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Walkürenritt im Mayatempel
Neue Zürcher Zeitung

Ein neues Bühnenhaus zur Eröffnung des 59. Festivals von Aix-en-Provence

Das südfranzösische Opernfestival bot heuer zwei Neuheiten: die Einweihung eines Theaterbaus und Bernard Foccroulles Amtsantritt als Intendant. Erstere enttäuschte, Letzterer verspricht viel.

4. Juli 2007 - Marc Zitzmann
Das Gebäude sei «une métaphore de la montagne», erklärt Paolo Emilio Coalo bei einem Rundgang durch das Grand Théâtre de Provence (GTP). Abgesehen davon, dass das Wort «Metapher» nicht ganz zutrifft: Das am 29. Juni eingeweihte Bühnenhaus von Aix-en-Provence tritt weder in Dialog mit der von Cézanne verewigten Montagne Sainte-Victoire, wie der Architekt des Mailänder Büros Gregotti Associati International rühmt, noch gleicht sein Umriss dem eines Bergs. Allenfalls evoziert das GTP eine Trutzburg oder einen in Stufen ansteigenden Hügel, je nachdem, von welcher Seite man sich ihm nähert. Im Norden und im Westen ist das rechteckige Baugelände von einer Hauptstrasse umschlossen, im Süden von einer überdeckten Eisenbahnbrücke, über die künftig die neugeschaffene Avenue Mozart führen wird. Auf diesen Seiten evoziert der Bau mit seinen hohen und oft langgezogenen Wänden, die von beige-gelblichen Sandsteinplatten getäfelt und hier und da durch schartenartige Fenster durchbrochen sind, eine Festung.

Verpasste Chance für Aix-en-Provence

Im Osten hingegen gemahnt das GTP mit seinen vier Terrassen, die über zwei Treppen und eine Rampe miteinander verbunden sind, an einen stilisierten Mayatempel. Die urbanistische Einbindung mag angesichts des schwierigen Kontexts (Strasse, Bahnviadukt, 12-Meter-Gefälle zwischen Norden und Süden) leidlich gelungen sein. Und in akustischer Hinsicht wird sich die Abfederung der Trägerstrukturen durch 350 spezielle Vibrationsdämpfer wohl auszahlen. Aber ein architektonischer Wurf wie sein unmittelbarer Nachbar, der im Oktober eingeweihte Pavillon noir von Rudy Ricciotti, in dem das von Angelin Preljocaj geleitete Centre chorégraphique national residiert, ist das GTP sicher nicht.

Das bestätigt sich auch im Innern. Über einen von hohen Mauern eingefassten runden Patio, in dem man sich vorkommt wie Daniel in der Löwengrube, gelangt man zur Eingangshalle, an die links das schlauchartige Foyer anschliesst. Der Boden aus poliertem Carrara-Marmor und das grelle, kalte Licht kreis- oder schlangenförmig angeordneter Leuchtstäbe erzeugen hier eine ausgesprochen ungastliche Atmosphäre. Das stumpfe Braunrot der Säulen findet sich auch bei den (bequemen) Sitzen des «italienischen» Saals wieder, während die holzgetäfelten Wände der drei umlaufenden Balkone eine Spur mehr gelblich getönt sind - eine höchst unglückliche Farbabstufung. Gewellte Vorhänge über dem obersten Balkon und über dem Leuchter in Form eines überdimensionierten Heiligenscheins verstärken den konsternierenden Gesamteindruck.

Denkt man an die je von einer ganz eigenen Handschrift gekennzeichneten Bühnenhäuser, die in den letzten Jahren etwa von Santiago Calatrava für Teneriffa, Rem Koolhaas für Porto oder Paul Robbrecht und Hilde Daem für Brügge entworfen wurden - um nur mittelgrosse Säle zu nennen, die wie das GTP von klassischer Musik bis zu Rap, Chanson und Tanz die verschiedensten Genres bedienen -, hat Aix-en- Provence mit dem 44,5 Millionen Euro teuren (und zu drei Vierteln lokal finanzierten) Theaterbau klar eine Chance verpasst. Was erst recht für die unmittelbare Umgebung gilt: das seit 1992 aus dem Boden gestampfte Viertel Sextius- Mirabeau südwestlich der zentralen Place de la Rotonde. Neben 1800 unterirdischen Parkplätzen wurden hier eine Einkaufsstrasse mit den üblichen Ketten sowie Residenzgebäude mit etlichen zehntausend Quadratmetern Wohnfläche erbaut. Auch hier war Vittorio Gregottis Agentur massgeblich beteiligt - wofür man ihr angesichts des banal-pompösen Resultats wahrlich kein Lob aussprechen kann.

