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Das weltweite Häusermeer
Der Standard

Die britischen Stadt- und Architekturdenker Ricky Burdett und Deyan Sudjic, Herausgeber des eben erschienenen Buches „The Endless City“, über Potenziale und Schwächen der Megacity

23. März 2008 - Ute Woltron
Das 21. Jahrhundert beginnt mit dem Zeitalter der Stadt: Mit diesem Phänomen setzt sich das Urban Age Programm der London School of Economics gemeinsam mit der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft der Deutschen Bank seit einigen Jahren intensiv auseinander. Bis dato wurden sechs Städte interdisziplinär untersucht - New York, Schanghai, London, Mexiko-Stadt, Johannesburg, Berlin - folgen werden etwa Mumbai (ehemals Bombay) und São Paulo. Mit dem Buch The Endless City, herausgegeben von Ricky Burdett und Deyan Sudjic, liegt nun eine erste Zusammenfassung der Erkenntnisse vor.

Der Ausgangspunkt: Erstmals leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Um 1800 waren es erst zwei Prozent, hundert Jahre später zehn, 1950 bereits 30 Prozent. Bis 2050, schätzt die UNO, werden drei Viertel aller Menschen Städter sein. Sie werden zum Teil in Stadtgebilden leben, die 30 Millionen und mehr Menschen beheimaten. Eine Vision, die in Asien und Teilen Afrikas und Südamerikas bereits Gestalt annimmt - und zwar in Windeseile. Pro Stunde erhöht sich die Bevölkerungszahl Mumbais um 42 Menschen, die von Lagos um 58.

Mit traditionellen städtebaulichen Mustern ist diesen rasch wachsenden Megaagglomerationen nicht mehr beizukommen. Der britische Architekturkritiker Deyan Sudjic betont, dass nur durch Kooperation zwischen Planern, Wirtschaft und Stadtpolitik menschengerechte Lösungen gefunden werden können: „Die Stadt ist zur wichtigsten Frage unserer Zeit geworden - und das haben auch die Politiker erkannt: Wir befinden uns in einer Ära sehr aktiver Bürgermeister, doch das Problem ist, dass Politiker immer weniger Zeit haben als alle anderen. Die wollen schnell Baukräne am Horizont sehen - und das ist kaum je der sinnvollste Weg. Zuerst müssen die unterschiedlichen Kräfte, die Städte formen, an einen Tisch gebracht, die Probleme müssen aus allen Perspektiven betrachtet werden. Es geht darum, zu verstehen, dass eine Stadt die Summe von gebauter Qualität, gesetzlichen Grundlagen und ökonomischen Investitionen ist - und eben nicht nur von einem dieser Bereiche geformt wird.“

Tatsächlich beginnen Städte heute - in der sogenannten globalisierten Welt - wieder eine Rolle einzunehmen, die ihnen bereits zu Beginn der Menschheitsgeschichte zukam: Megacities sind oft einflussreicher als die Nationalstaaten, in denen sie sich befinden - und sie haben mehr Einwohner als manche europäische Nation. Für Ricky Burdett, den Leiter des Urban-Age-Programms der London School of Economics sind sie die Kraftwerke der Weltwirtschaft schlechthin. Ein Beispiel: „Der Gesamtumsatz von London ist genauso groß wie der von ganz Saudi-Arabien, das Gleiche gilt für Tokio und bis zu einem gewissen Grad auch für New York. Es spielt also eine wichtige Rolle, wie sehr diese Städte mit der ökonomischen DNA der Staaten, in denen sie sich befinden, verknüpft sind. Dazu kommt, dass die globalen Flüsse von Kapital, Menschen und Informationen durch Städte geschleust werden.“

Stadtluft macht frei

Genau das ist die Biosphäre, in der sich die Global Player der Weltwirtschaft wohlfühlen. In Städten verdichten sich Geld, Know-how, Geschwindigkeit: Deshalb ziehen gut organisierte Megastädte Unternehmen und multinationale Konzerne an. Deshalb wandern Hunderttausende, ja Millionen in Städte wie Mumbai, Mexiko-Stadt oder São Paulo ein. Jeder, sagt Sudjic, hat diese Vision von der Stadt als Geldmaschine, von der Stadtluft, die frei macht: „Leute ziehen in die Stadt, weil sie dort einfach mehr Auswahlmöglichkeiten haben, das zu tun, was sie wollen. Und die erfolgreichsten Städte sind die, die den Menschen die meisten Möglichkeiten bieten. Eine Stadt muss so gebaut sein, dass sie ununterbrochen Veränderung und Flexibilität erlaubt - solche Städte bieten ein besseres Leben als jene, die sich dieser Möglichkeiten berauben.“

Die Ghettos der Reichen

So gesehen haben die Städtebaumodelle des 20. Jahrhunderts mit ihren großformatigen Satellitenenklaven ausgedient. Monokulturen wie vielgeschoßige Apartmentblöcke sind zu unflexibel - solche Strukturen sind genau die Art von Architektur, in der sich kein neues urbanes Leben entwickeln kann. Burdett ist vom direkten Zusammenhang zwischen städtebaulicher Form und sozialem Wohl überzeugt.

