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Lotto in der Zukunftsstadt
Der Standard

Valencia hat es satt, im Schatten Barcelonas sein Dasein zu fristen, und haut in Sachen Architektur mit gewagten Projekten so richtig drauf. An Sociópolis, einem Stadtteil für die Zukunft, bastelt mit zwölf internationalen Architekten der Stadtplaner und Architekt Vicente Guallart. Vorsichtshalber lebt der Valencianer aber noch lieber in Barcelona.

28. Juli 2007 - Ingo Petz
Sie haben sicher einen alten Mann erwartet", grüßt Vicente Guallart lachend und fügt an: „Normalerweise sind Stadtplaner ja eher alte Männer.“ Guallart ist 44 Jahre alt, er ist Stadtdenker, -planer und Architekt. Sein Händedruck zeugt von Hartnäckigkeit, der direkte Blick von eisernem Willen und seine rasenden Gedanken von Kreativität. Gute Waffen im Kampf gegen Bürokratie und Politik. Der Katalane ist eine dampfende Energie-Lok. Während der Fahrt in den Süden von Valencia durch hupende Autoschlangen und glühendes Blech telefoniert er unentwegt, erklärt in den Pausen die Geschichte seiner Stadt und die fulminanten Umbaumaßnahmen, die sich Spaniens drittgrößte Metropole seit Jahren leistet, um mit einem extraordinären Architekturprofil endlich der Rivalin Barcelona im Norden zu enteilen. Viele Valencianer finden es unerträglich, der Rattenschwanz einer von Barcelona aus gesponnenen katalonisch-nationalistischen Idee zu sein. Hier, an der Costa de Valencia, hat man selbstverständlich einen eigenen Kopf, historisch-administrativ symbolisiert im Status der autonomen Region. Gerade fliegt der Wagen an einem dieser Wahnsinnsprojekte vorbei: Die gewaltigen Gleisanlagen der Estación del Norte werden unter Tage verlegt, während über Tage ein riesiger Zentralpark entsteht. „Valencia ist eigentlich sehr konservativ“, ruft Guallart. „Aber die Konservativen wollen Barcelona ausstechen. Ein Glück für verrückte Typen wie mich.“ Auch die ironische Heiterkeit scheint eine seiner Waffen zu sein.

Tatsächlich traut sich die von den Römern gegründete Stadt etwas, um ihr Mauerblümchen-Dasein zur Strecke und ihren Traum von mehr Ruhm und Anerkennung auf den Boden zu bringen. Das Ergebnis wirkt manchmal wie ein megalomanischer Sciencefiction-Trip, was ziemlich mutig ist für eine in der Landwirtschaft verwurzelte Stadt, die für ihre Orangen bekannt ist, für ihren luftgetrockneten Schinken und ihre Lust am Feuerwerk. Vielleicht, denkt man sich, hat der Hang, es gern mal krachen zu lassen, auch den Willen zum ästhetischen Experiment beeinflusst. Das berühmteste Beispiel: Santiago Calatravas schneeweiße Fantasy-Bauten, die im Turia-Park zwischen Altstadt und der Mündung des stillgelegten Flusses wie eine falsch geparkte Weltraumstation aufragen. In jeder ähnlich gestrickten deutschen Stadt wäre der Architekt für so viel Freigeist vermutlich fortgejagt worden. Guallart freut sich über die guten Zeiten, die auch ihm die Möglichkeit zur Umsetzung eines gewagten Projektes beschert haben. Er ziehe es vorsichtshalber dennoch vor, sagt der Valencianer, in Barcelona zu leben. Man wisse ja nie.

Auf einem 35 Hektar großen Areal neben dem südlichen Stadtteil La Torre darf sich Guallart austoben und vieles von dem verbraten, was die moderne Stadtplanung und Architektur zu bieten haben, etwa zur „Auflösung der sozialräumlichen Segregation, Integration verschiedener Nutzungen, Versöhnung des Städtebaus mit der Natur samt nachhaltigen Lösungen oder zur Einbindung neuer Informationstechnologien in die häusliche Umgebung“. Die weitere Herausforderung: „Diesen wirklich nicht schönen Ort in einen lebendigen Stadtteil zu verwandeln, mit einer State-of-the-Art-Architektur, die man sich leisten kann und die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts genügt. Die Städte des 20. Jahrhunderts sind ja Produkte der Industrialisierung, konstruiert für das Leben, das sich nach der Geschwindigkeit von Maschinen ausgerichtet hat.“

