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Hymnen an die Form
Neue Zürcher Zeitung

Zum 100. Geburtstag des brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer

Mit seinen sinnenfrohen Bauten in Pampulha und Brasilia wurde Oscar Niemeyer zum Begründer einer tropischen Moderne. Heute nun kann der grosse Architekt in Rio seinen 100. Geburtstag feiern.

15. Dezember 2007 - Regina Marquart
Freiheit der Form heisst das Architekturprinzip, welches Oscar Niemeyers Schaffen seit Jahrzehnten beflügelt. Davon zeugt eine Vielzahl grandioser Bauwerke: von der tanzenden Säulenhalle der Casa do Baile in Pampulha bis hin zu dem durch einen augenförmigen Aufsatz charakterisierten Museumsbau in Curitiba. Der am 15. Dezember 1907 in Rio de Janeiro geborene Oscar Ribeiro de Almeida de Niemeyer Soares arbeitet nach Studien an Rios Kunstakademie (Enba) im Büro von Lúcio Costa, der ihm die Türen zu Aufträgen und Auftraggebern öffnete. Als einer der ersten Architekten überhaupt stellte Niemeyer mit seinen ausdrucksstarken skulpturalen Bauten die rigiden Prinzipien des Rationalismus in Frage. Damit wurde er zum eigentlichen Begründer der für Brasilien so charakteristischen tropischen Moderne. Ausführliche Theorien zu seinem Werk hat Niemeyer in der 1955 von ihm gegründeten Zeitschrift «Módulo» publiziert. Sie zielen darauf hin, dass der Baukörper, der durch das Neue und Innovative überrascht, «poetische Räume» erzeugt und den Benutzer in das Reich der Phantasie und der Gefühle verführt.

Barocke Virtuosität

Wenige Jahre nach seinem ersten völlig eigenständigen Bau, der 1937 in Rio ausgeführten, streng kubischen Kinderkrippe «Obra do Berço», bricht Niemeyer mit dem internationalen Stil zugunsten einer südländischen Formenvielfalt. Mit der Errichtung der Anlage von Pampulha bei Belo Horizonte – ein Auftrag des späteren Präsidenten Juscelino Kubitschek – tritt 1940 das aussergewöhnliche Talent des jungen Architekten zutage. In den an einem künstlichen See gelegenen Gebäuden, der Kirche, dem Ballhaus, dem Jachtklub und dem Kasino, vereinen sich gewellte Wände, kühne Betonschalen sowie V-förmige Tragpfeiler mit linearen Baukörpern zu einer harmonischen Gesamtkomposition. Die Kapelle des heiligen Franz von Assisi, das Meisterstück des Komplexes, zeichnet sich durch ein sattelförmiges Gewölbe aus. Zum ersten Mal überdeckt eine derart raffinierte Betonstruktur das Schiff eines Sakralbaus. Dessen Realisierung begründet Niemeyers Ruhm.

Der Architekt erhält daraufhin weitere Aufträge in Rio und São Paulo; es ist der Beginn einer rasanten Karriere. Während in Europa der Krieg tobt, zelebriert Niemeyer eine Liebeserklärung an die Form und protestiert damit gegen den reinen Rationalismus. Er begründet eine baukünstlerische Tendenz, deren Entfaltungen bis heute nicht nur in Brasilien spürbar sind. Zu diesem Zeitpunkt ist Niemeyers Name bereits mit wichtigen Bauwerken verknüpft: dem Ministerium für Bildung und Gesundheit (MES) und dem brasilianischen Pavillon an der New Yorker Weltausstellung von 1939. Das MES-Gebäude, das unter der Leitung von Lúcio Costa und mit Beratung von Le Corbusier entsteht, setzt mit seinen eleganten Pilotis, den beweglichen Sonnenblenden, den bunten Fresken von Cândido Portinari und den organischen Dachgärten von Roberto Burle Marx die Grundlage der brasilianischen Moderne. Niemeyers Leistungen sind jedoch nicht unumstritten. Ausgerechnet die von Walter Gropius und Sigfried Giedion 1954 gepriesene sinnlich- barocke Virtuosität wird von Max Bill als «eine Orgie der antisozialen Verschwendung» bezeichnet. Niemeyer weiss sich zu verteidigen, indem er immer wieder die Schönheit des Bauwerks in den Vordergrund stellt und auf die Theorie des Kunstwollens von Alois Riegl beziehungsweise Lúcio Costa zurückgreift.

