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Das wiedergefundene Haus
Neue Zürcher Zeitung

Das verschollene Haus des Architekten Paul Artaria von der Landi 39 steht unversehrt am Thunersee

Die Architektur der Landesausstellung 1939 ist in Zürich weitgehend verschwunden. Den letzten bedeutenden, grossen Landi-Bau stellt das Kongresshaus von Haefeli Moser Steiger dar. Nun ist aber ein fast unversehrtes Landi-Gebäude wiederentdeckt worden: Das Ferienhaus des Architekten Paul Artaria steht seit 67 Jahren am Thunersee.

12. Juli 2007 - Urs Steiner
«Mein Vater kam am letzten Tag der Landi 39 aus Zürich zurück und verkündete, er habe ein Häuschen gekauft», erinnert sich Rosemarie Kuhn-Kaeser, damals eine junge Frau von 19 Jahren. Seit einiger Zeit hatte die Familie in den späten dreissiger Jahren nach einem geeigneten Haus für ihr «Ländli» am Thunersee gesucht. An diesem Platz mit Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau sollte ein Wochenendhaus entstehen. Eigene Pläne für einen Neubau scheiterten jedoch, so dass der Ingenieur Alfred Kaeser schliesslich den Holzpavillon von der Landi erwarb.

Sozialpolitisches Engagement

Ein Artikel in der NZZ über die Odyssee und glückliche Rettung des Saffa-Hauses aus dem Jahr 1928 von Lux Guyer bewog die Familie, die das Landi-Haus seit Jahrzehnten pflegt und nutzt, sich bei der NZZ-Redaktion zu melden. Ihr Feriendomizil, das seit 67 Jahren in Thun am See stehe, sei ursprünglich ein Musterhaus an der Landesausstellung 1939 gewesen. Recherchen beim Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich (gta) ergaben, dass es sich bei dem Pavillon um das Landihaus von Paul Artaria (1892–1959) handelt.

Paul Artaria war ursprünglich Bauzeichner im Büro von Hans Bernoulli, der u. a. durch die gleichnamige Arbeitersiedlung beim Hardturm-Stadion in Zürich bekannt ist. Von 1926 bis 1930 wirkte Artaria als Partner von Hans Schmidt, einem Schüler Karl Mosers und Hans Bernoullis an der ETH. Ein baugeschichtlicher Meilenstein der Zusammenarbeit von Schmidt und Artaria ist das Haus Colnaghi (1927) in Riehen, das erste Stahlskelett-Wohngebäude der Schweiz. 1927–29 realisierte das Team das Haus Schaeffer, das die beiden 1929 auf dem Frankfurter CIAM-Kongress als Prototyp zum Thema «Wohnen für das Existenzminimum» präsentierten. Dass Artaria zu den unbekannteren Protagonisten der frühen Schweizer Moderne gehört, liegt teilweise an seiner eher praktischen als theoretischen Ausrichtung, nicht zuletzt aber auch an der desolaten Quellenlage über sein Werk. Artarias Nachlass, der im Archiv des Instituts «gta» aufbewahrt wird, ist nur fragmentarisch erhalten. Im «Lexikon der Schweizer Architekten» wird er als innovativer Kopf gewürdigt, der wesentlich zur praktischen Umsetzung moderner Ideen beigetragen habe. Hervorgehoben werden Artarias neuartige, konzeptionell mit dem Stahlbau verwandten Holzkonstruktionen, die er mit der traditionellen Holzarchitektur verband.

Bereits 1926 war aus der Zusammenarbeit mit Hans Schmidt in Riehen ein Atelierhaus mit Pultdach entstanden, das formal in vielerlei Hinsicht an das spätere Landihaus erinnert. 1942 schrieb Artaria im Vorwort zur 2. Auflage seines 1936 erstmals erschienenen Bandes «Schweizer Holzhäuser», es gehe ihm darum zu zeigen, «wie sich durch Verzicht auf falsche Ansprüche und mit Verwendung des Baumateriales Holz auch bei mässigem Geldaufwand gut wohnen lässt». Das sozialpolitische Engagement, das die Arbeiten der Architekten Bernoulli und Schmidt prägte, findet sich somit auch bei Artaria.

