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Wege aus der Krise der russischen Baukunst
Neue Zürcher Zeitung

Ein Gespräch mit dem Moskauer Architekten Ewgeni Ass

Obwohl in Russland viel gebaut wird, steckt die russische Architektur in einer Krise. Als einer der wenigen herausragenden Architekten gilt der 62-jährige Ewgeni Ass. Er hat sich mit seinen Bauten, aber auch als Theoretiker und Publizist einen Namen gemacht. Der Moskauer Professor leitet das russische Projekt für die diesjährige Architekturbiennale in Venedig. Marina Rumjanzewa sprach in Moskau mit Ewgeni Ass.

29. September 2006 - Marina Rumjanzewa
Herr Ass, seit der Perestroika wird in Russland viel gebaut. Doch etwas architektonisch Wertvolles scheint dabei nicht entstanden zu sein - weder im In- noch im Ausland hat die neue russische Architektur bis jetzt ein positives Echo gefunden.

Ewgeni Ass: Es war nicht alles nur schlecht, in letzter Zeit sind auch einige, wenn auch nicht viele, interessante Projekte realisiert worden. Sie sind zwar nicht gross bekannt geworden: Für Russland waren sie nicht sensationell genug, für das Ausland nicht interessant genug, da sie nur einen Widerhall der internationalen Haupttendenzen darstellen und damit im Grunde «sekundär» sind. Wie eigentlich alles, was man heute in Russland baut. Zurzeit gibt es hier leider keine Konzepte, keine inhaltlichen oder formalen Ideen, die etwas wesentlich Neues zur Weltarchitektur beisteuern oder dieser Impulse geben könnten - so wie es die russische Avantgarde der 1920er Jahre tat.

Woran liegt das?

Es gibt mehrere Gründe dafür: Jahrzehntelang waren wir isoliert, aus dem internationalen Architekturdiskurs ausgeschlossen. Wir haben bestimmte Entwicklungen gar nicht mitgemacht. Dazu war die Architektur in Russland sehr lange völlig unbedeutend und wurde von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Es gab nicht einmal einen Architekturdiskurs innerhalb des Landes. Wir haben eben vieles verpasst und das Verpasste bis heute nicht nachgeholt.
Architektonischer Niedergang

Doch gerade seit ein paar Jahren läuft im Lande eine heftige Architekturdebatte.

Sie wurde durch den Bauboom ausgelöst und hat leider vorwiegend einen Skandal- und Sensationscharakter: Erst wenn etwas historisch Wertvolles abgerissen, etwas Fragwürdiges oder «Verrücktes» geplant wird, wird es breit besprochen. Es kommt zwar immer öfter zu ernsthaften Diskussionen um grundlegende Fragen der Architektur, doch handelt es sich um erste Schritte. Es gibt noch immer keine selbständige, vertiefte Auseinandersetzung mit der Materie wie im Westen, wo die Architektur seit langem eine der wichtigsten Komponenten der Kultur ist. Am besten sieht man das wahrscheinlich in Buchhandlungen: Diese bieten nur wenige Architekturbücher an. In den letzten vierzig Jahren ist hierzulande praktisch keine einzige Monographie eines Architekten erschienen.

Die Phase des schlimmsten Durcheinanders in der russischen Architektur geht offenbar langsam zu Ende. Ist es für Sie erkennbar, in welche Richtung die russische Architektur sich heute entwickelt?

Es ist für mich nicht einmal eindeutig erkennbar, in welche Richtung unser Land sich entwickelt. Russland ist immer noch völlig verwirrt - wirtschaftlich, politisch, kulturell. Das gilt auch für die Architektur. Im Westen wurde ja während des ganzen 20. Jahrhunderts an Kriterien und Werten geschliffen, so dass dort heute allen alles klar ist, was mir mitunter auch Angst macht. In der russischen Architektur ist in diesem Sinne nichts klar; nichts ist reflektiert. Da noch kein gültiges Wertesystem existiert, kann man über die Zukunft nur spekulieren.
Sinn für das Dekorative

Auffällig ist die Vorliebe russischer Architekten für üppige Verzierungen.

Das hat mit den Besonderheiten des nationalen ästhetischen Bewusstseins zu tun. Es ist, milde gesagt, ein sehr «nichtprotestantisches», dekoratives Bewusstsein. Das war sogar in den späten Sowjetzeiten, als man sehr schlicht baute, zu spüren. Alles war einfach und streng, doch dann gab es plötzlich eine goldene Decke oder ein bronzenes Basrelief. Die minimalistisch-abstrakten Traditionen, die in der Stalinzeit «abgewürgt» wurden, sind im russischen kulturellen Bewusstsein nicht mehr verwurzelt. Zudem denken Russen allgemein zu literarisch und zu theatralisch. Architekten denken nicht in erster Linie in Formen, sondern inszenieren Räume. Ich selbst empfinde Architektur als ein abstrakteres Medium.

