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Neuschöpfungen im Geist der Antike
Eine grandiose Ausstellung zum 500. Geburtstag des Architekten Andrea Palladio in Vicenza
Mit seinen Bauten und mehr noch mit den «Quattro Libri» wurde der in Vicenza und Venedig tätige Andrea Palladio zum wohl einflussreichsten Architekten aller Zeiten. Seinen 500. Geburtstag feiert Vicenza mit einer faszinierenden, an kostbaren Exponaten reichen Werkschau.
Es gleicht einer Künstlerlegende: das Leben und Wirken Andrea Palladios (1508–1580). Oder mehr noch einem Wunder; wie sonst liesse es sich erklären, dass der Sohn eines Müllers aus Padua, der mit dreissig noch auf den Baustellen Vicenzas Kapitelle meisselte, zum wohl einflussreichsten Architekten aller Zeiten wurde. Zu einem genialen Interpreten Vitruvs ebenso wie zum Entwerfer eines modernen architektonischen Universums, das sich in seinen strahlenden Bauwerken, aber auch in den klar geschriebenen und sorgfältig illustrierten «Quattro Libri dell'Architettura» von 1570 spiegelt. Dem Geheimnis Palladio spürt nun eine grandiose Ausstellung zum 500. Geburtstag des Meisters in dem von ihm errichteten Palazzo Barbaran da Porto in Vicenza nach – bestückt mit rund 200 Originalzeichnungen, Gemälden, Kunstgegenständen und Architekturmodellen sowie vielen Fotos und Dokumenten.
Lebensbild des Architekten
So berühmt Palladio noch heute ist, so wenig wissen wir von ihm selbst – sieht man einmal ab von seinen Bauten und Publikationen. Fast scheint es, als handle seine fragmentarische Biografie von zwei Personen, einem einfachen Arbeiter und einem humanistischen Denker, deren Lebenslinien sich im Nebel der Geschichte verlieren. So galt unlängst noch der 8. November als der Tag, an dem Andrea di Pietro 1508 geboren wurde. Doch neuste Forschungen gehen davon aus, dass er erst am Andreastag, dem 30. November, in Padua das Licht der Welt erblickte. Noch weniger wissen wir über den Tod des früh schon Hochgeehrten – ausser dass dieser ihn irgendwann im August 1580 in Venedig, Vicenza oder in Maser ereilte, wo er an dem fast schon Borromini ankündigenden Barbaro-Tempel arbeitete.
Dennoch gelingt es der von Guido Beltramini in einem fulminanten Wechsel von chronologischen und thematischen Episoden inszenierten Ausstellung, ein plastisches Bild des Architekten zu skizzieren, welches das Laienpublikum begeistert und die Fachwelt mit neuen Einsichten konfrontiert. Palladios frühen Kontakt mit der Kultur der Renaissance deuten unter anderem antikische Zierobjekte seines Paten Vincenzo Grandi an, dieweil Leandro Bassanos Gemälde des «Turms zu Babel» einen Eindruck vermittelt, wie hart der Alltag des jungen Steinmetzen nach seiner Flucht von Padua nach Vicenza gewesen sein mag. Dort lernt er den Dichter und Linguisten Giangiorgio Trissino kennen – vielleicht bei der Arbeit an dessen Villa in Cricoli. Trissino nimmt ihn unter seine Fittiche, führt ihn in die vornehmen Kreise Vicenzas ein und gibt ihm den Namen Palladio nach dem architektonisch versierten Schutzengel des Feldherrn Belisarius in seinem homerischen Epos «L'Italia liberata dai Goti».
Gleichsam wiedergeboren als Architekt, realisiert Palladio die immer raffinierter den Grund- und Aufriss des Trissino-Landsitzes variierenden Villen Godi, Valmarana, Gazzotti und Pisani sowie den Bramante verpflichteten Palazzo Civena. Respekt verschafft er sich zudem mit der Weiterführung des monumentalen, nach Plänen Giulio Romanos begonnenen Palastes der schwerreichen Thiene-Brüder in Vicenza, dessen Eingangshalle von Palladios Studien während der ersten, wohl 1541 zusammen mit Trissino unternommenen Romreise zeugt. Prachtvolle Zeichnungen belegen, wie akribisch er die antiken Ruinen, die ihm schon aus den Publikationen von Serlio und anderen vertraut waren, aber auch neuzeitliche Werke wie Raffaels Villa Madama erforschte. Palladio muss alles wie ein Dürstender aufgesogen haben. Wie anders ist es zu erklären, dass er im Nu über das architektonische Wissen seiner Zeit verfügte und bereits 1545 fähig war, ein Problem mit Logik und Eleganz zu lösen, an dem sich zuvor Grössen wie Sansovino, Serlio und Sanmicheli die Zähne ausgebissen hatten: die harmonische Umformung des mittelalterlichen Palazzo della Ragione in Vicenza zur «Basilica» mittels einer neuen, vom Kolosseum abgeleiteten Hülle.
Dieses Meisterwerk verbreitete den Glanz der Antike in der gotisch engen Stadt – ähnlich wie die im Dialog mit dem Konstantinsbogen entstandene Fassade des Palazzo Iseppo Porto oder die zukunftsweisende Konzeption des Palazzo Chiericati, der mit seiner doppelten Säulenloggia formal zwischen Stadtpalast und Landsitz vermittelt. Nicht weniger innovativ war die zeitgleich entworfene Chiericati-Villa in Vancimuglio, deren Tempelportikus weitgehend Palladios Vorstellung des von Vitruv beschriebenen römischen Hauses entspricht. Hatte er doch nach Trissinos Tod (1550) die italienische Übersetzung des altrömischen Architekturtheoretikers von Daniele Barbaro illustriert. Für diesen neuen Gönner und dessen Bruder Marcantonio baute er in Maser die Villa Barbaro, die mit dem gesprengten Giebel und dem überreich geschmückten Nymphäum barocke Expressivität vorwegzunehmen scheint. Mit Zeichnungen, einem Architekturmodell und Veroneses Gemälde «Susanna im Bade», das die beiden Auftraggeber als lüsterne Alte und deren Villa als idyllisches Refugium wiedergibt, erreicht die Schau einen ihrer Höhepunkte, dem mit Venedig gleich ein weiterer folgt.
