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Metropolitane Silhouette
Neue Zürcher Zeitung

Das Zürcher Universitätsgebäude als frühes europäisches Hochhaus

In Zürich diskutiert man wieder über Hochhäuser und plant Bauten, welche die Silhouette der Stadt verändern sollen. Allgemein gilt, dass an der Limmat die Ära der Hochhäuser mit dem Turm des Quartiergebäudes Wipkingen und dem Walcheturm begann. Älter ist aber der Turmbau des Hauptgebäudes der Universität, mit dem die Stadt Zürich Mitte der 1910er Jahre ihren Anspruch als Schweizer Metropole geltend machte.

24. Juni 2006 - Thomas Gnägi
In den Nachkriegsjahrzehnten erlebte Zürich einen Boom im Hochhausbau, der 1984 durch eine Volksabstimmung abrupt gestoppt wurde. Die Innenstadt wurde daraufhin mit einem Hochhausverbot belegt. Erst in den neunziger Jahren gab die Revision der Bau- und Zonenordnung, die eine städtische Umwandlung der grossen Industrieareale im Norden und Westen der Stadt ermöglichte, Hochhausprojekten an zentrumsnahen Standorten erneut Auftrieb. In jüngster Zeit wurden einige Hochhäuser renoviert und zu Imageträgern umgestaltet. Neue städtebauliche Akzente setzen ein Doppelturm in Oerlikon und zwei Hochhäuser am Bahnhof Altstetten. Ihnen soll bald schon das höchste Gebäude der Schweiz, der Prime-Tower an der Hardbrücke, und ein Wohnhochhaus beim Escher-Wyss-Platz an der Limmat folgen.

Turmbauten und Hochhäuser

Am gegenüberliegenden Limmatufer erhebt sich das zwischen 1930 und 1932 von Hans Vogelsanger und Albert Maurer erbaute Quartier- und Postgebäude Wipkingen. Sein neungeschossiger Kopfbau und der Walcheturm von Werner und Otto Pfister gelten gemeinhin als die ersten Hochhäuser der Stadt. Ersterem kommt trotz seiner eher bescheidenen Höhe eine zeichenhafte Funktion als Tor zum Quartier Wipkingen zu. Fast dreissig Jahre früher war im baulichen Kontext der Amtshaus-Anlage in der Zürcher Altstadt der 48 Meter hohe Turm der Urania-Sternwarte errichtet worden. 1906 nach den Plänen von Gustav Gull vollendet, markierte er im Stadtbild den urbanistisch wichtigen Punkt zwischen Rudolf-Brun-Brücke und Bahnhofstrasse. Unter der eigentlichen Sternwarte im Turmhelm des verkleideten Betonbaus befindet sich bis heute ein Restaurant, aus dem heraus die Stadtsilhouette überblickt werden kann.

Ein Pendant zu diesem innerstädtischen Aussichtsturm bildet der erhöht am Hang gelegene Turm der Universität. Und dennoch unterscheiden sich die beiden Turmbauten funktional und typologisch ganz deutlich. Während der Urania- Turm als Akzent im Stadtraum aus dem Dach eines Geschäftshauses herauswächst, bildet der Universitäts-Turm einen eigenständigen vertikalen Körper in einem Gebäudekonglomerat. Dieser übernimmt nicht nur eine zeichenhafte Funktion, sondern enthält übereinander geschichtete Nutzräume, wie sie für ein Hochhaus üblich sind. Von unterschiedlichen Standorten aus gesehen, dominierte er nach seiner Fertigstellung zusammen mit den schlanken Kirchtürmen das Bild der Innenstadt; und bis heute ist er der prägende vertikale Akzent über der Altstadt, auch wenn in unmittelbarer Nähe mit dem Fernheizkraftwerk der ETH und dem Schwesternhochhaus des Universitätsspitals weitere Turmbauten dazugekommen sind. Ob man von der Urania, vom Bahnhofplatz oder von der Quaibrücke gegen die Altstadt blickt: Der zentrale Bauteil des Universitätsgebäudes scheint als eigentliche Landmarke aus der mittelalterlichen Stadt herauszuwachsen.

