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Schönheit, Schutt und Schotter
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Weitläufigkeit und Wildwuchs, radikale Moderne, Rohheit und Natur: der „Ruhrpott“, Europas Kulturhauptstadt 2010 – ein Modell künftiger Urbanität?

28. Oktober 2007 - Maria Welzig
Mit „Ruhr.2010“ wird sich erstmals eine Region als europäische Kulturhauptstadt präsentieren. Als Außenseiter war die Ruhrregion 2001 ins innerdeutsche Kandidatenrennen um den Titel der Kulturhauptstadt getreten, um im Herbst 2006 erfolgreich daraus hervorzugehen. Jürgen Fischer war als Leiter des Kulturhauptstadt-Bewerbungsbüros in Essen mitverantwortlich für diesen Erfolg; der nunmehrige Programmkoordinator von „Ruhr.2010“ erzählt, was die Eigenart dieser Region ausmacht: Das Ruhrgebiet im heutigen Verständnis ist erst 150 Jahre alt, so alt wie die Entdeckung der Kohlevorkommen. Innerhalb kürzester Zeit explodierten damals die Bevölkerungszahlen, wurde diese Gegend mit verstreuten ruhigen Kleinstädten auf den Kopf gestellt. Die Stadtplaner über Tage folgten dabei immer den Planern unter Tage; so entwickelte sich die typische polyzentrische Struktur der Region.

Mit Städten wie Essen, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Bochum, Bottrop ist dieRuhrregion heute zu einer dezentralen Agglomeration mit mehr als fünf Millionen Einwohnern zusammengewachsen, in der es keine erkennbaren Grenzen mehr gibt zwischenden einzelnen Städten und zwischen Stadt und Land. In dieser Verlagerung von Stadt zu Region ist das Ruhrgebiet Modell für eine Entwicklung, die sich in ganz Europa abzeichnet. Ebenso modellhaft steht die Ruhrregion für den Wandel von der Industrie- zur sogenannten Kreativ-und Freizeitgesellschaft. Die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park, 1989 bis 1999, setzte hier Maßstäbe in der Transformation ehemaliger Industriegebiete.

Die Ruhrregion ist heute wieder ein starker Wirtschaftsstandort. Allein in Essen haben zehn der 100 größten deutschen Unternehmen ihren Sitz. Nach Porsche, Krupp undThyssen sind auch zentrale Plätze und Straßen benannt. Der ThyssenKrupp-Konzern verlegteben seine Unternehmenszentrale zurück ins Ruhrgebiet. Im Architekturwettbewerb für das neue Headquarter in Essen fiel Ende 2006 die vielversprechende Entscheidung zugunsten des Pariser Büros Chaix & Morel.

Das nachhaltige Ziel von „Ruhr.2010“ ist, die Region zu einer urbanen Einheit, einer Metropole neuen Zuschnitts zu machen. Über ein dichtes und effizientes Bahnnetz alsVoraussetzung für dieses Zusammenwachsenverfügt die Region, dennoch begünstigen so ausgedehnte Agglomerationen den Individualverkehr, da mag der öffentliche Verkehr noch so gut ausgebaut sein. Eines der bereitsin der Bewerbungsphase entwickelten zehn Leitprojekte für 2010 definiert daher die Autobahn B1, die zentrale Ost-West-Verbindung durch die Region, als „innerstädtischenBoulevard“, der eine dementsprechende kulturelle Metamorphose erleben soll.

Portal und Besucherzentrum der Kulturhauptstadt wird die Zeche Zollverein sein, dieeinst größte Kohleförderanlage Europas im Norden von Essen. Zollverein verkörpert wie ein Nukleus die Eigenheiten und speziellen Schönheiten dieser ehemaligen Schwerindustrieregion, und er ist Muster für deren innovative Transformation. „Die Zweite Stadt“,die als Eigenart dieser Bergbauregion in 1000Meter Tiefe existiert, wird 2010 auf Zollvereinerstmals öffentlich zugänglich sein; Künstlerinnen wie Jenny Holzer werden diese bislang ausschließlich von Männern betretene Welt durch ihre Werke neu interpretieren.