Venezianische Visionen
Die beiden neben der Rotonda wohl perfektesten Villen, die stadtnah gelegene Malcontenta und die Villa Emo in Fanzolo, bereiten die Besucher auf die Lagunenstadt vor. Dort stieg Palladio nach Jacopo Sansovinos Tod mit Meisterwerken wie dem Carità-Kloster, der Fassade von San Francesco della Vigna, den Kirchen San Giorgio Maggiore und Il Redentore zum wichtigsten Architekten auf. Diese Aufträge sicherte er sich nicht zuletzt dank den Barbaro-Brüdern und der Unterstützung jener fortschrittlichen Kräfte, die in Palladios Architektur eine Metapher für Venedigs politische Erneuerung erkannten. Wird bei San Giorgio anhand eines gigantischen Modells die längst verschwundene Farbigkeit thematisiert, so weisen die minarettartigen Türme des Redentore auf ein mögliches Interesse am Werk seines türkischen Zeitgenossen Sinan hin. Der Palladio bei diesem offiziellen Auftrag verwehrt gebliebene Wunsch, einen Zentralbau nach dem Vorbild des Pantheons zu gestalten, wurde ihm kurz vor seinem Tod mit dem Tempietto Barbaro in Maser erfüllt, den er wie das Teatro Olimpico in Vicenza ganz aus seinen Antikenstudien heraus erschuf. Hingegen blieben seine bis anhin kaum bekannten «Sozialwohnbauten» und mehr noch die grossen Visionen einer antikischen Rialtobrücke und eines neuen Dogenpalasts Traumgebilde, die aber in den «Quattro Libri» weiterlebten und so die Phantasie von ungezählten Architekten, aber auch von Canaletto beflügeln sollten.
Dieses Theoriewerk, von dem soeben eine sorgfältige italienisch-deutsche Neuausgabe erschienen ist, wird am Schluss der Schau zusammen mit der Villa Rotonda und einem eindringlichen, neu als Palladio-Porträt interpretierten Gemälde El Grecos als Vermächtnis des Meisters gefeiert – womit die Ausstellung auf die Wirkungsgeschichte zu sprechen kommt. Strahlten die Bücher, die um 1600 meist noch unvollendeten Bauten und – dank Vincenzo Scamozzi – auch die Zeichnungen zunächst auf Inigo Jones und dann auf die ganze Welt aus, so konzentrierte sich Le Corbusier nur mehr auf die Bauten. Doch dieses Schlusskapitel, das nur punktuelle Lichter setzen will, gäbe Stoff für eine weitere Grossausstellung.
[ Bis 6. Januar 2009 in Vicenza, anschliessend in der Royal Academy in London. Katalog: Palladio. Hrsg. Guido Beltramini und Howard Burns. Marsilio Editori, Venedig. 427 S., € 45.–. Andrea Palladio: I Quattro Libri dell'Architectura. Die vier Bücher zur Architektur. Übersetzt und eingeleitet von Hans-Karl Lücke. Marix-Verlag, Wiesbaden 2008. 456 S., Fr. 50.90. ]
Perfekte architektonische Inszenierungen
Eine Werkretrospektive des grossen Westschweizer Architekten Jean Tschumi in Lausanne
Zu den bekanntesten modernen Bauten der Schweiz zählt der Nestlé-Hauptsitz von Jean Tschumi (1904–1962) in Vevey. Dessen Gesamtwerk wird nun in einer Lausanner Retrospektive präsentiert.
Die Inszenierung ist gekonnt: Unter mächtigen Libanonzedern nähert man sich auf einem Plattenweg einem grossen Gebäude, das sich in einem Gitter von Pfeilern und Balken auflöst. Doch schon rahmt ein weit vorkragender Baldachin den Blick und lenkt ihn durch das Haus hindurch auf die Weite des Genfersees. Sprachlos taucht man ein in all die Schönheit und nimmt den noblen Innenraum mit seiner wabenartigen Decke und der skulpturalen Treppe erst allmählich wahr. Man wähnt sich in einem Musentempel und ist doch in der Empfangshalle eines Versicherungsgebäudes: des 1956 im Lausanner Quartier Les Cèdres eröffneten Hauptsitzes der Mutuelle Vaudoise Accidents. Hier war fraglos ein Könner am Werk, der wie kein Zweiter die Architektur als Gesamtkunstwerk verstand.
Kein Wunder, dass Jean Tschumi, der Schöpfer dieses an Eleganz die Schweizer Architektur der fünfziger Jahre überstrahlenden Meisterwerks, in einem Direktauftrag die neue Verwaltungszentrale von Nestlé in Vevey realisieren konnte. Dieses über Y-förmigem Grundriss errichtete Gebäude nimmt Bezug auf den kurz zuvor vollendeten Unesco-Bau von Marcel Breuer, Pierluigi Nervi und Bernard Zehrfuss in Paris. Doch Tschumi perfektionierte Erscheinungsbild, Konstruktion und Materialität derart, dass das Nestlé-Haus bei seiner Vollendung 1960 einen neuen Höhepunkt jener Corporate Architecture markierte, die 1909 bei Peter Behrens in Berlin ihren Anfang genommen hatte.
