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Das «Appat» als Lebensform
Neue Zürcher Zeitung

Die Südkoreaner haben ihren bäuerlich-dörflichen Gemeinschaftssinn ins Hochhaus hinübergerettet

Kommt ein Europäer zum ersten Mal nach Südkorea, ist er verblüfft beim Anblick endloser Reihen von Hochhäusern. Das Meer von geklont wirkenden Grossbauten beherrscht so sehr jedes Stadtbild, dass man beispielsweise in Seoul kaum noch die natürliche Lage der Stadt erahnen kann. Lehnten die Koreaner die Hochhäuser zunächst ab, verkörpern diese mittlerweile den modernen Lebensstil.

26. August 2006 - Hoo Nam Seelmann
Die Konturen der Hügel und Berge können in Südkorea mit den an ihren Flanken emporschiessenden Wohnbauten oft kaum noch konkurrieren. Diese in die Vertikale wachsenden Häuser beherbergen sogenannte «Appat», wie die koreanische Variante des «appartement» heisst. Das Begehren, eine Wohnung in einem der Hochhäuser zu besitzen, grenzt inzwischen an Manie und hat dazu geführt, dass selbst in Kleinstädten überall in Korea Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden schiessen. Die Silhouette von Hochhäusern, die irgendwo auf dem Land verloren zwischen Reisfeldern in den Himmel ragen, hat etwas beinahe Surreales.

Lob der Betonburg

Die Radikalität des Wandels der koreanischen Gesellschaft lässt sich am auffälligsten an der Veränderung der Architektur ablesen: von stroh- und ziegelgedeckten ebenerdigen Häusern zu Hochhäusern mit 20 bis 30 Stockwerken. Der Aufstieg Koreas zu einer Wirtschaftsnation wurde vom Wachsen der Architektur in die Höhe begleitet. Die dichte Vernetzung mit Breitbandkabeln in Korea wäre ohne die Infrastruktur der Hochhaussiedlungen nicht möglich gewesen. Lange glaubte man, der Boom der «Appat» liege an der Knappheit des Bodens, aber nun ist nicht mehr davon die Rede. Denn «Appat» verkörpert inzwischen einen bestimmten, positiv besetzten Lifestyle. Diese grosse Vorliebe der Koreaner für das «Appat» hat daher mittlerweile Soziologen auf den Plan gerufen. Sie sollen Deutungen liefern für ein in Ostasien einmaliges Phänomen.

Dabei hob der Bau von Hochhäusern überhaupt nicht vielversprechend an. Im Gegenteil: Die ersten Hochhäuser mussten gegen den erheblichen Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt werden. 1958 wurden die ersten Hochhäuser in Seoul in Anwesenheit des damaligen Präsidenten Rhee Sungman eröffnet. Dabei pries er die Betonburg, die von den Koreanern noch misstrauisch beäugt wurde, als Symbol der Modernität. 1964 konnten die nächsten eingeweiht werden. Aber die Bauunternehmer hatten grosse Schwierigkeiten, Käufer und Mieter für die Wohnungen zu finden. Die Koreaner vermissten Gärten und Höfe, monierten auch, dass es nicht möglich sei, mit Nachbarn ein Gemeinschaftsleben zu führen.

Neben derlei durchaus nachvollziehbaren Einwänden gingen andere, wildere Gerüchte um: Die Luft sei zu dünn, hiess es, und man werde krank so hoch oben. Um die skeptischen Koreaner von der Bewohnbarkeit zu überzeugen, gingen die Baufirmen sogar so weit, Mäuse in Wohnungen auszusetzen. Ihr Überleben sollte beweisen, dass auch Menschen in solchen Wohnungen leben könnten, doch bis Ende der sechziger Jahre war die Skepsis ungebrochen. Die Wende kam Anfang der siebziger Jahre, als Boden- und Immobilienspekulation zum Geschäft schlechthin wurde. Bis dahin hatte der Boden für die Koreaner, der bäuerlichen Tradition entsprechend, einzig als Ackerboden Bedeutung. Nun begann man aber Autobahnen und ganz neue Stadtviertel zu bauen, so dass Grundstückbesitzer von heute auf morgen steinreich wurden. Im Zuge der immer steigenden Bodenpreise und des Baubooms verwandelten sich die Wohnungen auch zu Spekulationsobjekten, mit deren Hilfe viele auch zu einem ansehnlichen Vermögen kamen.

In den siebziger und achtziger Jahren stiegen die Preise der «Appat» ständig. Die Baufirmen konnten nie die Nachfrage befriedigen, so dass oft alle Wohnungen schon vergeben waren, bevor man überhaupt begonnen hatte zu bauen, und jede Regierung scheiterte beim Versuch, die Immobilienpreise in den Griff zu bekommen. Massenweise wurden traditionelle Häuser abgerissen und an deren Stelle neue Hochhäuser aufgezogen, ebenso ging die Sanierung der Slumviertel vor sich: Man machte daraus Siedlungen von Hochhäusern. Dabei kümmerte man sich, besonders in der Anfangsphase, wenig um ein städtebauliches Gesamtkonzept, geschweige denn um die Schönheit der Stadt. Heute leben 47,3 Prozent aller koreanischen Familien in «Appat». In Seoul liegt der Prozentsatz sogar bei 50,3 Prozent. Am höchsten liegt der Satz im Gangnam-Viertel in Seoul, das als die teuerste und schickste Gegend in ganz Seoul gilt: 75,8 Prozent.