Zollverein braucht jedoch nicht auf das Kulturhauptstadtjahr zu warten, um ein Anziehungspunkt zu sein. Dieser Ort – er trägt seit 2002 das Prädikat Unesco-Weltkulturerbe– ist bereits jetzt eine Reise wert. Worin liegt die Faszination dieses 100 Hektar großen Geländes? Als die Vereinigten Deutschen Stahlwerke hier zwischen 1928 und 1932 die modernste Kohleförderanlage Europas errichteten, suchten sie für das technologische Vorzeigewerk einen entsprechenden architektonischen Ausdruck. Die Bauhaus- und Mies-van-der-Rohe-Schüler Fritz Schupp und Martin Kremmer schufen in der Architektursprache der Moderne eines der großartigen Industrieensembles des 20. Jahrhunderts.

Bis Ende 1986 hing von der Kohleproduktion der Zeche Zollverein die ganze Gegend ab. Für Nichtbeschäftigte war das Zollverein-Gelände verbotenes Land. Die Industrieanlagen waren „restricted areas“ mit härtesten Arbeitsbedingungen und maximalen Umweltbelastungen; in weiterem Sinn sind die Montangebiete auch behaftet mit der deutschen Kriegsschuld des 20. Jahrhunderts, denn für beide Weltkriege spielte die deutsche Stahlindustrie eine wesentliche Rolle.

Wenn diese „restricted areas“ nun den Wandel in offene Areale vollziehen, die genau dem Gegenteil dienen, nämlich Rekreation, Natur und Kultur, so hat dies eine hoch emotionale Bedeutung. Ein Signal für die Transformation des gesamten Ruhrgebiets war die Entscheidung, das eindrucksvolle Zollverein-Ensemble nicht nur zu bewahren,sondern weiterzubauen, ihm selbstbewusst zeitgenössische architektonische und künstlerische Schichten hinzuzufügen.

Seit 2001 leitet die Entwicklungsgesellschaft Zollverein die Geschicke des Areals. Der damalige Leiter, Wolfgang Roters, beauftragte im selben Jahr Rem Koolhaas' „Office for Metropolitan Architecture“ (OMA) mit derErstellung eines Masterplans und mit der Adaptierung der brachliegenden riesigen Kohlenwäsche. Es gibt immer noch wenige Architekturbüros, die auf Herausforderungenwie Zollverein mit ähnlich breiter Perspektive reagieren könnten wie das Rotterdamer Büro. Ebenfalls in die Ära Roters fiel 2002 derWettbewerbsentscheid für den Neubau einer„Zollverein School of Management and Design“ zugunsten des japanischen Büros SANAA – den Meistern der gebauten Transparenz und Leichtigkeit. Auch bei der Wahl der Landschaftsarchitekten gab es höchste Qualitätsansprüche – die französisch-deutsche Agence Ter/Henri Bava erstellte 2003 den Masterplan für die Industrielandschaft Zollverein. Mit der Fertigstellung der Bauten von SANAA und OMA hat Zollverein seit Herbst 2006 ein neues Gesicht.

OMA gelang es bei der Adaption der Kohlenwäsche, die historische Atmosphäre des Industriebaus zu wahren und zugleich einen zeitgenössischen Ort daraus zu machen: Als Erschließung dockt an das Gebäude nun eine steile Gangway an; die höchste freistehende Rolltreppe Deutschlands in leuchtendem Orange ist ein deutliches Signal der Gegenwart. In der Kohlenwäsche wird ab 2008 ein „Ruhr Museum“ Platz finden.

Am Haupteingang des Zollverein-Geländesliegt SANAAs Bau für die „Business School of Management and Design“. Der perforierte, fast papierene Kubus steigert, ebenso wie die Gangway der Kohlenwäsche, die Wirkungdes gesamten Industrieareals. Aus Waschbergen, Bauschutt und Gleisschotter modelliert sich eine Landschaft; auf dem hoch kontaminierten Gelände wachsen mittlerweile Gras, Birken, Weiden, Holunder, Flieder. Die Schienen und Luftbrücken, die das Gelände und seine Bauten wie in einem futuristischen Film vernetzen, führen den Blick – und den Fuß. Man wandert, den Schienen entlang, durch das weitläufige Gelände, von der Kohlenwäsche in den Wald hinein, wo man alleinsein kann, vorbei an Installationen von Ulrich Rückriem und Ilya Kabakov bis zur 1959 bis 1961 ebenfalls nach Plänen von Schupp und Kremmer errichteten riesigen Kokerei, in der bis 1993 Koks gebrannt wurde.

