eines der schönsten Beispiele: Pier Luigi Nervis Stadio Communale in Florenz (1932), eine hochelegante Betonschüssel, in der Sprache der Moderne gegossen.

Als ab den 50er-Jahren das Fernsehen in den Wohnzimmern Einzug hielt, gab es für die Fans keine gesteigerte Veranlassung mehr, sich auf die kalten, zugigen Ränge zu begeben. Die Stadien mussten, wollten sie wieder Zuschauer anlocken, in ein Mindestmaß an Komfort investieren. Die zweite Generation zeichnete sich also durch vorher unbekannte Features wie ordentliche Toilettenanlagen, Würstelstände und Bierbuden aus. Die extravaganteste Ausformung dieser Stadiongeneration bauten Frei Otto und Günther Benisch 1972 mit dem netzüberspannten Olympiastadion in München.

Doch dann tauchte mit Disneyland eine neue, familienfreundliche Massenunternehmung auf, von der sich die Stadienbauer mit einiger Zeitverzögerung einiges abschauen konnten. Das Stadion schlug in den 80er-, 90er-Jahren seinen Weg in Richtung Themenpark ein, wo nicht nur dem Sportevent gehuldigt, sondern Familienausflug veranstaltet werden konnte. Erforderlich dafür: bequeme Sitze, Überdachungen, Beleuchtung, Restaurants, Shops - und maßgeblich erhöhte Sicherheit.

Die vierte Stadiongeneration ist jene, die wir in den kommenden Wochen während der Fußball-WM über TV-Bilder genüsslich konsumieren werden: Das Stadion ist zu einer Linse geworden, einer Lupe, die das Geschehen im modernen Hexenkessel einfängt und via TV-Satellit und Internet ohne Zeitverzögerung rund um den Globus auf Knopfdruck wieder ausspuckt. Das Stadion der vierten Generation ist ein hoch technologisiertes, enormes Fernseh- und Medienstudio, ein multifunktionales Gebäude mit Lounges, Restaurants, Veranstaltungshallen, VIP-Zonen. Ein 365 Tage pro Jahr bespieltes Sportkraftwerk, mit dem mächtig Geld produziert wird.

Die Allianz Arena in München von Herzog & de Meuron ist der derzeitige Prototyp dafür, und typisch für einen Prototyp zeigt er noch gröbere Schwächen. Die haben mit der durch die kalte Architektur gestörten Symbiose zwischen Fans und Kickern zu tun. Nach dem Eröffnungsmatch 2005 schrieb Dirk Kurbjuweit im Spiegel: „In der Allianz Arena hat sich die Welt des Geldes vom Rest abgeschottet. In den alten Stadien waren die VIPs Gäste in der Welt der Fans, die das ewig Heikle ihrer sozialen Lage in Leidenschaft umsetzen konnten. Die Allianz Arena mit ihren Logen, Lounges, Business- und Sponsoren-Bereichen sowie der Ladenzeile macht die Fans allmählich zu Gästen in der abgeklärten Welt der VIPs. Anders gesagt: Sie werden zu stürmischen Clowns im Fußballzirkus, zum Teil eines Unterhaltungsprogramms für die Business-Class.“ Und Fußballjournalist Stefan Erhardt beschrieb in Der tödliche Pass die Stimmung der Fans nach dem Match: „Drückt eure Kohle ab, und verschwindet, aber plötzlich! So die Botschaft. Die Botschafter: die Arenen-Erbauer, die Arenen-Betreiber, die grauen und dickfleischigen Beutelschneider des Profit-Fußballs.“

Doch die fünfte Stadion-Generation, so Rod Sheard, wird die Arena wieder zurück in die Städte, zu den Menschen bringen. Live wird - auch - wieder vor Ort sein: „Das ist das Schlüssel-Kriterium. Sie müssen das Stadion im Idealfall bequem zu Fuß erreichen können. Wenn sie es nach ihrer Einkaufstour innerhalb von 10 bis 15 Minuten zu Fuß erreichen können, dann liegt es perfekt in der Stadt. Sonst funktioniert das nicht.“ Und: „Die Konkurrenz des Fernsehers muss aufgehoben werden.“ Der Trend geht also immer mehr dahin, die Stadien zu verkabeln, um an jeden Sitz ein Signal senden zu können. Der Stadionsitz der Zukunft wird ein Hightech-Tool der Sonderklasse sein, mit TV-Schirm wie im Flugzeug, um Wiederholungen sehen und auch Wertungen abgeben zu können.

Und: Die Stadien werden zu den großen Landmarks, den Wahrzeichen der Städte werden. Den längsten Schritt dorthin hat man mit dem neuen Wembley Stadion in London getan. Die Gemeinschaftsproduktion zwischen Norman Foster und HOK Sports liegt wie eine prächtige Perle in der Schale der Stadt. Die Dachkonstruktion des gewaltigen Ovals wird von einer markanten, weithin sichtbaren Bogenkonstruktion getragen, die Dachhaut selbst lässt sich verschieben, auf dass linder englischer Regen das Grün wahlweise netze oder die Besucher trocken halte. Das Wembley fasst 90.000 Besucher und ist, wie Pelé sagt, „die Kirche des Fußballs“.

Rod Sheard: „Die tollsten Gebäude der Geschichte haben immer den jeweiligen Zeitgeist reflektiert. Und heute heißt dieser Zeitgeist Sport.“ Vier wunderbare Wochen stehen uns bevor, Deutschland, wir kommen!

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