Einweihung mit Wagners «Walküre»

Die Daseinsberechtigung des GTP zeigte sich am Eröffnungsabend des Festivals: Richard Wagners «Walküre» ist in einem überdachten Saal mit einem Orchestergraben, der bis zu 105 Musikern Platz bietet, zweifellos besser aufgehoben als im Innenhof des erzbischöflichen Palastes. Dort war letztes Jahr mit «Rheingold» die gemeinsam mit den Salzburger Osterfestspielen unternommene ambitiöse «Ring»-Produktion lanciert worden. Die «Walküre»-Aufführung hinterliess einen zwiespältigen Eindruck. Die Berliner Philharmoniker spielten bis auf wenige Patzer der Blechbläser so brillant, wie man es von diesem Orchester gewohnt ist, aber das Sängerensemble war bloss ehrbar, und Simon Rattles Dirigat wirkte bei aller Flüssigkeit und Plastizität immer wieder auch etwas unverbindlich.

Intendantenwechsel und neue Akzente

Die Akustik bedarf sicher noch der Justierung: Das Orchester klang präsent, aber farblich etwas matt, die Stimmen der Sänger wirkten zum Teil wie elektronisch verfremdet. Wenig überzeugend endlich Stéphane Braunschweigs Inszenierung. Der Regisseur ist bekannt für seinen sensiblen Umgang mit Bühnenwerken, und sein Gespür für Psychologisches erwies sich auch hier als eine Wünschelrute zur Erschliessung des Innenlebens mancher Figuren - etwa jener Sieglindes, die durch eine leitmotivisch eingesetzte Schaukelgeste mit verschränkten Armen sehr feinfühlig charakterisiert wurde. Aber oft illustrierte Braunschweig bloss am Text entlang - im Fall des «Walkürenritts» ziemlich plump -, ohne dass auch nur der Ansatz einer Deutung erkennbar wurde.

Neben der Einweihung des Grand Théâtre gab es heuer noch eine zweite Neuheit am Festival: Bernard Foccroulles Amtsantritt als Intendant. Im Gespräch erklärt der langjährige Brüsseler Operndirektor, er wolle an den grossen Linien der 1998 durch seinen Vorgänger Stéphane Lissner definierten Programmpolitik festhalten, im Detail aber eigene Akzente setzen. So soll die Pflege des heutigen Musikschaffens mit jährlich «mindestens einer» Uraufführung intensiviert werden - bereits vergeben wurden Kompositionsaufträge an Pascal Dusapin und George Benjamin. Des Weiteren hat Foccroulle im Rahmen der von Lissner gegründeten Académie européenne de musique ein Atelier Opéra en création ins Leben gerufen, dessen Ziel es ist, zwölf junge Komponisten, Schriftsteller, Regisseure, Choreografen, bildende Künstler usw. in Kontakt zu bringen und ihnen - heuer unter der Leitung von Dusapin - einen Einblick in die Vielfalt der Prozesse zu vermitteln, die zum Entstehen einer Opernaufführung nötig sind.

«Pädagogik» war schon in Brüssel ein Hauptwort von Foccroulles Vokabular und wird es auch in Aix-en-Provence bleiben. Nicht nur finden die Meisterklassen der Académie mit der Spezialisierung auf Mozart-Gesang und der Betreuung der jungen Instrumentalisten durch Mitglieder der Berliner Philharmoniker eine Neuausrichtung. Auch die Zahl der im schulischen Rahmen angesprochenen potenziellen Besucher von morgen will der neue Intendant in den ersten drei Jahren seines Wirkens auf 3200 verzehnfachen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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