Topographische Einpassung

Nach einer komplizierten Genese konnte 1914 das neue Universitätsgebäude als Zürcher Wahrzeichen eingeweiht werden. Bereits 1906 war auf Einladung der Direktion des Erziehungswesens eine akademische Baukommission mit dem Auftrag ins Leben gerufen worden, Vorarbeiten für einen Universitätsneubau zu leisten. Man zog für Planskizzen Alfred Friedrich Bluntschli bei, der am Polytechnikum lehrte. Sein Vorschlag war stark geprägt von der axialen Symmetrie des semperschen Hochschulbaus, der seit den 1860er Jahren über der Stadt thronte. Trotz Drängen einzelner Kommissionsmitglieder wollte Bluntschli nicht davon abweichen, den Haupteingang des neuen kantonalen Universitätsgebäudes auf den steil aus der alten Stadt aufsteigenden Sempersteig auszurichten. Die Situation war verfahren. Schliesslich schrieb man einen Wettbewerb aus, den das Karlsruher Architekturbüro Curjel und Moser für sich entscheiden konnte. Dem zeichnenden Schweizer Architekten Karl Moser war vor allem daran gelegen, das topographisch schwierige, teilweise schon bebaute Gelände optimal zu nutzen und ein «vorzügliches Bild von der Stadt aus» zu bieten, wie er in einem Tagebucheintrag festhielt.

Das zu bebauende Terrain zwischen Künstlergasse und Rämistrasse bildet den südwestlichen Abschluss einer natürlichen Terrasse, die sich gegen den See hin neigt und zur alten Stadt steil abfällt. Das Polytechnikum im Norden, dahinter im Osten das Spital auf der Wässerwiese und kleinere Gebäude wie das sogenannte Künstlergut waren Bestandteil der lockeren Bebauung dieses Plateaus. Das Letztgenannte, das vor der Einweihung von Karl Mosers Kunsthaus am Heimplatz der Stadt Zürich als Ausstellungsort diente, wurde abgerissen, um für den Universitätsneubau Platz zu schaffen. Curjel und Moser übernahmen die Bezeichnung «Künstlergut» als Kennwort für die Eingabe ihres Uni-Wettbewerbsprojekts.

Vertiale im Stadtbild

Ein derart hohes Turmhaus, wie es von 1910 bis 1913 dann schliesslich ausgeführt wurde, war im Projekt von 1908 noch nicht vorgesehen. Moser machte die beste Verteilung von Kollegien- und Biologiegebäude auf dem Gelände zum obersten Credo für die Wettbewerbseingabe. Wie im ausgeführten Bau wurde schon im Projekt das grössere Kollegiengebäude nach hinten an die Rämistrasse geschoben, während der kleinere Biologietrakt so nah wie möglich an die zur Stadt hinunterführende Künstlergasse zu stehen kam. Somit zeichnete sich - von der Stadt her gesehen - keines der Gebäude als Hauptbau aus. Beide Bauten werden durch eine Art Turm miteinander verquickt. Er dient als Verbindungsstück und bildet gleichzeitig das Hauptmotiv der gesamten Anlage. Ferner übernimmt er die Aufgabe des repräsentativen Eingangs und überhöht ihn gleichsam im architektonischen Aufbau. Allerdings wurde dem typischen Erscheinungsbild eines Turmhauses im Wettbewerbsprojekt «Künstlergut» noch nicht entsprochen. Der Mittelbau wirkt eher gedrungen; man liest ihn als höheres Haus zwischen Kollegien- und Biologiegebäude, das die Anlage zusammenhält. Die Silhouette kulminiert nicht in einer symmetrischen Mitte wie im Vorprojekt von Bluntschli; im Projekt «Künstlergut» sind unterschiedliche Baukuben formal so angeordnet, dass das vertikal ausgerichtete Zentrum sorgfältig zwischen zwei horizontalen Baukörpern vermittelt. Der Blick wird damit über unterschiedlich hohe Stufen zum höchsten Punkt der Bebauung getragen.

Der mittlere Bauteil wurde dann aber immer mehr von Moser und auch von der Baukommission als wichtigstes, repräsentatives Element der gesamten Anlage erkannt und entsprechend in Höhe und architektonischer Ausführung betont. Am 13. Juli 1910 bewilligte der Zürcher Stadtrat «hinsichtlich der Überschreitung der zulässigen Zahl der Stockwerke und der zulässigen Gebäudehöhe» eine Ausnahme. Unter Verwendung von armiertem Beton wurde die Mauermasse reduziert, alle Etagen wurden als Nutzräume ausgebaut und mit einem Lift bis in die obersten Räumlichkeiten versehen. Das Turmhausdach sollte zunächst einen Giebel erhalten. Diesen stellte man in verschiedenen Ausführungen als Modell und in perspektivischen Zeichnungen in der «Schweizerischen Bauzeitung» der Öffentlichkeit vor. Doch die Errichtung des Universitätsbaus schritt voran, ohne dass der Turmabschluss definitiv geklärt worden wäre. Das Projekt, den vertikalen Mittelteil in einem aufwendig gestalteten Giebel aufgehen zu lassen, wurde später von Moser selbst fallengelassen. Er favorisierte nun eine gegen oben gestaffelte Bauweise. Mit einer stockwerkartigen Turmlösung sollte die Vertikale zu einem charakteristischen Merkmal werden. Gleichzeitig hielt man damit die Masse des Daches klein, was sich wiederum günstig auf die Kosten auswirkte.