Französischer Formensinn
Schon früher, auf der Weltausstellung von 1937 in Paris, hatte Tschumi mit seinem Nestlé-Pavillon eine Firmenikone geschaffen, die dank dem in Vorwegnahme der Pop-Art als Milchpulver-Dose konzipierten Hauptgebäude und dem «Cinéma Guignol» zu einer Attraktion der Schau wurde. Für dieses Erstlingswerk hatte er vier zwischen Tradition und Moderne oszillierende Planvarianten entwickelt. Sie zeugen von Neugier, Beweglichkeit und Vielseitigkeit – Eigenschaften, die ihn von seinen doktrinär-modernen Schweizer Kollegen unterschieden. Anders als diese studierte der 1904 in Genf als Sohn eines Ebenisten geborene und in Lausanne aufgewachsene Tschumi nicht an der ETH in Zürich, sondern an der Bauschule in Biel und dann an der Ecole des Beaux-Arts in Paris. Dort trat er ein ins Atelier von Emmanuel Pontremoli, einem rationalistischen Eklektiker, der einen Baukörper ebenso virtuos in ein altgriechisches wie in ein zeitgenössisches Kostüm hüllen konnte. Hier lernte Tschumi neben dem Entwerfen in Varianten auch das Denken in künstlerischen Zusammenhängen, das er von 1925 an im Atelier von Emile Jacques Ruhlmann perfektionierte. Bei diesem genialen Ensemblier entwarf er nicht nur Art-déco-Möbel: Er lernte auch die Geheimnisse einer perfekten Raumkunst.
Tschumis Pariser Jahre bilden denn auch eine Schlüsselsequenz in der vom renommierten Lausanner Architekturhistoriker und Tschumi-Kenner Jacques Gubler als Hommage an den Meister eingerichteten, ebenso einfachen wie sinnfälligen Ausstellung in der Architekturgalerie der ETH Lausanne (EPFL). Vertieft werden die vielen Bildinformationen durch einen vorbildlichen, Tschumis künstlerisch-architektonischen Kosmos analysierenden Katalog, der erstmals die wahre Grösse des Lausanner Architekten fassbar macht. Gubler ordnet ausgewählte Zeichnungen, Pläne, Fotografien und Möbel aus dem in den Archives de la construction moderne der EPFL aufbewahrten Nachlass zu fünf Themenkreisen. Erlebt man unter dem Stichwort «Atelier Pontremoli» den futuristischen Furor des jungen Studenten, so veranschaulicht die Abteilung «Timbers-postes & échelle grandeur» unterschiedliche Entwurfsformate, aber auch das breite gestalterische Engagement vom Aschenbecher bis zu den städtebaulichen Projekten für Lausanne oder Stockholm. Nach einem Blick auf Tschumis Spiel mit den «Variantes» wendet sich Gubler der «Corporate architecture» zu, die in den 1939 zusammen mit dem Unternehmer und Bildhauer Edouard-Marcel Sandoz gestalteten Direktionsräumen in Basel und dem 1952 vollendeten Neubau für Sandoz France in Orléans ihren Anfang nahm.
Während des Zweiten Weltkriegs kehrte Tschumi nach Lausanne zurück, wo er im Auftrag der Waadtländer Regierung die neue Architekturschule der Universität Lausanne aufbaute. In der Sektion «Ecole d'architecture» wird nicht nur die der Beaux-Arts-Methode verpflichtete, sich radikal vom Zürcher ETH-Unterricht unterscheidende Lehrmethode Tschumis vorgestellt, sondern auch sein 1962 vollendeter Aula-Pavillon, ein expressives Highlight der Betonarchitektur, das in seiner konstruktiven Waghalsigkeit mit Arbeiten von Nervi, Eero Saarinen und Le Corbusier rivalisiert. An der Architekturschule erhielt er 1955 Konkurrenz durch den Le-Corbusier-Anhänger Hans Brechbühler. Doch als praktizierender Architekt kann Tschumi Erfolge feiern. Der international publizierte Nestlé-Hauptsitz begeistert die Architekturkritik und trägt ihm 1960 den damals als «Nobelpreis der Architektur» gehandelten Reynolds Award sowie seine dritte Reise durch die für sein Architekturverständnis wegweisenden USA ein.
Fulminantes Feuerwerk
Mit der Betonskulptur eines Getreidesilos in Renens und dem über dreieckigem Grundriss errichteten Bürohaus André & Cie. in Lausanne führt Tschumi sein Werk zu neuen Höhen. Kurz vor seinem überraschend frühen Tod, der den regelmässig zwischen seinen Büros in Lausanne und Paris pendelnden Architekten am 25. Januar 1962 im Nachtzug bei Vallorbe ereilte, durfte er seinen wohl grössten Triumph erleben: den Sieg im Wettbewerb für das WHO-Gebäude in Genf gegen internationale Stars wie Saarinen, Kenzo Tange oder Arne Jacobsen. Während dieser bedeutende Bau von seinem Kollegen Pierre Bonnard postum realisiert werden konnte, blieb sein zusammen mit dem Ingenieur Alexandre Sarrasin entwickelter Entwurf eines gigantischen Aussichtsturms für die Expo 1964 in Lausanne Makulatur. Dieser zeichenhafte Bau hätte Tschumi wohl zu einem Wegbereiter der spektakulären Architekturen unserer Zeit gemacht.
[ Bis 24. Oktober (täglich ausser sonntags) in der Architekturgalerie der EPFL. Katalog: Jacques Gubler: Jean Tschumi – architecture échelle grandeur. Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne 2008. 173 S., Fr. 59.–. ]
Gläserne Klarheit
Der grosse deutsche Nachkriegsarchitekt Sep Ruf in einer Münchner Ausstellung
Von ihm stammen Meisterwerke wie die Neue Maxburg in München oder der Kanzlerbungalow in Bonn. Nun kann der etwas in Vergessenheit geratene Baukünstler Sep Ruf in einer fundierten Werkschau des Münchner Architekturmuseums wiederentdeckt werden.