Schon zu Sowjetzeiten galten Sie als «unbeugsamer Avantgardist» und haben ziemlich unsowjetisch gebaut. Hatten Sie gegen die ästhetische Zensur zu kämpfen?

Eine Zensur im klassischen Sinne gab es eigentlich nicht. Denn anders als zur Stalinzeit war in den sechziger bis achtziger Jahren das, was man durfte oder nicht durfte, sehr schlecht formuliert: Es gab keine klaren Direktiven, und es wurde nicht auf der ideologischen Ebene diskutiert. Man mischte sich zwar in meine Arbeit ein, aber eher auf der Ebene: «Was haben Sie da für seltsame Stufen?» Dies war für die Architekten ein weniger grosses Problem als die sehr harte, alles reglementierende Baupolitik und das sehr kleine Sortiment an Baumaterialien. Diesen Mangel an allem zu überwinden, war wohl der schwierigste Kampf, den die Architekten führen mussten.

Wo liegen heute, da es diese Probleme nicht mehr gibt, die Hauptschwierigkeiten?

Sie liegen in der Spezifik des Marktes. Da ist zunächst die unglaubliche Bürokratie: Für den Bau eines städtischen Gebäudes muss man über zweihundert Bewilligungen einholen. Ein weiteres Problem ist die Korruption, die unter anderem dadurch begünstigt wird, dass es kaum öffentliche Wettbewerbe gibt. Obwohl es einige gab, wurden in den letzten Jahren alle bedeutenden Gebäude in Moskau im Direktauftrag gebaut. Und das liegt nicht nur an den Behörden. Private Investoren und Auftraggeber sind nicht bereit, Arbeit und Geld in Wettbewerbe zu investieren, bei denen dann «irgendwelche fremde Leute» die Entscheidungen fällen.
Quantität statt Qualität

Ihre minimalistische Architektur ist für russische Verhältnisse sehr speziell. Wer sind Ihre Kunden?

Nicht die Intelligenzia im klassischen Sinne. Die kann sich meist immer noch keine Villen leisten. Meine Kunden sind zwar durchwegs Akademiker - in erster Linie sind sie «Leute des Business» und damit auch Neureiche.

Und welche Wünsche haben sie in der Regel?

Alle Kunden beginnen das Gespräch immer gleich. Sie schildern mir nicht etwa ihre ästhetischen Ideale oder ihre Wohnvorstellungen, sondern sie nennen mir immer zuerst eine Zahl. Da sagt einer etwa: «Ich möchte ein Haus von 1000 Quadratmetern haben.» 1000 Quadratmeter sind heute für Menschen mit Geld das Normale! Im Durchschnitt wünscht er vier mindestens 30 Quadratmeter grosse Schlafzimmer, ein Wohnzimmer von mehr als 60 Quadratmetern Fläche, natürlich mit Kamin, ein Billardzimmer, ein Schwimmbad von etwa 15 Metern Länge usw. Das heisst, seine Vorstellungen von Qualität sind vor allem mit Quantität verbunden. Wichtig ist die Repräsentation. Die Wünsche der Kunden haben wenig mit Lebensprozessen zu tun. Wenn ich den Kunden dann frage, was er in einem 200 Quadratmeter grossen Flur zu machen gedenkt, kann er das nicht sagen. Um ein Haus zu bauen, muss ich aber vor allem verstehen, wie mein Kunde leben will. Gerade das können die wenigsten formulieren. Denn in der allgemeinen Verwirrung haben die meisten Leute keine klaren existenziellen Werte. Es braucht immer sehr viele Gespräche, bis ich für meine Arbeit wenigstens ein paar Anhaltspunkte herausfinde. Einmal liess ich eine Kundin einen richtigen Aufsatz schreiben! Man kommt heute als Architekt in ganz neue Rollen.

Wie haben sich die Rolle und die Position des Architekten in der Gesellschaft verändert?

Zunächst hat unser Beruf heute ein viel grösseres Renommee. Im allgemeinen Bewusstsein hat sich der Architekt von einem sowjetischen Angestellten in eine künstlerische Person gewandelt. Er stellt eine gewisse Autorität dar, deren Meinung man nicht mehr ignorieren kann. Es gibt heute Architekten, die ständig in den Medien präsent sind. Dabei sind sie weniger als Architekten denn als öffentliche Figuren von Bedeutung. Das breite Publikum weiss kaum, was sie bauen, und interessiert sich dafür nicht gross. Da ist die Rolle des Architekten im Westen eine ganz andere. Vor einiger Zeit war ich in der Schweiz und ass mit Peter Zumthor in einem Restaurant. Da kam ein älterer Herr auf ihn zu und sagte, er sei ein begeisterter Fan seiner Architektur. So etwas kann ich mir in Russland heute noch gar nicht vorstellen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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