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Stadt im Umbruch
Neue Zürcher Zeitung

Peking verwandelt sich in eine Megalopolis der globalen Welt

Der Wirtschaftsboom und die Bautätigkeit im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2008 verändern das Stadtbild von Peking in rasantem Tempo. Dies zeigt sich vor allem abseits der gängigen Touristenpfade.

20. Oktober 2007 - Sören Urbansky
Irgendwann hat jede Weltstadt ihre Zeit: Die eleganten Boulevards von Paris entstanden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter Baron Haussmann. New Yorks Skyline nahm 1934 mit dem Empire State Building Kontur an. Zeitgleich wurde Moskau mit dem Generalplan des Jahres 1935 auf den Kopf gestellt, mit dem Bau der Metro begonnen und weite Prospekte sternförmig in die alte Stadt geschlagen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts nun zieht Peking Architekten und Stadtplaner in seinen Bann. Der Bauboom geht mit dem ökonomischen Aufstieg der Volksrepublik einher. Wachstum und Wandel dieser 13 oder 16 Millionen Einwohner zählenden Stadt – wenn wir das Heer der Wanderarbeiter auf den zahllosen Baustellen mitrechnen – lassen sich nur schwer nachvollziehen.

Stadtpläne sind am ersten Verkaufstag schon veraltet. Bewohner, die für ein paar Monate verreist waren, erkennen ihre eigene Strasse nicht wieder. Die Stadt selbst scheint ständig in Bewegung zu sein. Expansion und Metamorphose sind horizontal und vertikal messbar: In den letzten beiden Dekaden wurden fünf Autobahnringe dem Verkehr übergeben. Auf Stelzen errichtet, schreiben sie sich wie Jahrringe in den Plan der Hauptstadt ein. Auch in die Höhe wird gebaut; bis zu den Olympischen Spielen 2008 sollen weitere Wolkenkratzer eingeweiht werden, darunter der 330 Meter hohe China World Trade Center Tower 3, die Fortune Plaza (260 Meter) oder das Yintai Centre (250 Meter). Seit der Öffnung des Landes vor über 20 Jahren hat Peking den Himmel für sich entdeckt.

Abseits der Touristenpfade

Um die Transformation der Stadt nachvollziehen zu können, empfiehlt es sich, abseits der Touristenpfade zu wandeln und in scheinbar unspektakuläre Stadtviertel einzutauchen. In Peking bietet sich dafür eine Tour an, die von der Verbotenen Stadt in Richtung Westberge führt. Den Platz des himmlischen Friedens, den die Lokalpresse in den 1920er Jahren noch einen «leeren Raum» nannte, bevor der riesige urbane Freiraum mit wuchtiger Monumentalarchitektur und Massenaufmärschen politische Prominenz erfahren sollte, lässt man dabei ebenso links liegen wie die Parkanlagen und neuen Sportpaläste für die Olympischen Spiele 2008 sowie andere historische und zeitgenössische Glanzpunkte.

Der Stadtrundgang beginnt in der historischen Keimzelle der Kaiserstadt, deren Gestalt noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Mauern und Toren bestimmt war. Der Hauptstadtplan der Ming-Dynastie aus dem 15. Jahrhundert sah eine Schichtstruktur von Städten in Städten vor. Die Innere Stadt schloss die Kaiserliche Stadt ein, die wiederum die Verbotene Stadt mit ihren gelben Dächern und roten Mauern umfasste. Im Süden ergänzte die Äussere Stadt das durchgeplante Ensemble. Diese Verschachtelung wiederholte sich bis in die Siheyuan, die klassischen Hofhäuser. Unzählige dieser Wohnstätten in den Hutongs genannten Gassen reihten sich um die offiziellen Anlagen und prägten Pekings Stadtbild.

Doch das charakteristische Grau der verwinkelten Gassen, welche der symmetrischen Strenge der alten Stadtanlage widersprechen, wird schrittweise aus dem Stadtbild verdrängt. Bereits in den letzten Jahren der Qing-Ära und in der Zeit der Republik, als das Kuomintang-Regime die Stadt in Nördlicher Friede (Beiping) umbenannte, wurde sie mit der Befestigung von Hauptstrassen, der Installation von elektrischen Laternen, der Verlegung von Telegrafen- und Telefonleitungen sowie der Errichtung öffentlicher Latrinen modernisiert. Das Gurren der Tauben, die in den vielen Höfen ihre Schläge hatten, verstummt seither immer mehr – und mit ihm auch der bisweilen provinzielle Charakter.