Die wohl schönste moderne Oase im Zentrum Münchens befindet sich nahe der Frauenkirche im weiten Innenhof der Neuen Maxburg. Die mit Brunnen, Teich und Gartenrestaurant ganz dem Geist der fünfziger Jahre verpflichtete Grünanlage wird auf vier Seiten von unterschiedlich hohen Bauten gerahmt. Diese erheben sich seit 1957 anstelle der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Herzog-Max-Burg, von der einzig der Spätrenaissance-Turm dem Bombenhagel trotzte. Er diente dem Architekten Sep Ruf als Ausgangspunkt für seine Planungen, übertrug er doch die fein proportionierte Wandgestaltung auf die mit Theo Pabst konzipierte Stahlbetonstruktur der Fassade. Diese subtile Neuinterpretation historischer Bausubstanz mit zeitgenössischen Mitteln sicherte Ruf und Pabst das Lob der Fachkritik. Bei den Münchnern jedoch, die von einer Wiederauferstehung der historischen Stadt träumten, stiess die «Murxburg» auf Widerstand. Das mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass Rufs überragende baukünstlerische Leistungen nicht nur in seiner Heimatstadt, wo er eine Vielzahl wichtiger Bauten realisierte, sondern in ganz Deutschland kaum mehr bekannt sind – und dies im Gegensatz etwa zu Scharouns oder Eiermanns Werken.
Tradition und Moderne
Umso grössere Bedeutung kommt der fundierten Werkschau zu, mit der das Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne aus Anlass des 100. Geburtstags von Sep Ruf (1908–1982) zurzeit dessen Schaffen würdigt. Die damit verbundene erstmalige Sichtung des Nachlasses förderte nicht nur neue Fakten zutage, sondern auch originale Zeichnungen, Pläne und Modelle sowie alte Fotos und Dokumente, die nun den Kern der Ausstellung bilden. Diese präsentiert in zwei mit «Ort, Kontext, Geschichte» und «Transparenz» überschriebenen Abteilungen 31 gut gewählte Hauptwerke, die den Bogen schlagen von den frühen Villen bis zu den späten Verwaltungsbauten. Schon als Dreiundzwanzigjähriger realisierte Ruf mit dem Haus Schwend in Bogenhausen einen eigenwilligen weissen Kubus, in welchem traditionelle Formen wie das Rundbogenportal zusammenfinden mit den neusten Errungenschaften des Rationalismus, den er zuvor auf einer Italienreise studiert hatte. Dank dieser moderaten Formensprache konnte Ruf auch während des Naziterrors weiterhin vergleichsweise moderne Privathäuser realisieren.
Das schon im Frühwerk auszumachende Interesse an der Geschichtlichkeit der Architektur kam Rufs Bauten nach dem Krieg zugute. So gelang es ihm in Nürnberg, wo er seit 1947 Akademieprofessor war, den Neubau der Bayerischen Staatsbank in die zerstörte Altstadt zu integrieren, indem er den in rötlichen Sandstein gehüllten Baukörper in einen Dialog mit dem Ort stellte, während er das Gebäude mit horizontalen Fensterbändern und wandhohen Verglasungen in der Gegenwart verankerte. Daraus resultierte ein Meisterwerk des kontextuellen Bauens, das mit Gunnar Asplunds legendärer Rathauserweiterung in Göteborg verglichen werden darf und welches vorausweist auf das filigrane Scheibenwohnhaus an der Theresienstrasse in München.
Kurz darauf entstand das von amerikanischen und schweizerischen Vorbildern beeinflusste Pavillonsystem des eng mit der Parknatur verwobenen Neubaus der Nürnberger Kunstakademie. Dieses schlug sich einerseits im Entwurf der Neuen Maxburg nieder, anderseits in der Kompositionsweise des Deutschen Pavillons auf der Weltausstellung von 1958 in Brüssel. Dessen Transparenz und Leichtigkeit – als Inbegriff demokratischen Bauens und zugleich als Absage an die Naziarchitektur gepriesen – erregte damals zu Recht internationales Aufsehen. Dokumente aus Rufs Nachlass zeigen nun, dass die Pavillonstruktur und die Durchsichtigkeit dieses temporären Gebäudes von Ruf und nicht – wie gemeinhin angenommen – von seinem Teampartner Egon Eiermann stammten. Während das Publikum im Brüsseler Pavillon ein neues, weltgewandtes Deutschland bewunderte, stiessen Rufs Bauten zu Hause immer wieder auf Widerstand.
Unvergessen bleibt die Polemik um den 1964 von Ludwig Erhard in Auftrag gegebenen Kanzlerbungalow, die sich schliesslich wegen Adenauers Bemerkung, der Architekt verdiene zehn Jahre, zu einer heftigen Debatte über Architektur und Demokratie ausweitete. – War der Kanzlerbungalow, der ab 2009 als baukünstlerische Ikone einer «neuen Form von politischer Repräsentation» der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll, geprägt durch die offene Architektursprache des von Ruf verehrten Richard Neutra, so gibt sich die vier Jahre zuvor geweihte Kirche St. Johann Capistran in München als skulpturaler Solitär, dessen geometrische Backsteinformen nicht ohne Louis Kahn zu denken sind.
Das Bindeglied zwischen Rufs unterschiedlichen Idiomen bildet das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, dessen wiederaufgebaute Teile von ihm zwischen 1953 und 1976 bald in Stahl und Glas, bald in Stein ergänzt wurden. In Rufs Spätwerk schliesslich überzeugen das Olaf-Gulbransson-Museum in Tegernsee (1966) und das Atelierhaus in Grünwald (1969) durch die Verschmelzung des Miesschen Glashauses mit der antiken Atriumvilla. Ganz anders dann die Zentrale der Berliner Handelsgesellschaft in Frankfurt und der brückenartig über dem Münchner Eisbach sich erhebende Neubau der Bayerischen Vereinsbank, die von den neusten Entwicklungen des amerikanischen Hochhauses bestimmt werden.
Einfluss und Vorbild
Die Münchner Schau bringt nicht nur einen grossen Architekten zurück in unser Bewusstsein. Zusammen mit dem ein ausführliches Werkverzeichnis von 265 Nummern aufweisenden Katalogbuch zeigt sie auch, dass Architekturausstellungen in unserer effekthascherischen Zeit durchaus noch wissenschaftlichen Tiefgang haben können. Dennoch ist das Œuvre von Sep Ruf mit diesem Effort noch lange nicht erschöpfend erforscht. So fragen Schau und Katalog weder nach Rufs architektonischen Vorbildern noch nach der heutigen Gültigkeit seines Dialogs mit dem Genius Loci.