Die Mischung, die Vielfalt macht den Unterschied: „Bedauerlicherweise ist genau die Art Stadtlandschaft, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist, der Beweis dafür. Denken Sie daran, wie viele Wohnviertel gesprengt werden mussten, weil sie entweder soziale Probleme verursacht oder zumindest dazu beigetragen haben. Das lag an ihrem Design, ihrer Unfähigkeit, sich mit der Stadt und ihrer unmittelbaren Umgebung zu vernetzen.“ Diesen Monokulturen stehen die Ghettos der Reichen gegenüber, die sich - auch in der westlichen Welt - zunehmend in gepflegten Gated Communities hinter hohen Mauern und Stacheldraht einschließen, sagt Burdett. „Insgesamt sind das die Bedingungen, von denen wir wissen, dass sie im Laufe der Zeit die Segregation von Menschen mit unterschiedlichem ethnischen, ökonomischen und religiösen Hintergrund provozieren. Aber es geht auch anders, wenn man an Barcelona denkt - oder an Teile Wiens, wo Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts ganze Viertel mit Gebäudetypologien entstanden, die den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen dienen können. Und zwar mit einer Architektur, in der soziale Unterschiede nicht in Stein gemeißelt sind. Ich bin davon überzeugt, dass das richtige Design einer Stadt mit Sicherheit zur Bildung einer integrierten, besser funktionierenden Gesellschaft beiträgt.“

Aber - wie lässt sich Stadt in diesem Sinn umsetzen? Wo sind die neuen Ansätze, die neuen Ideen? Wie wird Stadt morgen, übermorgen gebaut?

Sudjic: „Mitunter ist es beunruhigend, zu sehen, wie wenige Ideen es letztlich dazu gibt, wie man eine Stadt formen sollte. Doch wenn Leute Ideen haben, die zu funktionieren scheinen, verbreiten sich die wie Lauffeuer rund um die Welt. Bilbao erfindet sich radikal neu, baut ein Guggenheim Museum - und plötzlich wollen alle neue Landmarks. Der Bürgermeister Londons führt eine erfolgreiche City-Maut ein, also will das der Bürgermeister in New York auch. Es hat den Anschein, als wären wir hungrig nach Ideen, und die Städte brauchen tatsächlich Lösungen und Antworten.“

Heikle Planung

Eine der Fragen, die beantwortet werden muss, ist beispielsweise die der sogenannten „Informal Settlements“, also jener Stadtteile, die von neuankommenden Bewohnern in atemberaubender Geschwindigkeit und scheinbar unstrukturiert hochgezogen werden. Die Arroganz der reichen Welt missversteht diese Stadtteile oft als Slums, in denen das Verbrechen, und sonst gar nichts daheim ist. Burdett: "Unangenehmerweise gibt es das weitverbreitete Vorurteil, das Informelle gehe Hand in Hand mit Kriminalität, und alle illegalen Taxifahrer in Mexiko-Stadt würden ununterbrochen auch mit Drogen dealen - doch das ist absolut nicht der Fall. „Viele Beispiele haben, ganz im Gegenteil, gezeigt, dass sich gerade Informal Settlements schneller in Städte integrieren als Wohnblockghettos und sich zu vitalen, prosperierenden Vierteln entwickeln können.“ Sudjic: „Noch in den 60er-, 70er-Jahren hat man informelle Strukturen als halblegale Außenstädte betrachtet, als großes Problem, das in irgendeiner Weise gelöst werden müsse. Doch mittlerweile weiß man, dass diese Gebilde den Menschen nicht nur Lebensraum geben, sondern tatsächlich wie Maschinen funktionieren, die ganz Arme zu nicht ganz so Armen machen“.

Für die ungeplanten Zuwanderer zu planen, sagt Burdett, sei eine heikle Angelegenheit und produziere oftmals nur größeres Elend: „Wir können heute diese Siedlungen nicht mehr abreißen, wie wir es noch vor hundert Jahren beispielsweise in Manchester getan haben. Die Lösung besteht vielmehr darin, auf sensible Art und Weise einzugreifen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen vor Ort zu verbessern und die Strukturen so zu stärken, dass sich diese Systeme selbst regulieren können.“

Was erwarten sich die Herausgeber von Urban Age und der nun vorliegenden Publikation? Deyan Sudjic ist zuversichtlich: "Das Wichtigste und Spannendste ist es, in den jeweiligen Städten all jene zusammenzubringen, die für Planung, für das politische System, die Architektur, die ökonomische Seite und all die Zwischenräume mitverantwortlich sind und damit die unterschiedlichen Standpunkte und Interessenlagen zu vereinen. Das ist ein mächtiges Virus, das sich ausbreiten wird. Ich denke, das ist exakt der Geist, der die Arbeit von ,Urban Age' trägt. Hin und wieder erscheint ein Buch, das die Sichtweise der Menschen ändern kann. Ich glaube wirklich, dass „The Endless City“ wieder einen Wendepunkt im Denken markieren kann."

[ „The Endless City“, € 59,95 / 512 Seiten, Verlag Phaidon, Berlin 2008 ]

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