Die brasilianische Regierung macht die Bewegung der Moderne zum Symbol einer fortschrittlichen Nation, nicht zuletzt, um damit ein neues «Image» zu vermarkten. In diesem Zusammenhang wird die Hauptstadt Brasilia konzipiert, in grossem Tempo innerhalb von vier Jahren errichtet und am 21. April 1960 feierlich eingeweiht. Diese Selbstdarstellung eines zukunftsorientierten Staates bedeutet den eigentlichen Höhepunkt in Niemeyers Karriere und eine Wende hin zu eher kompakten geometrischen Formen. Während Lúcio Costa Brasilias Stadtplan (Plano Piloto) einem Flugzeug gleich skizziert, wobei er die Super-Quadras genannten Wohnblöcke auf den Flügeln, die Ministerien und den Platz der Drei Gewalten (Praça dos Três Poderes) auf dem Flugzeugrumpf anordnet, ist Niemeyer für die Errichtung der wichtigsten öffentlichen Gebäude verantwortlich. Die umgekehrte Kuppel des Kongresses wird zum Wahrzeichen des Landes. Die zarten Pfeiler des Planalto-Palastes, des Hauptsitzes der Regierung, und des Obersten Gerichtshofs verleihen dem Platz der Drei Gewalten formale Einheit und Monumentalität. Geplant wurde die Stadt für eine halbe Million Einwohner im einst dünn besiedelten Landesinnern. Heute zählt sie fast fünfmal so viele Menschen, was die Infrastruktur an ihre Grenzen bringt.
Unerschöpfliche Kreativität

Nach dem Militärputsch von 1964 arbeitet der bekennende Kommunist Niemeyer vor allem im Ausland. In der sogenannten Post-Brasilia-Phase führen technische Lösungen zu immer spektakuläreren Betonstrukturen: Der Sitz der Kommunistischen Partei Frankreichs in Paris (1967–72) mit seinem spektakulären Versammlungssaal, der Neubau des Mondadori-Verlags in Mailand (1968–75), die Universität von Constantine in Algerien (1969–72) oder das Fata-Bürohaus in Pianezza bei Turin (1976–81) sind Belege dafür. Obwohl sich allmählich eine Vereinfachung der Fassaden bemerkbar macht, ändert der bis heute baukünstlerisch engagierte Niemeyer seine architektonische Anschauung und Denkweise, für die er 1988 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wird, kaum.

Im Spätherbst 1996 kann der kurz zuvor für sein Lebenswerk mit dem Goldenen Löwen der Biennale von Venedig ausgezeichnete Meister das kelchförmige, an eine fliegende Untertasse erinnernde Museum für zeitgenössische Kunst in Niterói bei Rio eröffnen und wenig später einen grossen Kulturkomplex im Zentrum der gleichen Stadt realisieren. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit Bauerweiterungen in Brasilia und entwirft ein Museum und eine Bibliothek im Plano Piloto. Weitere Aufträge kommen hinzu. So baut er 2002 das Museu Oscar Niemeyer genannte Kunstmuseum von Curitiba, 2003 den temporären Pavillon der Serpentine Gallery in London und 2004 das Konzertgebäude im Ibirapuera-Park in São Paulo, wo sich auch sein Biennale-Gebäude von 1951 befindet. Zurzeit arbeitete er an Projekten in Deutschland, Mexiko, Spanien, Portugal und Russland.

Die Versuche, Niemeyers Werk einem bestimmten Stil zuzuordnen, lösen noch immer heftige Kontroversen aus, und doch braucht er seine Architektur nicht zu rechtfertigen oder zu erklären. So genial erscheint der Meister, so grosse Bewunderung zieht er auf sich, dass er bis heute als Leitstern der meisten brasilianischen Baukünstler gilt – auch wenn in jüngster Zeit aus Architektenkreisen immer wieder Kritik laut wurde. Am heutigen Samstag nun feiert Brasilien voller Stolz den hundertsten Geburtstag von Oscar Niemeyer, einer Schlüsselfigur der Kultur des 20. Jahrhunderts. Der Meister selbst wird wohl auch an seinem Jubeltag einige Stunden am Entwurfstisch verbringen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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