[ Bis 5. Oktober im Architekturmuseum der TU München. Katalog: Sep Ruf 1908–1982. Hrsg. Winfried Nerdinger. Prestel-Verlag, München 2008. 207 S., Fr. 84.– (in der Ausstellung € 39.–). ]
Brücken, Türme und Paläste
Eine baukünstlerische Freilichtausstellung in Lausanne
Die mit exotischen Pflanzen prunkenden Parkanlagen von Lausanne sind seit geraumer Zeit in regelmässigen Abständen Ort von gartenkünstlerischen Ausstellungen. Heuer nun spielt die Metropole am Léman eine andere Karte aus und macht ihre architektonischen Schätze der letzten hundert Jahre zum Thema. Abseits der mittelalterlichen Stadt rund um die Kathedrale kann man auf vier Balades genannten Velotouren (mit gratis zur Verfügung gestellten Rädern) oder Spaziergängen sonst kaum beachtete Baukunst von höchster Qualität kennenlernen. Dabei fällt auf, wie sehr Lausanne seinen französisch-mediterranen Charme den hellen Wohnpalästen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdankt. Oder dass die Place St-François nicht nur das pulsierende Herz der Stadt, sondern darüber hinaus eine der bemerkenswertesten urbanistischen Anlagen der Belle Epoque in unserem Lande ist. Von hier aus führen die vier frei kombinierbaren Routen durch das grossstädtische Freilichtmuseum, zu denen man im Internet kleine, informative Guides als PDF-Dateien herunterladen kann. Mit ihrer Hilfe sieht man die historistischen Bankpaläste, Warenhäuser und Passagen von St-François ebenso neu wie den 1929 jenseits des Grand-Pont errichteten Bel-Air-Turm.
Dieses älteste Hochhaus der Schweiz wirkt aufgrund der für Lausanne charakteristischen Hanglage vom Vallée du Flon aus gesehen wie ein Wolkenkratzer. Dabei sind die oberen Etagen einem repräsentativen Art déco verpflichtet, die vier untersten Geschosse jedoch – dem tiefer liegenden ehemaligen Industrieviertel entsprechend – in einer nüchtern-modernen Formensprache gehalten. Seit das Flon-Quartier dank Bernard Tschumis dynamischen Erschliessungsbauten leicht zugänglich geworden ist, hat es sich zu einer Art Lausanner Soho gewandelt. Alte Lagerhäuser und Weindepots wurden restauriert und locken nun mit Restaurants, Modegeschäften und Kunstgalerien ein buntes Publikum an. Aber auch neue Architekturen wurden eingefügt – Verwaltungsbauten ebenso wie ein Multiplexkino. Den eigenwilligsten Akzent setzt das noch nicht eröffnete Miroiterie-Gebäude von Brauen & Wälchli mit seinen pneumatischen, nachts wie eine Laterne leuchtenden Membranfassaden. Davor breitet sich der zentrale Quartierplatz aus, der von einer vom Atelier Oï geschaffenen Pergola mit 20 000 vergnügt im Wind klimpernden Aluplättchen belebt wird.
Über ein enges, von einem künstlichen Baum beschattetes Plätzchen geht es zum Sitz der Stadtverwaltung, einem Meisterwerk der Sechziger-Jahre-Architektur, dessen über hängenden Gärten emporgestemmter Haupttrakt mit einer Metallfassade von Jean Prouvé umhüllt ist. Dass in Lausanne die Nachkriegsjahrzehnte – trotz etlichen städtebaulichen Sünden – eine goldene Zeit waren, bezeugen auch das in einem modernistischen Klassizismus gehaltene Eracom-Berufsschulhaus von Frédéric Brugger oder – im Quartier Les Cèdres – Jean Tschumis genial inszeniertes Verwaltungszentrum der Mutuelle Vaudoise (1956). Während man sich diesem im Schatten von zwei gewaltigen Libanon-Zedern nähert, erblickt man plötzlich durch die verglaste Eingangshalle hindurch das weite Panorama des Genfersees. Dort unten warten dann das von Max Bill für die Expo 1964 errichtete und 1995 von Rodolphe Luscher um eine brückenartig aufgestelzte Probebühne ergänzte Théâtre de Vidy, das klassisch-moderne Bellerive-Strandbad, das von Francis Isoz neugotisch erweiterte Schloss und die Gründerzeithotels von Ouchy auf den Stadtwanderer. Auf dem dazwischen in den See vorspringenden Gelände kann man sich schon jetzt ausmalen, dass hier mit dem neuen, von den Zürcher Jungarchitekten Berrel, Kräutler und Wülser entworfenen Musée cantonal des Beaux-Arts bis 2012 der wohl schönstgelegene Kunsttempel Europas entstehen wird. Die vier Balades führen noch zu rund zwanzig weiteren architektonischen Zielen, an denen auf illustrierten Informationstafeln bald Einzelbauten, bald ganze urbanistische Situationen erklärt werden. Dabei weckt die auf Spitzenwerke beschränkte Auswahl immer wieder den Wunsch, auch über unterwegs wahrgenommene Bauten wie etwa die Synagoge am Ende der Avenue de la Gare etwas zu erfahren. Man kann nur hoffen, dass diese anregende Lausanner Initiative bald auch von anderen Städten nachgeahmt wird.
[ Unter www.lausanne-architectures.ch lassen sich die vier kleinen Guides herunterladen. Der mit Schwarzweissfotos von Anne-Laure Lechat illustrierte Architekturführer «Lausanne Architectures. Quatre itinéraires pour découvrir une ville» ist ab September für Fr. 28.– erhältlich (info@lausanne-architectures.ch). ]
Junge Welteroberer
Deutsche Exportarchitektur in einer Frankfurter Ausstellung
Die Baukunst in Deutschland steckt seit geraumer Zeit in einer Krise. Nun suchen kreative Architekten ihr Glück vermehrt im Ausland, wie eine Schau im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt zeigt.