Beseelt vom sozialistischen Fortschrittsglauben, führte die Kommunistische Partei das alte Programm mit neuem Namen fort und liess bereits Ende der 1950er Jahre die Mauern Pekings praktisch komplett schleifen. Statt des Baus einer neuen Hauptstadt an anderem Ort begann unter Mao Zedong die Verwandlung der alten Kapitale in eine sozialistische Hauptstadt mit Repräsentationsarchitektur, Prospekten und Aufmarschplätzen. Eine Dekade später, während der Kulturrevolution, sagten die roten Garden der unübersichtlichen Nischengesellschaft der Hutongs den Kampf an. Die Gassen waren damals als bourgeoise Brutstätte eines destruktiven Individualismus verpönt. Seit den neunziger Jahren schafft hier die Stadtregierung von Peking mit vorwiegend ökonomischen Motiven Platz für breite Boulevards, moderne Bürogebäude und gestutzte Parkanlagen: Von den etwa 3600 traditionellen Gassen, die noch in den achtziger Jahren existierten, sind wenige hundert vor allem um die Stadtseen sowie den Glocken- und Trommelturm im Westen der Altstadt geblieben. Bewohner, die nicht freiwillig gehen, werden eingeschüchtert oder schikaniert und in die Satellitenstädte abgeschoben, was sich hinsichtlich der Wohnqualität jedoch nicht immer als Verlust erweist. Aber kaum spricht alle Welt vom Ende der Altstadtgassen, haben Investoren und wohlhabende Pekinger die traditionelle Wohnform wiederentdeckt: Immer öfter sieht man aufwendig restaurierte oder komplett neu gebaute Hutong-Viertel im Retro-Stil mit Fertigelementen aus Beton.

Die Neue Stadt

Auf dem Weg nach Westen lässt man – noch vor dem Kreuzen des zweiten, auf den Fundamenten der Stadtmauer fussenden Stadtbahnrings – die kaiserliche und die republikanische Geschichte hinter sich. Plötzlich bietet sich ein anderes Bild: Statt krummer Gassen durchschneidet die schnurgerade Fuxingmen-Strasse als Teil der ersten von den Kommunisten nach 1949 angelegten Ost-West-Magistrale die Stadt. Anstelle niedriger Häuser erheben sich postmoderne Repräsentativbauten. Augenfällig ist das in den späten neunziger Jahren von Ieoh Ming Pei entworfene Hauptgebäude der Bank of China. Der gedrungene, beigefarbene Bau besitzt eine 55 Meter hohe gläserne Vorhangfassade, an der die beiden Gebäudeflügel aufeinandertreffen. Der sinoamerikanische Altmeister, von dem auch der Turm der Bank of China in Hongkong stammt, ist als Sohn des Firmengründers selbst eng mit dem traditionsreichen Finanzhaus verbunden.

Noch weiter im Westen steht linker Hand an der gleichen Strasse das neue Hauptstadtmuseum, das Ausstellungen zur Geschichte Pekings von den Anfängen bis in die Gegenwart zeigt und vormals im Konfuzius-Tempel untergebracht war. Der gemeinsam von Architekt Cui Kai und dem französischen Architekturbüro AREP entworfene Komplex ist einer der imposantesten und eigenwilligsten Museumsneubauten Pekings. Im Jahr 2005 als kulturelles Prestigeprojekt des zehnten Fünfjahresplans fertig gestellt, zeugt dieses Gebäude von einer Tendenz hin zu landesweiten Investitionen in die Museumsinfrastruktur, die von einem neuen nationalen Bewusstsein künden. Der Neubau selbst unterteilt sich in drei voneinander unabhängige Konstruktionen: eine rechteckige und eine ovale Ausstellungshalle sowie in einen quadratischen Büro- und Forschungskomplex. Die Architektur verbindet klassische mit zeitgenössischen Elementen. Das massive Dach mutet traditionell chinesisch an, und die langen Steinmauern symbolisieren Stadtmauern des alten China. Modern hingegen ist die Vorhangfassade aus Glas, die für Transparenz und Leichtigkeit sorgt.
dörflicher Charakter

Neben diesen Monumentalbauten, die um Aufmerksamkeit von Passanten und Kritikern buhlen, gibt es moderne Architektur, deren Reiz sich für den Betrachter erst auf den zweiten Blick erschliesst. So etwa, wenn man von der Fuxingmen-Strasse etwas nach Norden abweicht, um das erste Wohnungsbauprojekt der Volksrepublik zu besichtigen. Das in den fünfziger Jahren ausserhalb der alten Stadt gebaute Viertel Baiwanzhuang liegt heute zentral. Der Siedlungsbau war Teil des sowjetischen Aufbauprogramms, das eine Verbesserung der angespannten Wohnungssituation bringen sollte. Das Viertel bildete eine zentrale Komponente des Plans zur tiefgreifenden Umstrukturierung der Stadt. Die sowjetischen Spezialisten beachteten die westlichen Planungskriterien des modernen Geschosswohnungsbaus und Prinzipien der Gartenstadt. Eine symmetrische und hierarchische Anlage mit eigenem Quartierzentrum, Markt und Ärztehaus verleiht der Siedlung einen dörflichen Charakter. Aufgrund der hohen Räume und der grosszügigen Grundrisse sind die Wohnungen bis heute beliebt.

