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Adrenalin und Architektur
Neue Zürcher Zeitung

Höchstleistungen im Stadionbau - eine Ausstellung in München

Sie sind die heimlichen Stars jeder Sportübertragung: die Stadien und Arenen. Rechtzeitig zur Fussball-Weltmeisterschaft 2006, die heute im Münchner Stadion von Herzog & de Meuron eröffnet wird, widmet ihnen das Architekturmuseum der TU München eine Überblicksausstellung.

9. Juni 2006 - Oliver Herwig
133 Meter hoch, 7000 Tonnen schwer und 315 Meter überspannend - so lässt sich der Stahlbogen in Zahlen fassen, an dem das neue Wembley National Stadion in London hängt, als wäre es an den Himmel genagelt. Ein gigantomanischer Wurf von Norman Foster für zigtausend Fans, die den Abriss ihres Traditionsstadions nicht verhindern konnten. Eine Arena musste her. Fussball denkt in Übergrössen, verlangt Rekorde nicht nur auf dem Rasen. Im Zeitalter des Sports liefert die Baukunst den Rahmen für menschliche Dramen im Flutlicht. Adrenalin und Architektur heisst die perfekte Verbindung; und Sport erweist sich als das beste Argument für Grossbauten. Die mächtigsten Kuppeln und Dächer krönen Stadien, die gewagtesten Konstruktionen überspannen olympische Hallen. Sport bildet den Motor des bautechnischen Fortschritts. Das war schon im alten Rom so. Damals wie heute sind Sportstätten darüber hinaus Landmarken, die vor Energie bersten. Ihre schwellenden Kuppeln und Schalen sind steroidverdächtig. Die derzeit gefragtesten Architekturbüros beteiligen sich am Wettlauf, dem Spiel ein optisches Signet von Dauer zu verleihen: Einen Auftakt machte Renzo Piano 1990 mit seinem schwingenden Stadion von Bari, und das zeitgenössische Highlight bildet der leuchtende Schwimmgurt von Herzog & de Meuron in München. In diesem Fussballtempel der Superlative findet der Auftakt zur Fussball-Weltmeisterschaft 2006 statt.

Von der Antike bis heute

Mit Blick auf diesen globalen Sportanlass widmet sich das Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne der Stadienarchitektur. Dabei konzentriert es sich auf bautechnische Höchstleistungen, auf Sportpaläste, die ihrer Ideallinie so sicher folgen, als wären sie verlängerte Linien des Reissbretts: Pier Luigi Nervis Palazzetto dello Sport von 1960 etwa, dessen Betonrippen so elegant zusammenwachsen, als seien sie Teile eines Tiefseeschalentiers. Dazu Eero Saarinens Hockeyhalle in New Haven von 1958, die einem umgekehrten Schiff gleicht - oder das 1999 fertig gestellte NatWest Media Center in London, das Future Systems als gewaltigen Fernseher über den Tribünen der Zuschauer errichteten. Mit Modellen, Skizzen, Fotos und Filmen versucht die Ausstellung die Entwicklungsgeschichte der Sportbauten greifbar zu machen, die Energiezentren des Hochleistungssports als Brutstätten der Architektur festzumachen. Leider ist der Raum dafür zu knapp bemessen - gerade einen Wechselausstellungssaal hat die Pinakothek der Moderne für mehrere tausend Jahre Geschichte frei. Darunter leidet die Darstellung, die so gedrängt durch die Jahrhunderte mäandert, dass die schönsten Modelle um ihre Wirkung gebracht sind.

Der Hexenkessel ist keine Erfindung der Neuzeit. Wenn 220 000 jubelnde Fans das legendäre Maracanã in Rio de Janeiro zum Brodeln bringen, stehen sie in bester Tradition. Die Grundtypen des Spektakels hatte die Antike erfunden: Arena und Stadion. Perfekt hatten Ingenieure das Gewand der Massen geschneidert, mit getrennten Zu- und Abgängen, ausgefeilter Akustik und Sonnensegeln sowie immer neuen, noch spektakuläreren Inszenierungen. «Panem et circenses» - auf diesen Nenner brachte Juvenal die Leidenschaften des römischen Proletariats, das sich an Reiterspielen, Gladiatorenkämpfen und Tierhetzen berauschte. Schon in der Nacht vor den tagesfüllenden Veranstaltungen drängten Schaulustige in die Arenen, um sich die besten Plätze zu sichern. Allein in Rom lockten Veranstaltungen an bis zu 182 Tagen im Jahr jeweils Zehntausende von Besuchern ins Kolosseum. Mehr kamen nur zum Circus maximus. 110 Meter breit und 635 Meter lang, fasste dieses Bauwerk fast 400 000 Schaulustige. Wenn Hermann Tilke jüngst in Schanghai die Rennstrecke mit lotosförmigen Schirmen überwölbte, kann man sehen, was der späte Ableger seinem Urahn, der römischen Circus-Anlage, verdankt.

Spiegel der Gesellschaft

Winfried Nerdinger, Direktor des Münchner Architekturmuseums, zieht doppelt Bilanz. Er zeigt die Historie der Sportstätten als Abfolge bautechnischer Höchstleistungen, präsentiert darüber hinaus Architekturen als Spiegel ihrer jeweiligen Gesellschaft, als Rahmen des von Staat und Bürgern geschätzten Spektakels. Wie haben sich Sport, Staat und Architektur weiterentwickelt? Diese Frage nimmt einen zentralen Teil der Begleittexte und des Katalogs ein. Ebenso die Kritik an der Kommerzialisierung von Sport und Spiel, die sich nicht nur in der immer gebräuchlicher werdenden Mantelnutzung der Stadien durch Einkaufszentren zeigt. Sportarchitektur sei zum Bildzeichen geworden und häufig auch zum Markenzeichen, sagte Nerdinger in einem Interview. Das Entscheidende bleibe: «Wie verpacke ich es, wie bringe ich die Werbung rüber, und genau das liefern die Sportarchitekturen, einen Spiegel unserer totalen Globalisierung.»

Wenn sich moderne Sportstätten in flirrende Medienvorhänge hüllen und Tausende in die Fassade eingelassene Bildschirme die Leistungen der Athleten zeigen, vollzieht sich die letzte Entwicklungsstufe der Sportarchitektur. Das feste Bauwerk löst sich auf, um mit der Dynamik der Sportlerstars zu wetteifern. Das Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Kraft und Geschwindigkeit werden die Zukunft aller Sportbauten prägen, die zum Markenzeichen eines grossen Geschäfts geworden sind, gleich, wo sie stehen.

[ Bis 3. September im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne. Katalog: Architektur & Sport. Vom antiken Stadion zur modernen Arena. Hrsg. Architekturmuseum der TU München. Edition Minerva Hermann Farnung, Wolfratshausen 2006 (ISBN 3-938832-09-6). 224 S., Euro 20.-. ]

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