Turmhausdebatte in Europa

Öffentlichen Gebäuden wie Universitäten, Museen und Stadthäusern Türme beizustellen oder diese mit einem derartigen Zeichen zu überhöhen, war in Europa um 1900 keine Seltenheit. Es gab kaum eine Stadterweiterung, kaum ein neues Quartier, dem man nicht einen Turm als Blickfang beifügte. In Zürich aber konnte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Universitäts- Turm ein markanter Bau errichtet werden, der aufgrund seiner repräsentativen Funktion und seines räumlichen Angebots als eigentliches Hochhaus bezeichnet werden kann. Mag sein, dass der Wunsch, mit dem Bau eine entsprechende Höhe zu erreichen - an der stadtseitigen Front immerhin 65 Meter -, mit der (hochschul) politischen Konkurrenz zwischen Eidgenossenschaft und Kanton zusammenhing. Zudem übernahm das Gebäude für die Stadt identitätsstiftende Funktion, da das bei der Urania geplante Stadthaus nicht realisiert werden konnte.

Aus der Perspektive der Hochhausgeschichte betrachtet, haben wir es beim Universitäts-Turm mit einem Pionierwerk auf dem alten Kontinent zu tun. Eigentliche Hochhausbauten entstehen sonst in Europa erst in den 1920er Jahren. Mit dem Wettbewerb für ein städtebaulich wichtiges Grundstück am Bahnhof Friedrichstrasse in Berlin und den Projekten zum Bau eines Messeturms in Leipzig wurde damals eine Hochhausdebatte entfacht, die der Frage eines spezifisch europäischen Hochhausstils im Gegensatz zum amerikanischen Wolkenkratzer nachging. Letzterer sei, nach einhelliger Meinung, aus ökonomischen Gründen entstanden. Hingegen begriff man das europäische Hochhaus im Wesentlichen als ein den Stadtraum architektonisch bestimmendes Gebäude, das als Blickpunkt fungieren sollte.

Die frühesten Vorschläge für Hochhausbauten in Europa stammen allerdings schon aus den 1910er Jahren - und haben gleichsam einen Vorläufer in der monumentalen, zwischen 1862 und 1900 nach Plänen von Alessandro Antonelli realisierten Mole Antonelliana in Turin. Diese Vorschläge wurden im Zusammenhang mit den futuristischen Stadtvisionen des Tessiners Mario Chiattone und des Comasken Antonio Sant'Elia und konkreter noch mit den Bebauungsplänen Berlins und Düsseldorfs entwickelt. Diese reihten sich in die Diskussionen um Stadterweiterungen und Modernisierungen monumentalen Zuschnitts ein und waren eng mit Fragen verknüpft, die sich auch bei der Aufstellung von grossen Denkmälern ergaben. Für das Berliner Stadtzentrum wurde ein Projekt eines Turmhauses mit vierzehn Stockwerken auf kreisförmigem Grundriss vorgeschlagen, und in Düsseldorf sollte ein neues Rathaus die Altstadtsilhouette dominieren. Im Gegensatz zu diesen vorwiegend repräsentativen Bauten gab es auch erste Studien für funktional ausgerichtete Hochhäuser.

Am Alexanderplatz in Berlin sollte ein Warenhaus als Turmhaus platzbeherrschend positioniert werden. Und in Wuppertal-Barmen wollte man das Rathaus als 18-geschossigen Büroturm bauen. Die Projekte scheiterten jedoch aus baupolizeilichen Gründen oder wegen des Kriegsausbruchs. Gleichwohl konnte 1915 in Jena ein 10- stöckiges Gebäude mit Büros und Werkstätten als erstes Hochhaus Deutschlands vollendet werden. Ihm folgten 1924 das Wilhelm-Marx-Hochhaus von Wilhelm Kreis in Düsseldorf, 1928 das «Tagblatt»-Turmhaus von Ernst Otto Osswald in Stuttgart, Fritz Högers «Anzeiger»-Hochhaus in Hannover und German Bestelmeyers Büroturm Kroch in Leipzig, 1929 Hermann Leitenstorfers Technisches Rathaus in München oder 1930 Bruno Pauls Kathreiner-Hochhaus in Berlin - um nur einige zu nennen.