Dennoch ist Baiwanzhuang bedroht, denn angesichts der zentralen Lage direkt gegenüber dem Bauministerium würden die radikalen Abriss- und Neubaupläne der Stadtverwaltung, die eine Vervierfachung der Nutzfläche vorsehen, einen satten Gewinn für die beteiligten Entwickler bedeuten. Noch sind die Pläne am Widerspruch der nicht unbedingt wohlhabenden, aber durchaus einflussreichen Bewohner gescheitert. Eine Unterschriftensammlung, bei der mehr als ein Drittel gegen den Abriss des Viertels votierte, führte zum Aufschub und zu einer Modifizierung des Projekts zum Bau von teuren Luxusapartments; und ein Teil der Siedlung wurde 2006 unter Schutz gestellt. Damit wurde diese Bürgerinitiative zu einem der wenigen Beispiele für erfolgreichen Protest gegen die ehrgeizigen und gleichzeitig schonungslosen Pläne von «Xin Beijing», dem «Neuen Peking».

Der Traum von der Mobilität

Beispiele gelungener Architektur und Stadtentwicklung sowie die staatlich verordnete Euphorie, die sich um den von oben propagierten Aufbau des «Neuen Peking» vor den Olympischen Spielen verbreitet, können aber nicht über die fundamentalen Schwierigkeiten hinwegtäuschen, mit denen die Metropole zu kämpfen hat. Denn mit der ökonomischen Aufholjagd haben sich Wohlstandsprobleme eingestellt. Überall stauen sich Automobile auf den Ring- und Ausfallstrassen. So auch am wenige hundert Meter östlich des Messezentrums gelegenen Verkehrsknoten Xizhimen, dem alten Westtor. Dabei soll dieser heute schon wichtigste Verkehrsknoten der Hauptstadt zum Modell für die Zukunft werden: Nach Fertigstellung des neuen Nordbahnhofs im nächsten Jahr werden hier nach offiziellen Planungen täglich 300 000 Passagiere von den Fernzügen auf die drei Stadt- und U-Bahnen sowie die 18 Buslinien umsteigen.

Bis weit ins 20. Jahrhundert blieb der Nahverkehr für Pekings Stadtväter ein zweitrangiges Problem, da die meisten Bewohner in unmittelbarer Nähe ihres Arbeitsplatzes lebten. Für sie war die Stadt eine Fussgängerstadt, bis sich das Fahrrad in den frühen Jahren der Volksrepublik durchsetzte. Es folgten Omni- und Trolleybusse und schliesslich der Bau der ersten Metrolinie, deren erste Strecke vom Hauptbahnhof nach Pingguoyuan an der westlichen Peripherie nach nur vier Jahren Bauzeit am 1. Oktober 1969 in Betrieb ging. Doch erst acht Jahre später – nach dem Ende der Kulturrevolution – konnte sie auch von der Öffentlichkeit benutzt werden. Heute kann der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs mit der Expansion der Stadt nicht mehr Schritt halten. Die Gründe für den Verkehrskollaps kennen wir. Gehälter steigen, Autos werden erschwinglich, und die Menschen ziehen in die Vorstädte. Eine im Unterschied zu Schanghai lasche Regulierungspolitik für Kraftwagen führte dazu, dass heute rund 30 000 Autos pro Monat neu zugelassen werden und viele Pekinger nur noch zum Vergnügen aufs Fahrrad steigen. Nun will die Stadtverwaltung das derzeitige U-Bahn-Netz mit seinen vier Linien von 114 Kilometern Länge bis zu den Olympischen Spielen 2008 auf insgesamt neun Linien erweitern. Das tägliche Fahrgastaufkommen soll sich bis 2010 mit sechs Millionen Passagieren mehr als verdreifachen. Laut dem neuen Fünfjahresplan für die Verkehrsentwicklung soll es in der chinesischen Hauptstadt bis zum Jahr 2020 rund 560 Kilometer Untergrund- und Stadtbahn geben.

