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Wo Ideen-Märkte leuchten
Neue Zürcher Zeitung

David Adjayes Bibliotheksbauten in Whitechapel und Poplar

21. August 2006 - Lilo Weber
Der Strasse fehlt es nicht an Farbe. Blauweiss und grünweiss gestreiftes Tuch bedeckt die Marktstände. Darunter hängen bunte Textilien, Saris mit Goldstickereien, auch schwarze Strickjacken. Hier werden die Mangos schachtelweise verkauft und die Bananen aus Blechschüsseln. An der Whitechapel Road im Londoner East End wähnt man sich tagsüber in Südasien. Männer schwatzen an den Ständen, Frauen huschen verschleiert vorbei, dann wieder ruft der Muezzin von der East- London-Moschee, und sein Gesang mischt sich mit dem Sirenengeheul der Ambulanz vom Royal London Hospital. Nein, einen Farbtupfer braucht diese Strasse nicht. Dennoch hat ihn David Adjaye hingesetzt. Ein Zugewanderter auch er. Die neue Bibliothek des aus Ghana stammenden Architekten strahlt nun in dem Quartier, das schon immer Auffangbecken war für Einwanderer aus den verschiedensten Ländern und Kontinenten. Gerade darum soll der Idea Store - so nennt der Borough Tower Hamlets die neuen Bibliotheken - transparent sein, auf dass sich die Menschen aller Kulturen und sozialen Schichten willkommen fühlen.

Buntes Haus im Schmelztiegel

Das fünfstöckige Haus ist vornehmlich aus Glas, gestreift in Grün und Weiss, Blau und Weiss wie die Marktstände davor. Die südwestliche Ecke ist um 3 Meter 30 nach vorn gezogen. Die Front verläuft schräg zur Strasse, was dem Gebäude eine wechselnde Perspektive verleiht, je nachdem, ob man sich von Westen oder Osten her nähert. Die vordere Fassade zieht sich nicht bis zum Boden, sondern deckt nur die oberen vier Stockwerke und bietet so Schutz für den Eingangsbereich und die Rolltreppe, die der Innenfassade entlang in den ersten und zweiten Stock führt. Die Verdoppelung der Fassade lässt den Eingang weit offen und das Glashaus noch leichter erscheinen. Im hintern Teil ist es nur zweistöckig. Dort befinden sich ein Tanzstudio, die Schulungsräume für Komplementärtherapie und eine Terrasse. Den Supermarkt Sainsbury's im Rücken und den bengalischen Markt vor der Tür, hält der Idea Store Gedanken feil: Bücher, CD, DVD, Internetzugang, Kurse jeglicher Art - und er leuchtet selbst wie eine Idee.

Das Projekt war nicht unumstritten. Die Bewohner von Tower Hamlets mögen zwar Adjayes Bau, doch hat man ihm das geopfert, was als «Universität des Ghettos» Geschichte schrieb: die Whitechapel Public Library. Sie wurde im Frühling 1892 an der Whitechapel High Street eröffnet, und sofort strömten die Leute von der Strasse und aus ihren schäbigen Behausungen in das warme Lesezimmer - am Ende des Jahres verzeichnete die Bibliothek bereits 2500 Mitglieder. Damals wohnten in der Gegend mehrheitlich Juden, die vor Verfolgungen in Russland und Osteuropa geflüchtet waren, und die Whitechapel Library baute schnell eine der grössten Sammlungen jüdischer Literatur des Landes auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg verliessen die jüdischen Bewohner das zerbombte East End in Richtung Nordlondon und Essex - oder Israel. Die Synagogen verschwanden bis auf ganz wenige, einige wurden in Moscheen umgewandelt oder - als das East End in den 1990er Jahren zum Trendviertel avancierte - auch in schicke Wohnungen.

Heute sind 58 Prozent der Bewohner von Tower Hamlets nichteuropäischer Herkunft, ein Drittel stammt aus Bangladesh. Der durchschnittliche Preis für eine Wohnung hat sich in den letzten zehn Jahren fast verfünffacht, die ehemaligen Weberhäuschen kosten heute rund 400 000 Pfund, denn zu Tower Hamlets gehören auch die Docklands mit ihren Luxuswohnungen und Geschäften. Trotzdem ist der Borough die zweitärmste Gemeinde Englands mit der vierttiefsten Lebenserwartung für Männer.