Grosse Preisunterschiede

Die Begeisterung für das Leben in den Hochhäusern ist in Korea noch immer ungebrochen, ein Faktum, das Europäer in Erstaunen versetzt. Die schönsten und bekanntesten Schauspielerinnen haben das lukrative Werbegeschäft für neue Hochhaussiedlungen unter sich aufgeteilt, ein Indiz dafür, wie boomend dieser Bereich noch ist. Zu Beginn der Hochhausbauten waren die Grösse und die Ausstattung (drei bis vier Zimmer mit Küche und Bad) überall ähnlich, aber heute hat man eine grosse Auswahl: von 40 bis 50 Quadratmeter kleinen Wohnungen bis zu 400 Quadratmeter grossen Penthouses mit luxuriösen Innenausbauten, Parkgaragen inklusive. In der Regel kümmert sich die Hausverwaltung mit Hilfe von Personal um Bewachung, Reinigung des Gebäudes und Pflege der Gartenanlage. Wie in Europa gibt es auch in Seoul grosse Preisunterschiede, die wesentlich von zwei Faktoren abhängen: Qualität der Schulen und Wohngegend. Da für Koreaner die Erziehung der Kinder die höchste Priorität besitzt und von der Auswahl der Schule der Besuch einer Eliteuniversität abhängt, strömen Eltern in Gegenden, in denen beide Voraussetzungen gegeben sind, und treiben so die Immobilienpreise dort in die Höhe. Es ist üblich, dass man in Homepages von Immobilienfirmen auch ausführliche Informationen über Schulen der Gegend findet. Das «Appat» ist zu einem Kriterium geworden, mit dessen Hilfe man den sozialen Hintergrund eines Menschen taxiert. Man fragt daher oft, wo man wohnt. Die luxuriösen Hochhaussiedlungen sind bekannt und dienen so als Statussymbol.

Auf die Frage, was die Koreaner an Wohnungen in Hochhäusern schätzen, hört man häufig: Es ist bequem, praktisch und sicher. Man habe gute Lebensqualität. Man sei mobil und ein «Appat» schliesslich eine gute Geldanlage. Die Befürchtung, die alte dörfliche Lebensweise würde durch die neue Wohnform ganz verschwinden, hat sich nicht ganz bewahrheitet. Zwar hat die neue Lebensweise einerseits zu einer gewissen Anonymisierung in Städten geführt, aber andererseits hat die dichte Ballung von Menschen unter einem Dach eine neue Form von Gemeinschaft entstehen lassen. Die Koreaner haben ihren bäuerlich- dörflichen Gemeinschaftssinn ins Hochhaus hinübergerettet, wenn auch ein solcher Sinn manchmal in Konformitätsdruck ausarten kann.

Nachahmen und Mitgehen

So wurden diejenigen Bewohner von Hochhäusern, die während der Fussball-Weltmeisterschaft keine Fahne heraushängten, gebeten, es wie alle anderen zu tun, um den Geist der Gemeinschaft zu stärken. Die Bewohner von manchen Hochhäusern handeln auch zusammen, damit die Immobilienpreise ihrer Wohnungen steigen. Frauen sind es in der Regel, die sich hier engagieren, da sie in Korea das Familiengeld verwalten und es auch investieren. Guter Nachbarschaftskontakt wird auch gepflegt, und die gegenseitige Hilfe funktioniert.

Es liegt im koreanischen Nationalcharakter, dass man sich nur wohl fühlt, wenn man mit der Mehrheit geht. Die Einzelnen fühlen sich unsicher, sobald sie abseits stehen. Nachahmen und Mitgehen sind wichtige Elemente in der Funktionsweise der Gesellschaft. In Ballungszentren lässt sich gut und ständig beobachten, was vor sich geht, und man bemüht sich, so zu sein wie die anderen, und dieser Prozess beschleunigt seinerseits die Dynamik der gesamten Entwicklung.

Gut vier Jahrzehnte leben die Koreaner nun in Hochhäusern, und eine neue Generation ist herangewachsen, die keine andere Heimat kennt als die Wohnungen in der Höhe. Diese Generation ist in einer bis dahin unbekannten Urbanität gross geworden. Die Sehnsucht, die die alte Generation noch nach der ländlichen Heimat hegte, ist etwas Fremdes für sie. Das harte Urteil der Kritiker dieser Entwicklung, nämlich dass alle Koreaner allmählich zu Sklaven der «Appat» werden, mag übertrieben klingen, aber mit der zunehmenden Manie scheint auch die Skepsis zu wachsen. Ob aber in naher Zukunft eine Umkehrung dieser Entwicklung zu erwarten ist, lässt sich noch nicht voraussehen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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