Gestartet hatte das Projekt lediglich als Gedankenspiel. Guallart hatte zwölf Kollegen aus Spanien, Frankreich, Japan, England und den Niederlanden eingeladen, an einer Stadt der Zukunft zu tüfteln. Darunter Winy Maas von MVRDV oder Toyo Ito. Im Prospekt wirkt das Kollektivprojekt wie ein buntes Second-Life-Szenario im Öko-Cyber-Look. Noch sieht man hier, wo früher einmal prächtige Orangenhaine standen, nicht viel von der Zukunft. Bulldozer suchen sich ihren Weg durch Dreck und Büsche. Auf einem großen Schild steht „Sociópolis“, so der viel versprechende Name des Mega-Projektes, das bereits mit Ausstellungen in Wien und Venedig gewürdigt wurde und mit rund 250 Millionen Euro taxierter Bausumme fast lächerlich preiswert erscheint. Hier entstehen zwölf schicke Hochhäuser, jedes von einem der teilnehmenden Architekten entworfen, teilweise mit bis zu 20 Stockwerken, die insgesamt 2800 Wohnungen Platz machen sollen. Gedacht sind diese, so Guallart, für junge Familien, ältere Menschen und Singles, die sich wegen der in den vergangenen Jahren astronomisch gestiegenen Wohnungspreise kaum noch ein eigenes Heim leisten können. Die Wohnungen seien privatfinanziert, aber keine Spekulationsobjekte. Die Preise sind fix, die Vergabe wird über eine Lotterie geregelt. „Auf eine Wohnung“, so Guallart, „kommen 1000 Bewerber.“

Clou der Idee ist das 1000 Jahre alte von den Mauren entworfene Bewässerungssystem, das als Bau-Raster und Lebensmodell für Sociópolis dient. „Das schafft Geschichte und Identität, bindet Sociópolis an die Stadt und bettet es in die Umgebung ein“, meint Guallart. Entlang der Kanäle werden Parks und Obstgärten angelegt, die teils an professionelle Obstgärtner verpachtet, teils von den Bewohnern gepflegt werden sollen. Nur eine Straße verbindet die Häuser miteinander, ansonsten gibt es eine ungewöhnlich hohe Anzahl von öffentlichen Plätzen: Parks, Kulturstätten und Sportplätze.

In Tradition der Valencianischen Selbstverwaltung sollen die Bewohner ihre Gemeinschaft selbst organisieren. Dabei hilft ihnen das Datennetz, das sie miteinander und mit der Außenwelt verbindet. „Dieses Projekt gibt jedem die Möglichkeit, so zu leben, wie es unsere Zeit diktiert“, erklärt Guallart. „Es gibt immer mehr Menschen, die sich ihre Arbeit und Zeit selbst einteilen können, deswegen aber nicht vereinsamen müssen.“

Guallart, im schwarzen Mantel, verfällt unter dem schwimmbadblauen Himmel ins Visionieren und Jubilieren. Sociópolis sei ein Glücksfall. Er müsse sich zwar auch mit Kompromissen abgeben. Aber das wirkliche Wunder sei: „Die Politik hilft, wo sie kann. Hier geht alles unerwartet schnell. Auch wenn es noch vieles zu lösen und beackern gibt. Wenn ich optimistisch bin, können in zweieinhalb Jahren die ersten Bewohner einziehen.“ Einer seiner Mitarbeiter rollt die Augen, offensichtlich ein Pessimist. „Stadtplanung ist zwar kompliziert, aber es lohnt sich“, beharrt der mehrfach ausgezeichnete Architekt und Direktor des „Institute for Advanced Architecture of Catalonia“ (IAAC). Der Hang einiger seiner berühmten Kollegen, „Städte mit Architektur-Ikonen ohne Inhalt und System zu bepflastern“, scheint ihm zuwider zu sein. Begeistert hüpft und rennt Guallart von einer Ecke zur nächsten, macht Fotos, und sein rundes Gesicht strahlt wie eine reife Orange im Sonnenlicht.

Sociópolis soll zeigen, dass Utopien im Kleinen möglich sind. Auch im Lande Valencia, dessen durch Korruption und Anarchie geformte Betonburgen-Küste ein ewiges Denkmal des menschlichen Makels bleiben wird. Die Stadtvorderen wollen sich und der Welt offensichtlich beweisen, dass man mit Vernunft und Köpfchen bauen kann. So soll das Projekt das Obers-häubchen auf dem Abschluss des nordsüdlichen Grüngürtels werden, Architektur-Fans vor Ehrfurcht und Verzückung auf die Knie fallen lassen und Barcelona den nächsten Seitenhieb versetzen.

Rafael Arnal, Bürgermeister und Bäcker von La Torre, gefallen die Aussichten, eine real gewordene Utopie in der Nachbarschaft zu haben. Der stämmige, kleine Mann mit dem speckigen Hemd sagt: „Das ist großartig. Und wissen Sie warum? Wir werden alle reicher.“

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