Ist der internationale Erfolg eines Produktes ein Qualitätsbeweis? Wenn dies zuträfe, dann wären die kantenlosen Designerweine der Neuen Welt den charaktervollen europäischen Terroir-Erzeugnissen überlegen. Ähnlich wie mit dem Wein verhält es sich mit der Architektur. Vermag doch manch ein sorgsam in den Kontext eingefügtes Gebäude eines regional verankerten Büros mehr zu überzeugen als die aalglatten, oft ganz ohne Ortsbezug gefertigten Entwürfe weltweit tätiger Firmen. Nur – wer nimmt noch Notiz von den stillen Werken?
Pilgerten die Architekturliebhaber vor zwanzig Jahren ins Tessin, nach Nordportugal oder in Hollands Kleinstädte, um zukunftsweisende Miniaturen zu studieren, so dreht sich jetzt alles nur noch um jene spektakulären Zeichen, mit welchen die Weltbaustellen von Abu Dhabi bis Schanghai protzen. Deshalb erstaunt es nicht, dass immer mehr junge Architekten von internationalen Aufträgen träumen. Das gilt nicht zuletzt für den Nachwuchs in Deutschland, wo die einheimische Baukunst seit Jahren kränkelt und die von den Medien gefeierten Häuser fast durchwegs von ausländischen Architekten stammen.
Deutsche Eigenschaften
Im Aufsehen, das junge und junggebliebene Baukünstler unlängst in Sevilla, Seoul oder Sydney erregten, glaubt nun das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main (DAM) den Beweis für den architektonischen Wiederaufstieg des Landes zu erkennen. Deshalb konzipierte sein Direktor, Peter Cachola Schmal, zusammen mit Anna Hesse eine «Ready for Take-Off» betitelte Präsentation über im Ausland tätige deutsche Architekten, die im letzten Herbst auf der siebten Architekturbiennale von São Paulo zu sehen war. Nun ist die als Wanderausstellung angelegte Schau im DAM zu Gast – begleitet von einem eigens für Frankfurt verfassten Katalog.
Auf einem in den deutschen Farben Schwarz, Rot, Gold gehaltenen Spannteppich stehen in der grossen Erdgeschosshalle des DAM buchartig aufgeklappte Rimowa-Koffer aus Aluminium locker herum. In jedem dieser Gepäckstücke präsentiert jeweils eines der sechzehn ausgewählten Architekturbüros mittels Fotos, Plänen, Texten und Modellen sein erstes oder neustes im Ausland projektiertes Werk sowie einen in Deutschland entstandenen, für das eigene Schaffen besonders charakteristischen Referenzbau. Zwischen diesen Installationen liest man in den Teppich eingewobene Wörter wie fleissig, ordentlich, pflichtbewusst und zuverlässig, die an «typisch deutsche», offensichtlich auch im Zusammenhang mit der Exportarchitektur erfolgversprechende Eigenschaften erinnern sollen.
Doch nach der kleinen Überraschung, für welche die gelungene Präsentation sorgt, macht sich eine leise Ernüchterung breit. Denn anders als die vor vier Jahren von Francesca Ferguson für die Architekturbiennale in Venedig konzipierte «Deutschlandschaft», die anhand von Bauten so unterschiedlicher Büros wie Bottega & Erhardt, Manuel Herz oder Brückner & Brückner der baukünstlerischen Phantasie nachspürte, erweist sich die Frankfurter Schau als eine ebenso unkritische wie unvollständige Auflistung von Auslandsbauten. Zwar berichten Projekte wie Carsten Roths steinerne Erweiterung des Hauptsitzes der Volksbank in Wien oder das gläserne Öko-Hochhaus von Christoph Ingenhoven in Sydney von konstruktiver Sorgfalt und kontextueller Umsicht. Doch das kreative Feuerwerk sucht man vergeblich. Ein solches dürften dereinst wohl nur das wie eine riesige Gewitterwolke über der Plaza de la Encarnación in Sevilla schwebende «Metropol Parasol»-Dach von Jürgen Mayer, das Geschäftshaus von Wandel Hoefer Lorch + Hirsch in Tbilissi und allenfalls das durch origamiartig gefaltete Dachklammern zusammengehaltene Luftfahrtmuseum von Pysall Ruge in Krakau versprühen. – All diese Projekte, von denen erst das in eine wabenartig geknickte Spiegelhaut gehüllte Trutec-Hochhaus von Barkow Leibinger in Seoul und der doppelte Glastrichter des Museion von Krüger Schuberth Vandreike in Bozen vollendet sind, demonstrieren bautechnische Virtuosität. Und dennoch wirkt die Mehrzahl von ihnen ähnlich unbeseelt wie die in Deutschland realisierten Referenzbauten.
Vielleicht resultiert diese allgegenwärtige formale Unverbindlichkeit daraus, dass die deutschen Architekten zu sehr auf die neusten internationalen Trends fixiert sind und kaum Mut zu eigenen Gedanken haben. So zeugen denn die meisten der in Frankfurt vorgestellten Bauten nicht nur von Exaktheit, Perfektion und Sorgfalt, sondern ebenso von Heimatlosigkeit oder gar Epigonentum – Qualitäten, die sich im globalisierten Architekturmarkt zu bewähren scheinen.
Zum Abheben bereit
Es ist der Ballast der vielen Vorbilder, der den deutschen Architekten das Abheben erschwert. Diesen abzuwerfen, gelang bisher nur wenigen: etwa Hansjörg Göritz, dessen eigenwilliges, Mitte Februar in Vaduz eingeweihtes Liechtensteiner Landtagsgebäude erstaunlicherweise nicht im DAM zu sehen ist. Aufmerken lassen aber auch einige jener Kleinbauten noch wenig bekannter Baukünstler, denen man in der jüngst am Turiner Architektur-Weltkongress präsentierten Wanderausstellung «Auslandsbeziehungen – junge Architekten aus Deutschland» begegnen kann.