Ein Paradies als Albtraum

Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr scheinen angesichts zunehmender Suburbanisierung dringend notwendig, denn die materiellen Träume vieler Familien in Peking erinnern an die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders: Neben einem Auto kaufen sich viele Menschen auch eine Eigentumswohnung. Überall werden neue Siedlungen gebaut und dafür die alte Bausubstanz planiert. Die Abrissmaschinerie stösst immer tiefer in die einstigen Randbezirke vor. So passiert der Besucher auf dem Weg nach Westen – derzeit hauptsächlich zwischen dem vierten und fünften Stadtbahnring – eine Mondlandschaft, in welcher neue Wohngebiete entstehen sollen. Für dieses Umpflügen der Stadt hat man in Peking inzwischen eine eigene Ikonografie entwickelt: Rote Linien markieren neue Strassenfluchten, das Zeichen für Abriss steht auf Wänden und Fenstern. Überall dort, wo scheinbar planlos und willkürlich neue Trabantenstädte entstehen, sind die Hauptverkehrsstrassen vorübergehend gesäumt von allerlei temporärem Baugewerbe.

Auf die Tabula rasa folgt dann der Neubau mit den altbekannten Fehlern des westlichen Städtebaus, wie monofunktionale Sektoren für Wohnen, Gewerbe und soziale Interaktion. Mittlerweile hat aber auch in Chinas Hauptstadt ein Umdenken eingesetzt, und es werden Bestimmungen erlassen, mit denen weitere Umweltschäden verhindert werden sollen. So müssen beim Abriss von Gebäuden alte Bäume, welche die Wucht der Sandstürme im Frühling bremsen, erhalten werden.

Im harten Kampf um die Kundschaft auf dem überhitzten Immobilienmarkt der Hauptstadt, der einen Leerstand von rund 20 Prozent verzeichnet, werben die neuen Makleragenturen gerne auf grossen Reklametafeln, die nicht selten eine Idylle im Grünen versprechen, für gesichtslose Ressorts mit Namen wie «Million Dollar Home». Je mehr Glas die Fassaden aufweisen, desto prestigeträchtiger ist der Neubau. Doppelverglasung wird naiven Käufern mitunter noch als Weltneuheit angepriesen, obwohl eine übermässige Verwendung des seit dem Bauhaus Fortschritt und Transparenz symbolisierenden Materials für Pekings arides Kontinentalklima gänzlich ungeeignet ist.

Aber noch geht Image über Effizienz. Ist das Haus erst einmal bezugsfertig, bleibt von dem versprochenen Paradies oft nicht mehr viel übrig: Grosse Glasfronten werden mit Gipsplatten isoliert, der Alibigarten ist meist nur zum Anschauen da, grosse Rasenflächen und Blumenbeete spenden keinen Schatten und werden angesichts rapide steigender Wasserpreise und eines kontinuierlich sinkenden Grundwasserspiegels wohl auch früher oder später – womöglich in Parkplätze – umgestaltet werden. Vor allem aber drohen denjenigen Wohnanlagen grosse Probleme, denen nutzbarer öffentlicher Stadtraum fehlt: Flächen für Freizeit und Gewerbe sind unerlässlich für soziale Integration, wenn die Dichte steigt und die chinesischen Städte auch von Arbeitslosigkeit eingeholt werden. Doch ebenso wie Chinas Bauwirtschaft in den letzten Jahren technologisch aufgeschlossen hat, gibt es ein neues Bewusstsein für ein sozial gesundes Stadtwachstum.

Alter und neuer Glanz

Schon heute zeugen die verschiedenen räumlichen Schichten der Stadt von Tradition und Erneuerung, von architektonischem Mut und urbaner Einfallslosigkeit, von geschäftigem Chaos, technokratischem Ordnungswahn und erfrischendem Pragmatismus, von modellhaftem Wohnungsbau und rücksichtslosem Spekulantentum, vom Fleiss der namenlosen Arbeiter aus Sichuan, von industriellen Umweltsünden und unverhofften Lichtblicken. Hingegen liegt nur noch an wenigen prominenten Orten die historische Stadt frei, um dort für das Weltpublikum während der Olympischen Spiele im nächsten Jahr zusammen mit den neuen Architekturikonen von Herzog & de Meuron oder Rem Koolhaas heller denn je zu erstrahlen. Aber erst abseits all dieser Herrlichkeiten lässt sich erkennen, dass die Hauptstadt des Reichs der Mitte sich anschickt, eine Megalopolis der globalen Welt zu werden.

[ Sören Urbansky ist Kulturwissenschafter an der Europa-Universität Viadrina. Bei der Recherche haben Christian Hennecke und Fabian Lübke den Autor unterstützt. ]

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