Ideale der Moderne

Als prominentes Schaufenster für seine schlichten Holzhäuser diente Artaria die Schweizerische Landesausstellung von 1939. In seinem Musterhaus verband er die Ideale der Moderne mit einem bodenständigen Thema. Sein Haus war mit einem Pultdach gedeckt und bestand aus einem einzigen Wohn- und Schlafraum. Das Volumen wurde durch geschickt konzipierte, multifunktionale Einbauschränke unterteilt. Weil der Querschnitt des Gebäudes dem Geländeprofil eines Abhangs folgte, kam der Schlafteil um ein halbes Stockwerk höher zu liegen. Die Verbindung vom Wohnraum zur Schlafzone schafft eine kleine Treppe. In der oberen Raumhälfte sind die Schränke als Brüstung ausgebildet. Bandfenster öffnen die Fassade zur Aussicht hin, der Innenausbau ist spartanisch. Artaria sah in einem kleinen seitlichen Anbau nur eine kleine Küche und ein Plumpsklo vor. Zu einem breiten Kamin aufgeschichtete Natursteine verliehen dem schlichten Pavillon aber eine Grandezza, die an Nobelvillen von Frank Lloyd Wright erinnert. Bei dieser Anspielung auf Luxus musste es im einfachen 150-Kubikmeter-Pavillon jedoch bleiben. Paul Artaria gab in einer Publikation die Baukosten für das Haus mit 6525 Franken an – selbst vor über sechzig Jahren ein bescheidener Betrag.

Respekt vor dem Bestehenden

Der Zimmermann, der das in Zürich demontierte und auf zwei Lastwagen 1940 nach Thun verfrachtete Musterhaus rekonstruierte und erweiterte, handelte mit Respekt vor dem Bestehenden. Zusammen mit Alfred Kaeser, der als ETH-Ingenieur selber massgeblich anpackte, baute er sowohl die Frontfassade als auch den Hauptraum integral wieder auf. Selbst das Dach aus gewellten Eternitplatten beliess er im Originalzustand. Betritt man heute das Haus, glaubt man sich an die Landi 39 zurückversetzt. Einzig der keilförmige, an der Aussenwand angebaute Kamin fiel laut Rosemarie Kuhn-Kaeser den Grenzabständen zum Opfer und musste nach innen verlegt werden. Vom Originalzustand an der Landi 39 abweichend sind die Nutzung des Raumes unter dem höher gelegenen hinteren Teil des Pavillons als Keller sowie eine schmale Erweiterung im rückwärtigen Teil mit Service- und Schlafräumen. Aus dem Pultdach ist durch den Anbau ein asymmetrisches Giebeldach geworden. Da die Eingriffe jedoch nur auf der Rückseite stattgefunden haben, blieb das Haus mit seinen raffinierten Fensterläden und dem funktionalen Innenausbau praktisch unangetastet.

Das Ferienhaus am Thunersee erfreut sich in der Besitzerfamilie nach wie vor grosser Beliebtheit – auch oder wahrscheinlich gerade wegen seiner schlichten Funktionalität, die Artaria so wichtig war. Ein Hauch von Pfadihütten-Romantik, kombiniert mit einer traumhaften Lage am See, verleiht dem «Ländli» das gewisse Etwas. Der geschickte Entwurf, kombiniert mit Sachverstand und Sorgfalt der Besitzer, hat den historischen Bau bis heute gerettet. Sollte das Kongresshaus von Haefeli Moser Steiger die Pläne für einen Neubau nicht überleben, steht damit einer der letzten Zeugen der Landi 39 wohl noch auf Jahrzehnte hinaus am Thunersee.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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