[ Bis 2. November im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt am Main. Katalog: Ready for Take-Off. Aktuelle deutsche Exportarchitektur – Contemporary German Export Architecture. Hrsg. Anna Hesse und Peter Cachola Schmal. Hatje-Cantz-Verlag, Ostfildern 2008. 206 S., € 22.–. ]
Ein Sporttempel für einen totalitären Staat
In China bauen – Jacques Herzog äussert sich zu Architektur und Moral
Das Olympiastadion von Herzog & de Meuron gilt als architektonisches Meisterwerk. Das Wahrzeichen der Pekinger Sommerspiele dient aber auch dem chinesischen Regime zur Selbstdarstellung. Mit Jacques Herzog sprach Roman Hollenstein über das Bauen in einem Land, in welchem die Menschenrechte immer wieder missachtet werden.
Lange glaubte man im Westen an eine politische Öffnung Chinas. Die Vorfälle rund um Tibet zeigen nun aber, dass in der Volksrepublik weiterhin die Menschenrechte mit Füssen getreten und Minderheiten unterdrückt werden. Wie erleben Sie das als in China tätiger Architekt?
Jacques Herzog: Um diese Vorfälle und die Entwicklung im heutigen China ganz generell zu verstehen, sollte man dieses unermessliche Land nicht nur aus einem westlichen Blickwinkel betrachten. China hat eine ganz andere Geschichte als Europa, und die Gesellschaften haben sich deshalb ganz unterschiedlich entwickelt. China ist eine Hochkultur, die seit über 5000 Jahren besteht und in dieser langen Zeit Werke von unglaublicher Innovationskraft und Schönheit hervorgebracht hat. Das ist beeindruckend und kann nicht einfach so nebenbei betrachtet werden. Es ist mit ein Grund, weshalb heute und in Zukunft aus diesem Land beachtliche Leistungen erwartet werden können. Gleichzeitig hat China Verhaltensmuster hervorgebracht, die sich von den unseren unterscheiden. Auch wir mussten dies zuerst lernen, als wir in China zu arbeiten anfingen. So waren die Verhandlungen mit den Chinesen oft alles andere als einfach.
Gesellschaftliche Öffnung
Bei allem Verständnis für die unterschiedliche Entwicklung darf man aber doch vor der heutigen Situation die Augen nicht verschliessen.
Es gibt heute eine schnell wachsende Zahl von Intellektuellen, Künstlern und Architekten, die den gewährten Freiraum der letzten Jahre energisch und radikal dazu nutzen, einen eigenständigen chinesischen Beitrag zur globalen Gegenwartskultur zu leisten. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass China seit 5000 Jahren eine Herrschaft kennt, die zumindest zeitweise grausam und kaum je demokratisch war und auch heute noch die Menschenrechte missachtet. Das können wir aus unserer schweizerisch-basisdemokratischen Sicht nicht verstehen und auch nicht akzeptieren. Wir sollten aber nicht vergessen, dass es auch in Zentraleuropa bis vor 60 Jahren diktatorisch regierte Länder gab. Anders ausgedrückt: Die Demokratie, wie wir sie verstehen, ist ein rares Gut, zu dem man Sorge tragen muss und das nur in einem langjährigen Prozess entstehen kann. Man kann anderen Ländern Demokratie nicht aufzwingen, schon gar nicht einem so riesigen Land und einer so alten, eigenständigen Kultur wie China. Man kann und muss jedoch das Respektieren der Menschenrechte stets von neuem zum Thema machen. Mit Protesten oder Boykotten – etwa der Olympischen Spiele – kommt man aber nicht weit.
Kann denn durch das Thematisieren der Menschenrechte allein etwas bewegt werden?
Unserer Meinung nach ist die dramatische wirtschaftliche Entwicklung in China der eigentliche Motor des Prozesses der gesellschaftlichen Veränderung. Die Bevölkerung wird nach dem Vorbild der westlichen Demokratien zunehmend mehr Offenheit und mehr Freiräume einfordern, ohne die auch die wirtschaftliche Dynamik und der Konsum ins Stocken geraten werden. Wir haben diese gesellschaftliche Öffnung in unserer sechsjährigen Anwesenheit in China selbst erfahren können und denken, dass da eine grosse Chance liegt: Prozess statt Boykott.
Man sagt, Sie hätten sich schon vor dem Olympiastadion für den Wettbewerb um den Pekinger Neubau des chinesischen Staatsfernsehens (CCTV) interessiert. Was macht für Sie und andere renommierte Architekturbüros – von Rem Koolhaas über Steven Holl und Norman Foster bis Massimiliano Fuksas – China so faszinierend?
Die Geschichte ist ganz anders. Wir haben China nicht von uns aus angepeilt. Vielmehr wurden wir von Ai Weiwei und Uli Sigg aufgefordert, das Land zu besuchen, weil es dort viel Interessantes zu sehen und zu tun gebe. Als ehemaliger Schweizer Botschafter in China ist Sigg der Letzte, der die Menschenrechte nicht einfordern würde, und der Künstler Ai Weiwei, der wegen der Haltung seines Vaters in der Verbannung aufwachsen musste, ist ein vehementer Verfechter eines neuen China. Das befähigt ihn abzuschätzen, wie man allenfalls Architektur und Kunst einsetzen kann, um einen Prozess günstig zu beeinflussen. Wir reisten dann nach China und erfuhren dort ganz zufällig, dass der Stadion-Wettbewerb noch offen war. In letzter Minute haben wir unsere Anmeldung abgeschickt. Da war keine Strategie dahinter, in China Fuss zu fassen. Was den CCTV-Wettbewerb betrifft, so hatten wir zu spät davon gehört. Wir sehen China nicht als einen Markt für Aufträge, wie dies andere Büros tun, auch wenn wir zusammen mit Ai Weiwei einige Projekte ausarbeiteten, die – obwohl sie letztlich scheiterten – für uns interessante Experimente darstellten.
