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Ein neues Herz für Melbourne
Neue Zürcher Zeitung

Der Federation Square als kontroverses städtebauliches Schaustück

Das Mosaik Australiens architektonisch zu interpretieren, versucht der neue Federation Square in Melbourne. Dem verschlüsselt konzipierten Schaustück ist die Rolle eines Gravitationszentrums zugedacht an einem Ort, mit dessen Gestaltung die Stadt seit langem ringt.

15. Juli 2006 - Rudolf Hermann
Sydney hat sein Opernhaus, das zum Wahrzeichen Australiens schlechthin geworden ist. Und Melbourne? Auch die zweite Stadt des fünften Kontinents, im ständigen Wettstreit mit der grösseren Schwester, hat ihr neues städtebauliches Herz bekommen: den Federation Square, ein Ensemble mehrerer Bauten um einen asymmetrischen Platz am Yarra River. Ob dies als die definitive Antwort Melbournes auf das Sydney Opera House gelten kann, wird erst die zeitliche Distanz zeigen. Nimmt man die Intensität der Emotionen und Kontroversen zum Massstab, ist der «Fed Square» aber schon jetzt auf bestem Weg dazu.

Geometrie der Bruchlinien

Der Ort, an dem sich der neue Komplex erhebt, ist im grossen wie im kleinen Massstab ein Scharnier Melbournes. Am Südrand des rechteckig angelegten historischen Zentrums gelegen, markiert der Federation Square den Punkt, an welchem sich die Geschäftsviertel der City, die Verkehrswege von Fluss, Tram und Eisenbahn sowie die Vergnügungswelt der Sportstadien, Parks und Kasinos am Südufer des Yarra berühren. Hier führt über die Princes Bridge, welche ein Baudenkmal aus der Gründerzeit und Melbournes wichtigste Brücke darstellt, der Weg in die Stadt. An der Kreuzung, wo dieser auf die City trifft, stehen auf drei Seiten der altehrwürdige Bahnhof Flinders Street Station, der historische Young-&- Jackson-Pub und die neugotische St.-Pauls- Kathedrale. Nur die vierte Seite wollte nie richtig gelingen.

«Für diesen Platz wurden im 20. Jahrhundert sicher vier, fünf Wettbewerbe ausgeschrieben. In den siebziger Jahren war die Vorgabe, ein Wahrzeichen zu schaffen. Melbourne litt am sogenannten Sydney-Opera-House-Komplex», hält der australische Architekt Peter Davidson fest. Er führt zusammen mit dem Amerikaner Donald L. Bates das Londoner Studio Lab Architecture, das den jüngsten - und letzten? - Wettbewerb für dieses Areal gewonnen hat. Der Federation Square ist bis anhin das wichtigste Werk des Studios. Ein Werk, das durchdacht, aber nicht sofort zu entschlüsseln ist.

Auf den ersten Blick erkennt man ein Gewirr von Flächen, Ecken, Schrägen, Linien und Materialien, das einen krassen Gegensatz zum klaren Gittermuster darstellt, welches die Innenstadt von Melbourne kennzeichnet. Rechte Winkel scheint es keine zu geben. Kein Wunder deshalb, dass die Anlage polarisiert. Während die einen schimpfen, ob denn klare Linien den Autoren des Werks zu spiessig gewesen seien, ist für den australischen Architekten und Künstler Norman Day der Platz ein Beispiel für das Streben, sich aus dem uniformen und einfallslosen Schachbrettmuster der europäischen Stadtgründungen - von Kanada über Südafrika bis Australien - zu befreien. «Die Geometrie der Bruchlinien», meint Day, «spiegelt auch unsere Zeit, die alles andere als festgefügt ist.»

Auf den zweiten Blick hat das Chaos System. Dreiecke fügen sich zu grösseren Dreiecken oder polygonalen Strukturen zusammen und ergeben gleichsam eine abstrakte Landkarte der australischen Föderation. Verschiedenartige Gebäude- Elemente bilden ein grösseres Ganzes, das sich wiederum in den gesamten Komplex integriert. Unterschiedliche Materialien - Sandstein, Glas, Stahl, Metall - treffen aufeinander. Wechselndes Licht und Wetter lässt die Fassaden sich in ihrem Zusammenspiel ständig verändern. Den Gedanken der Föderation interpretiert Davidson als das Zusammentreffen unabhängiger Identitäten, die vereint ein neues Ganzes ergeben, als Wechselspiel von Kohärenz und Differenz. Das Kernstück des Federation Square sind allerdings nicht die Gebäude, die ihn auf drei Seiten umschliessen, sondern der Platz selbst. Leicht ansteigend wie ein Amphitheater, weckt er leise Erinnerungen an die Piazza del Campo in Siena - nur dass hier die Wolkenkratzer von South Melbourne den Hintergrund bilden. Und mögen sich die Geister an der architektonischen Gestaltung scheiden, den Platz als Raum der Begegnung haben sich die Melbourner schnell angeeignet. Ohnehin schon die Stadt Australiens mit dem stärksten europäischen Gepräge durch die engen Gassen mit kleinen Läden, hat Melbourne mit dem Federation Square ein städtebaulich gestaltetes Gravitationszentrum erhalten, wie es aus historisch gewachsenen Städten der Alten Welt nicht wegzudenken ist, sich in Australien aber anderswo nicht findet.

Gegensatz von Geschichte und Gegenwart

Die Unregelmässigkeit des Platzes und die Zwischenräume zwischen einzelnen Versatzstücken öffnen überraschende Ausblicke auf die Umgebung. So erscheint unvermittelt die St. Paul's Cathedral in einem Rahmen aus gleissendem Stahl - ein attraktiv orchestrierter Gegensatz von Geschichte und Gegenwart. Ganz allerdings konnten die Architekten Davidson und Bates ihr Konzept hier nicht durchbringen; im Weg standen alte Empfindlichkeiten der Bevölkerung. Wo der Federation Square sich heute ausdehnt, versperrten zwischen 1967 und 1997 zwei 17-stöckige Blöcke wie gigantische Legosteine von Süden her den Blick auf die City.

Der Plan des Büros Lab Architecture, durch zwei alleinstehende vertikale Strukturen den Blick zu leiten und historische Gebäude der City aus verschiedenen Blickwinkeln auftauchen und verschwinden zu lassen, weckte - in Erinnerung an die unseligen Mega-Blöcke - eine heftige Diskussion. Verschiedene Regierungen und ihre Behörden griffen in die Planungen ein; mit dem Resultat, dass das exponierteste der stählernen Versatzstücke deutlich niedriger als vorgesehen gebaut werden musste. Inzwischen hat sich gezeigt, dass der ursprüngliche Plan sehr wohl durchdacht war, und prompt ist der Ruf nach einer Korrektur laut geworden. Von den vielen Kontroversen, die den Platz begleiten, ist es diejenige, die vielleicht am tiefsten geht. In der Melbourner Zeitung «The Age» beklagten vor einiger Zeit verschiedene Architekten, dass die amtierende Regierung (die das Projekt «geerbt» und wesentlich beeinflusst hatte, dessen Erfolg aber sich jetzt selbst zuschreibt) keine kohärente Politik für Architektur und Design habe. Das sei besonders nachteilig in einer Zeit, da Melbourne sich zum führenden Platz Australiens für innovative Architektur entwickelt habe. Gutes Design aber könne nicht durch staatliche Überregulierung entstehen, und manchmal sei es nötig, Leitplanken zu durchbrechen.

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