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Hinauf in die Moderne
Neue Zürcher Zeitung

Andreas Bernards Geschichte des Fahrstuhls

21. März 2007 - Angela Gutzeit
Bis in den Himmel bauen und ein Zeichen von Macht und Wehrhaftigkeit setzen: Die westliche Moderne griff Ende des 19. Jahrhunderts diesen alten Traum aller Herrscher wieder auf, ihre politische Bedeutung in Übereinstimmung zu bringen mit dem Sitz ihrer Machtausübung in den höheren Lagen. Waren es im toskanischen San Gimignano, dem «Manhattan des Mittelalters», die Geschlechtertürme, die je nach Höhe den Rang der Patrizierfamilien symbolisierten, sind es seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Bürotürme von Firmen und Banken mit ihren Chefetagen in den oberen Regionen, die Geld und Einfluss signalisieren.

Keine Grenzen in der Vertikalen

Bewegte man sich in den steinernen Türmen des Mittelalters mit Leitern bis zu etwa hundert Metern aufwärts, ist der Vertikalen in der Epoche der Urbanisierung dank der Stahlskelettbauweise und der Erfindung des Fahrstuhls - so scheint es - keine Grenze mehr gesetzt. Der Fahrstuhl vor allen Dingen ist es, so vermittelt uns das Buch des Kulturwissenschafters und Journalisten Andreas Bernard, der in unsere westliche Lebenswelt, in unser kollektives Vorstellungsbild vom Wohnen, Residieren, vom Präsentieren und Kommunizieren eine tiefe Bresche schlägt. Bis in literarische, filmische, medizinisch-pathologische, psychologische, technische, architektonisch-städtebauliche, soziologische und sittengeschichtliche Manifestationen spürt es den Veränderungen nach, die der Aufzug mit sich brachte.

Von dem reichlich nüchternen Titel «Die Geschichte des Fahrstuhls» lässt sich nicht gerade auf eine aufregende Lektüre schliessen. Umso angenehmer die Erfahrung, welche Wissensschätze diese lesenswerte Studie, der eine Dissertation zugrunde liegt, parat hält und wie klug der Autor sie miteinander in Verbindung bringt. Walter Benjamins Verständnis von Geschichte schwingt mit, wenn Andreas Bernard seine Methode beschreibt, das Vergangene durch die rückblickende Betrachtung nicht zu verdoppeln, sondern Umschlagpunkte in der Geschichte kenntlich zu machen, das Unbewusste der Epoche herauszupräparieren, um deren Wesen zu unserem Nutzen zu erhellen. Und auch Michel Foucault ist ein ums andere Mal Bernards Gewährsmann.

Der Fahrstuhl trat seinen Siegeszug um 1850 von New York aus an, um mit reichlicher Verzögerung sich schliesslich auch in Europa zu etablieren. In der Studie liegt der Schwerpunkt auf Berlin. Inwieweit der Fahrstuhl als «Transitkanal» neue Erfahrungen ermöglichte und Imaginationen vom Zusammenleben anregte, das soziale Gefüge in Wohn- und Arbeitsbereichen ja auch tatsächlich grundsätzlich veränderte und die Urbanisierung vorantrieb, davon erzählen die vier Kapitel dieses Buches.

Eine der wenigen Abbildungen des Bandes zeigt Carl Spitzwegs Gemälde «Der arme Poet» von 1839. Das beliebte Motiv des Künstlers in der Dachstube hatte sich wenige Jahrzehnte später schon überlebt. Joseph Roth liess in seinem Roman «Hotel Savoy» in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts seinen Helden Gabriel Dan noch über die «Demarkationslinie» zwischen dem dritten und vierten Stockwerk eines Hotels sinnieren - wobei das Dachgeschoss die Habenichtse beherbergte, während unten, ohne denen im Obergeschoss zu begegnen, die feine Gesellschaft logierte. Zu dieser Zeit hatte jedoch der Einbau des Fahrstuhls in Hotels, Geschäfts- und Wohnhäusern schon begonnen, die Verhältnisse umzukehren.

Ort unvermeidlicher Intimität

Die Dachstube wandelte sich zur Hotelsuite, zum Penthouse, zur Chefetage. Gleichzeitig erfuhren die Gebäude durch den lotrechten Schacht eine Umstrukturierung. Treppenhäuser verloren ihre Bedeutung, die Auf- und Abwärtsbewegung in Gebäuden wurde demokratisiert, wie Bernard betont: Jeder kommt mit jedem im Fahrstuhl in Berührung. Die Senkrechte des Aufzugsschachts findet ihre Entsprechungen in horizontalen Begradigungen der Verkehrswege der Grossstädte. Bernard verbindet diese Umwandlungsprozesse geschickt mit den Träumen und Fiktionen einer Epoche. Da, wo die Technik Vorgänge uneinsehbar macht - der Fahrstuhl kommt auf Knopfdruck und verschwindet im Schacht -, wuchern Ängste und Pathologien. In Filmen wie «Fahrstuhl zum Schafott» brechen sie sich Bahn. Der Fahrstuhl, dieser «bewegliche Ort der Moderne», wird von Bernard aber auch als Ort der unvermeidlichen Intimität, der Beichte und Läuterung, sowie der Schicksalsgemeinschaft im Falle des Steckenbleibens untersucht.

Man könnte endlos weitererzählen von diesem Buch, das übrigens eine schönere Aufmachung verdient hätte. Und auch endlos weiterdenken. Unwillkürlich fallen einem die Menschen im World Trade Center ein, für die die Wolkenkratzer im September 2001 zur Falle wurden. Kein Fahrstuhl fuhr mehr, und der Weg durchs Treppenhaus nach unten war weit, für viele zu weit. Vielleicht ist es ja nicht falsch, dieses Buch als eine unausgesprochene Reaktion zu bezeichnen auf den Schock, der die westliche Welt mit den Bildern der brennenden Türme ereilte.

[ Andreas Bernard: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne. Fischer-Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main. 334 S., Fr. 30.-. ]

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