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Beim Herzog nur im Frack
Neue Zürcher Zeitung

In Weimar ist das Werk des Architekten und Kunstreformers Henry van de Velde neu zu besichtigen

Als Industriedesigner und Entwerfer kunsthandwerklicher Gegenstände zählte der Architekt und Kunstreformer Henry van de Velde (1863–1957) in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zur ersten Garde. In Weimar, wo er von 1902 bis 1917 lebte, widmet man sich nun seinem Werk neu.

28. November 2007 - Ursula Seibold-Bultmann
In Höflingsuniform wollte er nicht auftreten. Das hatte sich Henry van de Velde vor seiner Berufung zum künstlerischen Berater für Handwerk und Industrie im Grossherzogtum Sachsen-Weimar ausbedungen. Und so erschien er selbst zu gesellschaftlichem Anlass bei Hofe nur im Frack. Dem darob irritierten Landesherrn Wilhelm Ernst empfahl der Künstler, sich vorzustellen, er – van de Velde – sei ein offizieller Repräsentant der USA. Modernität in Thüringen? Das war um 1900 eine Geschichte für sich.

Intelligente Wirtschaftsförderung

«Ich fasse die Aufgabe, die Seine Königliche Hoheit mir anvertraut haben, nicht anders auf, als dass ich beitragen soll, den Stil des 20. Jahrhunderts zu gestalten», schrieb Henry van de Velde 1902 an den Herzog. Wie er diese Aufgabe in Thüringen erfüllte, war bisher nur lückenhaft bekannt.

Nun hat Volker Wahl, der Direktor des Hauptstaatsarchivs Weimar, eine Edition der rund 200 einschlägigen Dokumente und Originalberichte vorgelegt und zeigt im eigenen Hause eine begleitende Kabinettsausstellung von rund 40 ausgewählten Text- und Bildquellen. Wahls Buch bringt nicht nur die kunstgeschichtliche Forschung ein wichtiges Stück voran, sondern es macht darüber hinaus dank van de Veldes Schreibtalent auf unerwartet amüsante Weise ein Musterbeispiel intelligenter Wirtschaftsförderung anschaulich.

Des weltgewandten Stardesigners offizielle Aufgabe in Weimar war es, durch Beratung der thüringischen Handwerksbetriebe und Fabriken das ästhetische Niveau von deren Produkten zu heben, um den überregionalen Absatz zu steigern. Er begann seine Tätigkeit mit Inspektionsreisen kreuz und quer durch das Herzogtum und gründete gleich nach seinem Amtsantritt 1902 ein kunstgewerbliches Seminar, das er in wenigen Jahren zur Grossherzoglichen Kunstgewerbeschule – der unmittelbaren Vorgängerinstitution des Bauhauses – weiterentwickelte.

Vernunftgemässe Schönheit

Der erhoffte wirtschaftliche Erfolg seiner Massnahmen blieb nicht aus: Durch eigene Aufträge sowie durch Vermittlungen setzte er zwischen 1902 und 1915 in Thüringen mehrere Millionen Goldmark um. Hinzu kam der künstlerische Gewinn; in Weimar produzierten insbesondere der Kunsttischler Scheidemantel und der Silberschmied Theodor Müller nach van de Veldes Entwürfen Meisterstücke material- und funktionsgerechter Form.

Alles andere als ein Schematiker ohne Sinn für soziale Verhältnisse oder ein elitärer Gestalter, widmete sich van de Velde seiner Beratertätigkeit mit hellwachem Realitätssinn. Den bescheidenen Handwerkern in Tannroda half er, über simple Körbe hinaus auch elegante Korbmöbel herzustellen.

Die Betriebe der alten Töpferstadt Bürgel befreite er durch sein Ideal einer «vernunftgemässen Schönheit» aus der Sackgasse des Historismus, was die Exponate im dortigen kleinen Keramikmuseum dem heutigen Besucher gut vor Augen führen. Und selbst die Pfeifen- und Zigarrenspitzenfabrik in Ruhla bei Eisenach liess sich gern von ihm betreuen.

Mancherorts wusste aber auch er keinen Rat – so in den windgebeutelten Dörfern Kaltennordheim und Empfertshausen, wo künstlerisch nullwertige Reisesouvenirs und Bäderartikel produziert wurden und von wo er rapportierte: «Nun ist die Sorge, die über den Häuptern dieser armen Bevölkerung hängt, schrecklich, und das Schlimmste ist, dass niemand in der Welt ihnen zu helfen vermag . . .»

Möbel, Lampen, Bestecke, Keramiken und Porzellan nach van de Veldes Entwürfen sowie Arbeiten seiner Schüler findet man in Weimar in einem Saal des Bauhaus-Museums. Weitere Objekte kann der Besucher der Goethestadt im Haus «Hohe Pappeln», das der Künstler hier 1908 für sich selber errichtete, und in dem von ihm innenarchitektonisch gestalteten Nietzsche-Archiv bewundern.
Werkkatalog

Als Ergänzung sei eine Besichtigung der Villa Esche im nicht allzu weit entfernten Chemnitz empfohlen, wo die Van-de-Velde-Bestände der städtischen Kunstsammlungen permanent gezeigt werden. Und: Bald wird es für die Beschäftigung mit van de Veldes kunsthandwerklichen Arbeiten ein neues Fundament geben, denn die Kunsthistorikerin Antje Neumann erstellt gegenwärtig unter der Ägide der Klassik-Stiftung Weimar einen kompletten Werkkatalog dieser Gegenstände. Der erste Band, der im Frühjahr 2008 erscheint, hat die Metallarbeiten zum Thema; Verzeichnisse der Möbel, Keramiken und Textilien werden folgen.

[ Bis 28. Dezember im Hauptstaatsarchiv Weimar. Als Begleitpublikation ist der folgende Band erschienen: Volker Wahl: Henry van de Velde in Weimar. Dokumente und Berichte zur Förderung von Kunsthandwerk und Industrie 1902–1915. Böhlau-Verlag, Köln 2007. 532 S., € 44.90. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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