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Selbstbewusste Bescheidenheit
Neue Zürcher Zeitung

Restaurierung von Rino Tamis Biblioteca cantonale in Lugano

Die von Rino Tami zusammen mit seinem Bruder Carlo Ende der dreissiger Jahre gebaute Kantonsbibliothek in Lugano gilt als erste grosse Leistung der modernen Tessiner Architektur. Nun ist das Gebäude umfassend restauriert worden.

27. Juni 2006 - Roger Friedrich
Jung, nämlich gerade erst 29 Jahre alt, war Rino Tami, als er 1936 zusammen mit seinem Bruder Carlo den Projektwettbewerb für eine neue Kantonsbibliothek in Lugano für sich entscheiden konnte. Der Bau, den er daraufhin am See realisierte, ist zum ersten Hauptwerk der neuen Tessiner Architektur geworden. Vor Ort fehlte es nicht an kritischen Stimmen zu diesem «hässlichen Betonkasten». In «Casabella» hingegen, der wichtigen Architekturzeitschrift des Nachbarlandes Italien und Plattform des Rationalismus und Funktionalismus, wurde der Neubau mit viel Lob vorgestellt. Giuseppe Pagano attestierte Tami jene «orgogliosa modestia», die dem italienischen Architekturkritiker eine Grundvoraussetzung jeder ehrlichen Architektur war.

Meisterliches Jugendwerk

Zwei Jahrzehnte später begegnen wir dem Begriff in Tamis Antrittsvorlesung an der ETH wieder, wo er über die Wahrheit in der Architektur sprach; diese werde von drei Koordinaten - Ort, Zeit, Person des Architekten - bestimmt, sagte er. Er kam dabei auf das heikle Zusammenspiel von persönlichem Ausdruck und Einordnung zu reden. Der Gegensatz sei scheinbar, erklärte er. Es müsse sich allerdings der Architekt in einem schwierigen Akt stolzer Bescheidenheit darauf besinnen, was ihn an der Gemeinschaft teilhaben lasse, für die er tätig sei. Das ist die Richtschnur, an die sich der im Übrigen undogmatische Tami gehalten hat, von der Bibliothek über die Einfamilienhäuser, Wohnblöcke, das Radiostudio und die Kirche Christo Risorto bis - als begleitender Architekt - zur Autobahn. Der Tessiner, der fast nur in seinem eigenen Kanton gewirkt hat, wird im Allgemeinen dem schweizerisch gedämpften Rationalismus zugerechnet.

Wenn wir im Parco Ciani dem Seeufer entlang auf die Biblioteca cantonale zugehen, empfängt sie uns freundlich, obgleich in sich gekehrt, wie es einem Ort der Lektüre und Vertiefung entspricht. Baumkronen werfen ihre Schatten auf die viergeschossige Mauer des Magazintraktes und spiegeln sich in den fein gezeichneten Fensterscheiben des Lesesaals im abgewinkelten Trakt. Der Bau steht so selbstverständlich in diesem alten Park wie die Bäume und Sträucher rundherum, schlicht und selbstbewusst. Der Eingang befindet sich auf der Gegenseite - in eine streng mit einfachen Fenstern klar rhythmisierte, asketische Front gefügt. Im Innern überzeugt die einfache, der Logik der Arbeitsabläufe folgende Räumlichkeit. Tami hatte sie seinerzeit mit einer einfachen Skizze erläutert: in der Mitte - als Herz der Bibliothek - die Bücherausgabe, links der Lesesaal, rechts die Kataloge, dahinter die Magazine. Meisterwerk von unübertrefflicher Eleganz aber ist die Perle des Hauses: die elliptisch geschwungene Treppenanlage, die hinaufführt zu den Büros und Arbeitsräumen.

Wie geht man mit einem solchen Bau um, wenn veränderte Bedürfnisse zu befriedigen sind und sich eine Restaurierung aufdrängt? Schon in den siebziger Jahren wurde eine Erweiterung ins Auge gefasst. 1980 legte Tami selber Entwürfe vor, doch liess die Zonenordnung keine neuen Volumen zu. In den neunziger Jahren wurden dann die Kantonsbibliothek, Weidemeyers Teatro San Materno in Ascona und Tamis Kirche Sacro Cuore in Bellinzona als erste moderne Bauten vom Kanton auf die Liste der schützenswerten Werke gesetzt. Aus dem Wettbewerb für ein Restaurierungsprojekt ging der Vorschlag der Architekten Francesco und Michele Bardelli hervor, der einen rücksichtsvollen Umgang mit Tamis Erbe versprach.

