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Paradies der Moderne?
Paradies der Moderne?, Foto: Jan Friedrich
Paradies der Moderne?, Foto: Jan Friedrich
Bauwelt

Chandigarh wird 55

20. April 2007 - Jan Friedrich
In Delhi wird man ständig gefragt, wohin die Reise als Nächstes gehen soll. Unsere Antwort „Chandigarh“ sorgt immer für helle Begeisterung. Zwar ist kei­ner je dort gewesen: nicht der Rikscha-Fahrer, der uns durch den mörderischen Verkehr zum Bahnhof zu bringen versucht, und auch nicht der fliegende Händler, der uns zuvor fast eine Stunde lang auf den Fersen war. Aber alle wissen: „Chandigarh is the most beau­­ti­ful city of India“ und wurde von einem „famous french architect“ geplant. Aller Kritik am modernen Städtebau zum Trotz verkörpert Le Corbusiers Planstadt in Indien unvermindert die Verheißung auf ein besseres Leben.

Der Sababdi-Express verbindet zweimal täglich Delhi mit Chandigarh. Für die 247 Kilometer lange Strecke braucht der Schnellzug nur gut drei Stunden – eine für indische Verhältnisse rasant kurze Reisezeit. Der klimatisierte Waggon ist voller Passagiere, die offensichtlich einer westlich orientierten Mittelschicht an­gehören. Die Dame auf dem Nachbarsitz, eine Geschäftsfrau um die vierzig, schwärmt, zwischen im­-mer wieder abreißenden Mobiltelefongesprächen, von Chandigarh. Alle Inder würden gerne dort wohnen: Die Stadt habe den höchsten Lebensstandard des Lan­des, sei grün und sauber, die Luft nicht ungenießbar von Abgasen verunreinigt, der Verkehr fließend – und es liefen keine Kühe auf den Straßen herum. Doch so viele Vorzüge hätten ihren Preis. Die Grundstücke und Immobilien in Chandigarh seien so teuer wie nir­gends im Land, entsprechend hoch die Mieten. Somit sei die Stadt für Normalverdiener – damit meint sie die zu einigem Wohlstand Gekommenen wie sie selbst – inzwischen unerschwinglich.

Ein Blick zurück: Nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 wird die Region Punjab in einen indischen und einen pakistanischen Teil gespalten. Die alte Kapitale Lahore liegt nun in Pakistan. Schon 1948 fällt die Entscheidung, in der nur dünn besiedel­ten Ebene im Vorfeld des Himalaya eine neue Hauptstadt zu bauen. „Auf dass diese Stadt eine neue Stadt werde, Symbol der Freiheit Indiens, ohne Fesseln durch Tradition aus der Vergangenheit, ein Ausdruck des Glaubens der Nation an die Zukunft“, so formuliert Jawaharhal Nehru, der erste indische Minister­prä­sident, seine Vision für Chandigarh, als er im April 1952 den Grundstein legt. 1966 wird der Bundesstaat erneut gespalten, in einen von Sikhs dominier­ten Teil, weiterhin Punjab genannt, und in das hin­du­istisch geprägte Haryana. Chandigarh ist seither gemeinsame Hauptstadt beider Regionen, gehört selbst jedoch zu keinem der Staaten dazu, sondern wird als Unionsterritorium von der Bundesregierung in Delhi verwaltet. Punjab und Haryana sind der „Brotkorb“ Indiens. Nahezu ein Viertel des indischen Weizens und ein Drittel der Molkereiprodukte werden hier erzeugt. Das Bruttoeinkommen ist doppelt so hoch wie im indischen Durchschnitt.

Das politische Kalkül Nehrus, mit einer gänzlich neuen Stadt ein Zeichen für das moderne Indien zu setzen, soll zwar mit ausländischer Unterstützung um­gesetzt werden, Voraussetzung ist aber, dass die Architekten nach Indien übersiedeln. Auch wenn Le Cor­busier seine persönliche Anwesenheit als „Planning Advisor“ auf einige Aufenthalte beschränkt, kann er diese Maßgabe erfüllen: durch den Einsatz seines Cousins Pierre Jeanneret, der bis 1965 dauerhaft in Chandigarh bleibt, und der Mitarbeit der in Afrika auslandserprobten Briten Maxwell Fry und Jane Drew, die mit der Entwicklung des Wohnungsbaus betraut werden und drei Jahre lang vor Ort sind. Streng genommen ist Le Corbusier nur die zweite Wahl. Ursprünglich hat die Regierung den US-Amerikaner Albert Mayer, der während des Zweiten Weltkriegs in Indien gearbeitet hat, mit der Planung der neuen Hauptstadt beauftragt. Als dessen Partner Matthew Nowicki bei einem Unfall ums Leben kommt, gibt Mayer den Auftrag zurück. Le Corbusier übernimmt die grobe städtebauliche Struktur von Mayers Masterplan, passt sie jedoch seiner eigenen Vorstellung von Maßstäblichkeit für einen Regierungssitz mit durchaus imperialer Attitüde an: Aus Mayers Gartenstadt-Layout mit geschwungenen Hauptstraßen und unterschiedlich großen „Superblocks“ wird bei Le Corbusier die rechtwinklige Rasterstadt aus je 1200 x 800 Meter großen „Sektoren“.

