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Raum und Intimität in der Megalopolis
Neue Zürcher Zeitung

Eine eher konventionelle 7. Ausgabe von ArchiLab in Orléans

13. November 2006 - Marc Zitzmann
ArchiLab, die Schau für experimentelle und zukunftsweisende Architektur des Fonds Régional d'Art Contemporain du Centre, wartet stets mit Überraschendem, Anregendem, auch Irritierendem auf. Die siebte Ausgabe der zur Biennale gewordenen Veranstaltung ist jetzt allerdings ungleich braver ausgefallen als ihre Vorgängerinnen. Liegt das daran, dass erstmals ein Länderschwerpunkt gesetzt wird - und dass Japan nicht mehr unbedingt ein Land ist, das mit avantgardistischen Verrücktheiten Aufsehen erregt? Liegt es daran, dass diesmal fast ausschliesslich realisierte Projekte gezeigt werden - und diese zwangsläufig räsonabler wirken als hochfliegende Entwürfe und Computersimulationen? Oder liegt es einfach am Thema: kleinformatige (Wohn-)Bauten, die «sich in der Stadt einnisten»?

Bewohnbares Puppenhaus

«Faire son nid dans la ville», die von Akira Suzuki und Mariko Terada kuratierte Ausstellung im Site des Subsistances Militaires in Orléans, zeigt Arbeiten von Architekten, die fast alle in den sechziger Jahren geboren wurden. Ein paar Projekte fallen wegen ihrer ländlichen Lage oder wegen ihrer Grösse und ihres Typus - Bahnhöfe oder Museen - aus dem Rahmen und wären besser weggelassen worden. Bei der Mehrzahl der Bauten handelt es sich um Einzelhäuser, die in und um Tokio auf knappstem Raum für verhältnismässig wenig Geld erbaut wurden.

Japans Hauptstadt besteht - abgesehen von einigen Hochhausquartieren - aus einem schier endlosen Meer von niedrigen und meist freistehenden Einfamilienhäusern. Die Kombination von enormer Bevölkerungszahl und relativ geringer Verdichtung erklärt die gewaltige Ausdehnung dieser «Megalopolis mit Dorfcharakter». Sie erklärt auch mit, weswegen Grundstücke oft teurer sind als die Gebäude, die darauf stehen, und warum jede auch noch so unbequem zu bebauende Parzelle genutzt wird. Einen Extremfall - aber keinen Einzelfall - bildet etwa Kazuko Akamatsus «House YK/Islands» (2005): ein 40 Meter langer und nur 4 Meter breiter Einheitsraum, in dem Bad, Küche und Wohn-/Esszimmer ineinander übergehen und die Zimmer auf zwei Mezzanine verlegt sind.

Viele der Bauten haben eine Grundfläche von weniger als 40 Quadratmetern, müssen also in die Höhe gehen, um genügend Raum für eine Familie zu bieten. Ein originelles Beispiel ist der fünfstöckige «House Tower» (2006) des Ateliers Bow- Wow, der auf einer Grundfläche von lediglich 18 Quadratmetern gut 65 Quadratmeter Nutzfläche bietet. Eine hängende Treppe durchschneidet den Turm senkrecht, die Stockwerke auf beiden Seiten sind in der Höhe verschoben, so dass sich ungewöhnliche Raumperspektiven ergeben. Inwieweit das bewohnbare Puppenhaus freilich alltagstauglich ist, fragt man sich hier ebenso wie bei Oki Satos «Drawer House» (2003), in welchem alles Funktionale in riesigen Schubladen untergebracht ist: Bett, Bücherbord und Badewanne werden aus der Wand gezogen.

Abkapselung oder Exhibition?

Für viele Häuser stellt sich das Problem des Lichtmangels. Yuko Nagayamas «House on a Hill» (2006) ist zwischen einer Strasse und drei Nachbargebäuden derart eingeengt, dass der Architekt es ringsum durch hohe Mauern abgeschirmt hat. Tageslicht kommt nur von oben und indirekt: Durch ein nach Süden hin geneigtes weisses Dach wird es in einen verglasten Patio reflektiert, der es in die übrigen Räume weiterleitet. Noch radikaler verschliesst sich Masaki Endohs «Natural Ellipse» (2002) gegen die Aussenwelt: Den eiförmigen Turm umgibt eine Haut aus weissem Kunststoff, die nur wenige Fenster durchbrechen. Nach oben hin öffnet sich der Bau zu einem Krater, dessen Glasboden das Licht über eine Wendeltreppe bis zum Untergeschoss führt.

Diese Art von Abkapselung ist für die dokumentierten Arbeiten allerdings untypisch. Die meisten zeigen sich von einer nach europäischem Empfinden schon fast exhibitionistischen Offenheit. Zwischen den Räumen von Kazuyo Sejimas «Haus im Pflaumenhain» (2003) befinden sich zahlreiche unverglaste und türlose Öffnungen, durch welche die Familienmitglieder ständig in Kontakt miteinander stehen. Sind die raumhohen Läden von Mikio Tais «Paravent-Haus» (2002) zusammengefaltet oder jene von Shigeru Bans «Glasladen-Haus» (2003) hochgezogen, ist von der Strasse aus so ziemlich alles zu sehen, was sich im Innern abspielt.

Noch weniger Intimität bieten zwei faszinierende, aber auch leicht beunruhigende Kuben von Yasuhiro Yamashita: «Crystal Brick» besteht ganz aus Glasziegeln, «Cell Brick» (beide 2004) aus übereinandergestapelten Stahlkästen, zwischen denen verglaste Scharten die visuelle Trennung zwischen innen und aussen aufheben. Ob endlich Ryue Nishizawas «Moriyama House» (2005) selbst nach japanischen Kriterien bewohnbar ist? In zehn freistehenden und mit riesigen Fenstern versehenen Stahlkuben unterschiedlicher Grösse befinden sich fünf Mietwohnungen, zwei Küchen, zwei Bäder und ein Dienstraum. Gibt es wirklich Architekturfanatiker, die bereit sind, vor dem Blick allfälliger Passanten vom Wohnkubus zum Badkubus oder zum Küchenkubus zu pilgern?

[ Bis 23. Dezember. Katalog: Editions HYX, Orléans 2006. 296 S., Euro 45.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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