Zurückhaltender Ausbau

Äusserlich tritt die Erneuerung kaum in Erscheinung. Den neuen Raumbedürfnissen wurde entsprochen, indem einerseits mit Compactus- Schränken die Kapazität der Magazine erhöht wurde. Anderseits wurden im Untergeschoss zusätzliche Leseräume eingerichtet und unter dem Vorplatz Räume für das Archiv Prezzolini neu geschaffen. Letztere öffnen sich gegen Süden, doch wird die Fensterzeile durch ein Raster senkrecht gestellter Granitbalken verdeckt. Die Raumeinteilung blieb im Wesentlichen bewahrt; das umgestaltete Untergeschoss richtet sich nach dem Schema des Parterres. Lediglich die Abwartwohnung und die bisherigen Toiletten mussten der neuen Treppe ins Untergeschoss und einem Büro für den Direktor weichen. Die Architekten haben auch diese Änderung nicht benützt, sich in Szene zu setzen. Eine von Davide Cascio geschaffene Kombination von Neonskulptur und Wandgrafik fügt sich glücklich in das nüchterne neue Treppenhaus, das den Blick zum See freigibt. Mit grösster Sorgfalt ist der schöne Lesesaal mit seiner leicht gegen die Fensterfront ansteigenden Decke in jedem Detail in der ursprünglichen Gestalt wieder hergestellt worden. Die Tische sind wieder zweiplätzig und stehen wieder in der einstigen Anordnung. Tischlampen und Stühle sind den vielleicht von Tami entworfenen, jedenfalls von ihm ausgewählten nachgebildet. Die neuen Räume behaupten in ihren einfachen Konturen mit Möbeln in warmem Rot ihren eigenen Charakter, ohne einen Gegensatz zu betonen. Dem etwas kahl geratenen Korridor verleiht ein langsam dem Farbenspektrum folgend sich wandelndes Licht eine leicht verspielte Atmosphäre.

Nicht sichtbar ist der beträchtliche technische Aufwand, den die Restaurierung des Gebäudes erforderte: die angesichts der weit grösseren Lasten nötige Verstärkung der tragenden Elemente, die neuen Leitungssysteme und die leichtere Konstruktion der Decke des Lesesaals, für die, wie sich erst bei den Bauarbeiten überraschend zeigte, Tami eine etwas altertümlich massive Lösung gewählt hatte. Mit Verweis auf diese Erfahrungen hält Tita Carloni in seinem Beitrag in der Publikation, die zur Wiedereröffnung der Bibliothek erschienen ist, die Schaffung einer auf die Restaurierung moderner Bauten ausgerichteten Disziplin für wünschbar. Dort erfährt man auch Interessantes zu der Entstehung der Kantonsbibliothek, zu der das Tessiner Gesetz für die gymnasiale und höhere Bildung von 1844 die Voraussetzungen schuf. Die Aufhebung der Klöster lieferte den Grundstock der Sammlung. Zahlreiche Schenkungen liessen den Bestand auf heute 300 000 Bände anwachsen, darunter die 20 000 Drucke im «Fondo antico», die auf die Zeit vor 1850 zurückgehen. Als Gegengewicht zum anfänglich stark theologisch ausgerichteten Bücherbestand richtete Luigi Lavizzari die «Libreria Patria» ein, die vor allem im Tessin oder von Tessinern publizierte Bücher sammeln sollte. Eine Reihe von grösseren und kleineren Archiven, Briefsammlungen und Nachlässen (Ennio Flaiano, Francesco Chiesa, Giuseppe Zoppi, Guido Calgari. Romano Amerio und andere) sind schliesslich im «Archivio Prezzolini» vereinigt.

[ Progetto Biblioteca. Spazio, storia e funzioni della Biblioteca cantonale di Lugano. Hrsg. Biblioteca cantonale di Lugano. Edizioni Le Ricerche, Losone 2005. 160 S., Fr. 20.-. ]

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