Die traditionsreiche Whitechapel Library konnte mit einer Liste von namhaften Intellektuellen aufwarten, die hier ihre ersten Werke schrieben und die Geschichte des East End erforschten. Allein, die lokale Behörde wollte ihre Bibliotheken näher ans Volk bringen, und dieses geht nun einmal zum Supermarkt. Um dem Besucherschwund entgegenzuwirken, wurde 1998 das Konzept der Idea Stores geboren, als Lern- und Begegnungszentren für Erwachsene und Kinder. Insgesamt sieben Stores sind vorgesehen, und sie sollen in unmittelbarer Nachbarschaft von Einkaufszentren stehen. Der erste - von der Designer-Gemeinschaft Bisset Adams - wurde 2002 in Bow eröffnet, und er hat im ersten Jahr dreimal so viele Besucher angelockt wie die beiden Bibliotheken, die er ersetzte. Der zweite, nun von David Adjaye entworfen, folgte 2004 beim Chrisp Street Market in Poplar, einem Einkaufszentrum aus den fünfziger Jahren mit altem Markt, umgeben von grossen Wohnblöcken der Nachkriegszeit.

Damals gab es in Poplar noch Jobs, der Hafen war nah und in Betrieb. Heute dienen die Docks als eine Art Seeanstoss für Gutverdienende und laden zum Flanieren und Kaffeetrinken. Doch die zahlreichen neuen Arbeitsplätze rund um Canary Wharf sind unerreichbar geblieben für jene Menschen, die nördlich davon - nur einen Steinwurf entfernt - in den Sozialwohnungen leben. Zwischen den beiden Welten fährt die Docklands Light Railway über Wasser und Häuser hinweg neuerdings bis zum City Airport.

Hier, in einer Gegend, die an Trostlosigkeit kaum zu übertreffen ist, leuchtet Adjayes älterer Idea Store, ein Glashaus in Grün, Blau und Weiss. Er gleicht jenem in Whitechapel, ist aber bedeutend kleiner. Als Keil auf die Läden der Chrisp Street gesetzt, grenzt er diese nach vorne gegen den Platz an der East India Dock Road ab. Eine Rolltreppe führt in den ersten Stock, wo die Bücher in schlangenförmigen Regalen stehen: Belletristik und Sachbücher auf Englisch und Bengalisch, aber auch auf Chinesisch - Poplar war die erste Chinatown Londons, bevor die Chinesen Mitte des 20. Jahrhunderts nach Soho zogen. An den Fenstern sind Arbeitsplätze untergebracht. Von hier erscheint die Welt draussen in langen Streifen: blau oder grün gefärbte Tristesse im Osten, der Balkon einer Familie im Norden und im Süden ein riesiges öffentliches Badehaus, dessen Tage längst vorbei sind - dahinter streben Canary Wharf, HSBC und Barclays Bank strahlend gen Himmel.

Idea Store mit Aussicht

Die schlangenförmigen Büchergestelle sind für Adjaye ein Markenzeichen, auch im Idea Store Whitechapel. Nur nicht den Anschein einer Bibliothek erwecken. Die Besucherzahlen geben dem Konzept Recht. Während die Bibliotheken im ganzen Land über Besucherschwund klagen, haben die Ideen-Läden Konjunktur: Zum kleineren an der Chrisp Street kommen gemäss Sergio Dogliani, dem Leiter der Idea Stores, täglich durchschnittlich 1400 und zum grossen in Whitechapel sogar 1800 Interessierte. Hier lohnt sich der Besuch allein der Aussicht wegen. Vom Café im vierten Stock hat man nämlich einen unvergleichlichen Blick auf die City mit dem Swiss Re Tower im Westen, auf den Supermarkt mit den Sozialwohnungen im Norden oder auf das chaotische Gemisch aus Lagerhallen und Dienstleistungsbetrieben im Süden - und auf den quirligen asiatischen Markt unten auf dem Trottoir. Ostlondon in Streifen, grün, blau und weiss.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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