Wer heute die schnurgeraden Magistralen entlangfährt, wird dennoch unwillkürlich „Gartenstadt“ denken. Vielleicht sogar nur „Garten“ – und die „Stadt“ zunächst vergebens suchen. Das Gefühl, man befände sich längst in der Mitte einer Metropole, die fast die Eine-Millionen-Einwohner-Grenze genommen hat, und nicht in deren Außenbezirken, will nicht so recht aufkommen. Denn die 70 Meter breiten Hauptstraßen, die die Sektoren voneinander trennen, sind von derart üppiger Vegetation begleitet, dass die im Durchschnitt nur dreigeschossigen Häuser, die zudem ausschließlich zum Sektoreninnern orientiert sind, nahezu vollständig verschwinden; die zahlreichen Parks in der Stadt tun ein Übriges. Ausnahmen bilden allein jene Abschnitte, an denen Geschäftszeilen oder öffentliche Gebäude stehen. Nein, die aktuelle europäische Vorstellung von Urbanität greift hier nicht. Wer zuvor allerdings einige Tage im Moloch von Delhi zugebracht und dort die ins Chaos gestürzte vormoderne Stadt erlebt hat, der wird Chandigarh kaum als unstädtisch empfinden, sondern nur als ausgesprochen erholsam. Und nahezu körperlich die einstige Motivation dafür spüren, der Vision einer auf­gelockerten Stadt nachzugehen.

Seinen bei genauerem Hinsehen doch vorhandenen städtischen Charme offenbart Chandigarh im Innenbereich der Sektoren. Diese sind als „self sufficient neighbourhoods“ geplant, als selbständige „Städte in der Stadt“. So sind in jedem der Sektoren infrastrukturelle Einrichtungen, Schulen, Sporteinrichtungen, Theater, Kinos, Gesundheitszentren und Einkaufsmöglichkeiten, vorhanden. Je nach Dichte, in einem Sektor leben zwischen 5000 und 25.000 Menschen, changiert die Atmosphäre zwischen aus­gesprochen beschaulich bis laut und geschäftig. Die Gebäude sind für indische Verhältnisse fast aus­nahms­­los in gutem Zustand. So sehr vor allem die standardisierten Geschäftsgebäude von ihren Nutzern auf landestypische Art auch vereinnahmt wurden – in grel­len Farben gestrichen, mit Werbung zugekleistert, zu Halterungen für Klimaanlagen reduziert –, der öffentliche Raum ist auffallend gepflegt und wird größtenteils als gesellschaftlicher Ort genutzt: als Treffpunkt, zum Flanieren. Auch wenn immer wieder freie Flächen dazwischen liegen, bei denen unklar bleibt, ob es sich um eine vernachlässigte Grünanlage oder eine noch zur Bebauung stehende Brache handelt.

Kaum zu unterschätzen für den visuellen und räumlichen Zusammenhalt von Chandigarh sind die strengen Regeln des „architectural control“, eine Art „Gestaltsatzung“, die Le Corbusier für die ganze Stadt festgelegt hat. Die Regeln reichen, je nach Lage in der Stadt und im Sektor, von der Bestimmung der Ma­terialien (Ziegel, Beton, Holz) über die Festlegung von Baulinien und Formaten für Fenster- und Türöffnungen bis hin zur Verbindlichkeit bestimmter Entwürfe für Geschäfts-, Verwaltungs- oder Sonderbau­ten. Der „architectural control“ ist bisher von allen Chefarchitekten in der Nachfolge Pierre Jeannerets gegen allerlei Begehrlichkeiten eisern verteidigt und immer wieder auf seine Praktikabilität hin überprüft und angepasst worden. Was Chandigarh blüht, falls es diese Regeln irgendwann aufgibt, lässt sich in den bei­den Satellitenstädten begutachten, die in den letzten Jahren jenseits der Stadtgrenze im Punjab und in Haryana entstanden sind – ebenfalls auf dem Prinzip der Sektoren begründet, aber ohne architek­tonisches Regelwerk.

Chandigarh vermittelt dem Besucher heute den Eindruck, die Moderne habe im Kontext des indi­schen Subkontinents ihr Ziel erreicht, nämlich ein zufriedenstellendes Lebensumfeld bereitzustellen. Doch die wirkliche Bewährungsprobe steht der Stadt vermutlich erst noch bevor. Ursprünglich für maximal 500.000 Einwohner geplant, muss Chandigarh jetzt schon über 900.000 Menschen beherbergen; Tendenz steigend. Eine Erweiterung war im Masterplan Le Corbusiers jedoch nicht vorgesehen. Im Gegenteil, ein mehrere Kilometer breiter Gürtel um die Stadt herum sollte unbebaut bleiben. Über diesen Bereich hat die Stadtregierung aber keinerlei Kontrolle, da er auf dem Territorium der beiden benachbarten Bundesstaaten liegt. Ein Konzept, wie Chan­di­garh, etwa durch behutsame Nachverdichtung, wachsen kann, ohne seinen Charakter als Modellstadt der Moderne preiszugeben, ist bislang noch nicht entwickelt worden. Ein Schritt zum Erhalt ist freilich vollzogen: Am 23. Oktober 2006 wurde Chandigarh in die vorläufige Liste der Weltkulturdenkmäler aufgenommen.

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