Zollverein ist heute ein poetisches Gelände, mit Qualitäten, die sich in den umliegenden Städten kaum finden: Weitläufigkeit und Großzügigkeit, radikale Moderne, Rohheit, Wildwuchs, Natur. Hier kann man eine neue, vielleicht die zukünftige Form von Urbanität erleben; jenseits der – gerade in Wienstark verankerten – Vorstellung, Urbanität ergebe sich aus geschlossenen Häuserzeilen mit Straßenraum dazwischen.

Weniger offen als die Wahl der Architekten gerieten die Entscheidungen für die künftige Nutzung von Zollverein. Die Entwicklungsgesellschaft arbeitet an einer „kreativ-wirtschaftlichen Dachmarke“. Design und Kreativwirtschaft – das sind heute offenbar die Elemente, auf die sich Politik und Investoren unter dem Label „kulturelle Nutzungen“ einigen können. Und da wird der Spielraum offenbar enger. Floris Alkemade, Projektverantwortlicher von OMA: „Die Nutzungen waren vorgegeben, als wir den Masterplan entwickelten. Unserer Meinung nach wäre Zollverein der richtige Ort gewesen, um Experimente zuzulassen, ein Ort für ,Alice in Wonderland‘. Wir haben dann zur Kenntnis genommen: Es wird ,Alice in Germany‘.“

Anfang 2007 begann eine neue Phase für „Ruhr.2010“. Die Geschäftsführung bleibt bei einem der bisherigen „Hauptspieler“: Oliver Scheytt, in den Medien oft als „der ehrgeizige Essener Kulturdezernent“ apostrophiert. Vorsitz der Geschäftsführung liegt beim ehemaligen Intendanten des Westdeutschen Rundfunks, Fritz Pleitgen. „Unterstützt“ wird er durch vier künstlerische Subdirektoren für die Bereiche Städtebau, darstellende Künste, Migration und Kreativwirtschaft. „Ruhr.2010“ wird also ohne leitenden künstlerischen Intendanten auskommen, Peter Sellars war dafür im Gespräch gewesen. Ob das für eine künftige Metropole Ruhr, die sich mit London und Paris messen möchte, das richtige Zeichen ist? Denn in Sachen Weltoffenheit besteht noch Nachholbedarf in dieser Region mit ihrer historisch gewachsenen Schrebergarten-Mentalität. Seit Entstehung dieses Industriegebiets herrschte hier das politische Bestreben zur größtmöglichen Zersplitterung und Kleinräumigkeit. Um Zusammenkünfte der Arbeiter zu unterbinden, wurden Versammlungsorte planmäßig ausgeschaltet.

Diese Politik der Regionalisierung wird heute, so hört man, von dem hier ansässigen, einflussreichen Medienkonzern fortgeführt. Dieser Konzern spielt auch für Österreichs Medienlandschaft eine Rolle – es ist die WAZ, Eignerin von 50-Prozent der „Kronen Zeitung“ und 49,5-Prozent des „Kurier“.

Die Machtverhältnisse in der Ruhrregion lassen sich auch auf Zollverein ablesen. Auf dem Dach der Kohlenwäsche plante OMA einen gläsernen Pavillon – einen der spektakulärsten Ausblicksorte des Ruhrgebiets. Erich-Brost-Pavillon heißt er, nach dem Gründungsherausgeber der WAZ, und seinen Bau machte eine private Spende aus der WAZ-Geschäftsführung möglich. Es ist ein exklusiver Ort, zurzeit leider nicht öffentlich zugänglich.

Für die Kulturhauptstadt 2010 ist zu wünschen, dass Offenheit und Wagnis nicht gänzlich auf der Strecke bleiben gegenüber dem kreativwirtschaftlichen Mainstream. Bei einem solchen Großereignis stellt sich immer die Frage nach der Nachhaltigkeit. Tatsache ist, dass die EU mit ihren Entscheidungen über die Titelvergabe seit einigen Jahren Förderungspolitik betreibt für ehemalige Schwerindustriestädte mit entsprechender Umstrukturierungsproblematik: fürGenua und Lille, für Liverpool, Glasgow und Linz. Die oberösterreichische Hauptstadt wird im Jahr vor „Ruhr.2010“ zeigen, wie sie diese Möglichkeit im Vergleich nützt.

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