Signature Buildings

In anderer Dimension wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Übersee gebaut. In New York konnte 1913 mit dem Woolworth Building der für lange Zeit höchste Wolkenkratzer der Welt eingeweiht werden. Das 241 Meter hohe Haus stellte nicht nur ein bautechnischen Rekord auf, es überraschte auch durch seine neugotische Fassade. Bereits früher verwies man mit dem an den Campanile von San Marco erinnernden Metropolitan Life Tower auf die Architekturgeschichte. Kuppeln barocker Kirchen, Dachformen französischer Schlösser oder ans nordeuropäische Spätmittelalter gemahnende steile Satteldächer waren übliche Versuche, den klassischen Wandaufbau von Basis und Schaft in einem würdigen Abschluss zu komplettieren und damit einen Bedeutungszuwachs für das Gebäude zu erhalten.

Diesen Aspekt berücksichtigte Moser bei der Gestaltung des Turms der Universität zunehmend. Nachdem er die Giebellösung fallen gelassen und sich der Kuppellösung zugewandt hatte, versuchte er in einigen Skizzen den Dachabschluss zu visualisieren. Es sind Zeichnungen erhalten, die anstelle eines Turmknaufs eine personifizierte Allegorie auf dem Dach zeigen. Die Viktoria, die das Gebäude krönen sollte, ersetzte Moser später durch eine Laterne. Diese nimmt das Formenrepertoire des Baus auf und führt es bis zur Spitze weiter. Die Betonung der Form war für Moser (und vermutlich auch für Zürich) Signatur genug. Als Moser mit den letzten architektonischen Details für sein Turmhaus beschäftigt war, notierte er Gedanken zum eben fertig gestellten Woolworth Building, dem damals prominentesten Wolkenkratzer überhaupt. Dabei beeindruckte den Schweizer Architekten wohl weniger die stadträumliche Placierung des Hochhauses als vielmehr der gestaffelte Aufbau und die einheitliche vertikale Pfeilergliederung, die das Gebäude umspannt. Solche stilistischen Komponenten, die mit der plastischen Wirkung eines Gebäudes in Zusammenhang stehen, waren für Mosers Architekturverständnis von zentraler Bedeutung. Für die körperliche Erscheinung des Turmhauses der Universität sowie seine stadträumliche Integration sind denn auch die gliedernden Details der Fassade entscheidend.

Hochhaus und Stadtraum

Moser baute das Universitätsgebäude zu einer Zeit, in der Fragen zum Stadtraum vermehrt in den Vordergrund traten. Zudem wurde der Typus Hochhaus für Europa gerade erst entdeckt. Sein Gebäude kann als Diskussionsbeitrag verstanden werden, mittels horizontaler und vertikaler Baukörper im Stadtbild eine für das Auge interessante Gliederung zu erzeugen und damit Stadtraum zu konstituieren. Dies gelang dem ersten Bürohochhaus Europas, dem 1898 von W. Molenhoek am Wijnhaven in Rotterdam errichteten, 45 Meter hohen «Weissen Haus» noch nicht. Sieben immer gleiche, übereinander geschichtete Stockwerke werden mit einem Walm und seitlichen Türmchen abgeschlossen, als ob nur der mittlere, repräsentative Teil einer mehrarmigen Schlossanlage übernommen worden wäre. In seinen Proportionen vermag es als Hochhaus nicht wirklich zu überzeugen. Zudem nimmt es auf die stadträumliche Situation keinerlei Bezug.

Im Gegensatz dazu unterstützt der Turm der Universität durch die Stufung der Baukörper die Silhouettenbildung der Stadt. Für den Stadtzürcher Horizont wichtige Hochhausbauten wie das Lochergut oder die Hardau-Türme erreichen durch eine gestaffelte Bauweise ebensolche Ansätze veränderter räumlicher Stadtgestalt. Diese vielgescholtenen Bauten, denen man allgemein wenig baukünstlerische Qualitäten beimisst, haben möglicherweise mit dem Gebäude der Universität mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Vor bald hundert Jahren hat Moser die Stadt mit einem markanten Gebäude geprägt. Es bleibt zu hoffen, dass es den Erbauern künftiger Hochhäuser mit einem Blick auf den Turm der Universität gelingen wird, neue stadträumliche Qualitäten nutzbar zu machen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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