Bietet China den westlichen Architekten Möglichkeiten, die sie zu Hause nicht haben?
Wir bauen überall auf der Welt und haben keine Lieblingsorte. Wie wichtig das Stadion für den chinesischen Staat werden sollte, war anfänglich nicht abzusehen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Regierung bereit war, unser radikales Design auch wirklich zu realisieren – aus welchem Grund auch immer. Insofern waren die Chinesen gute Bauherren. Das Land ist für uns aber auch deswegen interessant, weil dort noch handwerkliche Traditionen vorhanden sind und eingesetzt werden können, die es hierzulande gar nicht mehr gibt. Schliesslich sind die Chinesen aufgrund ihrer Tradition viel offener als andere Nationen. Es gibt nichts, was sie überrascht.
Radikale Freiheit
Warum sind derzeit die Chinesen so gierig nach westlicher Architektur?
Ich bin nicht sicher, ob sie so gierig danach sind. Ich denke vielmehr, dass die Chinesen früher oder später alles selbst machen werden. Es gibt bereits jetzt eine grosse Zahl interessanter Künstler und junger Architekten, die bald auch die globale Szene beeinflussen werden.
Doch mit dem Olympiastadion betrieben Sie noch eine Art architektonischer Entwicklungshilfe?
Von Entwicklungshilfe zu sprechen, ist kaum angebracht angesichts der Kulturgeschichte dieses Landes. Es geht eher um einen Austausch und einen Prozess der Öffnung. Wir hatten stets den Eindruck, dass wir mindestens so viel von China lernen konnten, wie wir umgekehrt von unserer Seite her einbrachten. Mit dem Stadion konnten wir einfach China in einem Moment der Geschichte etwas bieten, das es dort so nicht gab.
Haben Sie keine moralischen Bedenken, Ihre Arbeit in China könnte das totalitäre Regime direkt oder indirekt bejahen?
Nein. Wir sehen zwei mögliche Haltungen: Man kann sagen, in einem Land, das nicht unsere gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder moralischen Standards hat, engagiere ich mich nicht. Dann könnte man aber an vielen Orten nicht bauen, im Grunde nicht einmal im Amerika der Bush-Administration. Wenn man aber nach China geht, kann man sich für einen Prozess der Öffnung starkmachen. Im Kleinen – und ich möchte die Architektur nicht überbewerten – macht man das auch mit einem Bauprojekt.
Historisch gesehen kommt es immer wieder zu einer Einvernahme der Architektur durch die Macht. Wie sehen Sie diese Problematik?
Auch hier kann man zwei Haltungen unterscheiden. Entweder lässt man sich in eine Ideologie einspannen, oder man tut es nicht. Für die, welche diese Ideologie mitzutragen bereit sind, gibt es als Ausdrucksmittel die ideologische Architektur, die sich in den Dienst der Macht stellt und diese mit einer eigenen Ästhetik auszudrücken sucht, wie das die Nazi-Architekten oder die stalinistischen Architekten machten. Wir setzten in China ganz entschieden nicht auf eine derartige Ästhetik. Vielmehr drückt unser Design eine radikale Freiheit aus. Das Interessante am Olympiastadion ist vielleicht weniger die kühne Form als vielmehr die Tatsache, dass es ein Potenzial hinsichtlich des öffentlichen Raums besitzt wie kein zweites Projekt in China. Es ist eine begehbare Skulptur in der Art des Eiffelturms, wo die Menschen sich treffen können. Das Stadion ist die öffentliche Plattform des neuen Peking. So gesehen ist dieses Gebäude eine Art trojanisches Pferd: Es will zwar keinesfalls etwas zerstören, aber es wird eine Wirkung haben. In unserem Stadion drückt sich auch Stolz aus; in erster Linie ist es aber ein Ort, an welchem die Menschen zusammenkommen können – und zwar in einer unkontrollierbaren und zwanglosen Art und Weise. Ich spreche jetzt nicht vom Stadioninnern, sondern von dem durch das Geflecht der Streben definierten Raum zwischen innen und aussen, der nach den Spielen frei zugänglich sein wird. Dieses Potenzial war von Anfang an sozusagen unser politisches Programm. Politisch, aber nicht im Sinn einer Revolution gegenüber der Partei. Das Politische an unserer Architektur ist der offene und vielfältig interpretierbare Raum, der angeboten wird und der sich einer ideologischen Festlegung entzieht.
Würden Sie auch für Ahmadinejads Iran, für Mugabes Simbabwe oder für Nordkorea bauen?
Das ist im Moment kein Thema. Die Situation in diesen Diktaturen ist viel eindimensionaler als in China. Allein schon weil China eine lebenslustige Bevölkerung besitzt, kann die Regierung nicht in derselben ritualisierten, ideologisierten Form den öffentlichen Raum bestimmen.
Offenheit und Modernität
Wie reagieren Sie auf den Vorwurf, die grossartige Architektur Ihres Stadions habe nur in einem autoritären System und nur auf Kosten von rechtlosen Wanderarbeitern realisiert werden können?
Je komplexer eine Bauaufgabe, desto qualifiziertere Leute braucht es auf allen Ebenen der Planung und Ausführung. Das Olympiastadion ist ein sehr komplexes Objekt, an dem die Chinesen für die Zukunft viel lernen konnten. Wie bereits gesagt, versuchen wir einen Prozess der Öffnung zu unterstützen und gewiss nicht den Status quo zu zementieren. Die billigen Arbeitskräfte sind eine Tatsache. Ihretwegen gilt China ja heute als Werkbank der Welt. Für die Sicherheitsstandards auf der Baustelle waren unsere chinesischen Partner zuständig. Aber der Staat hat kein Interesse daran, Arbeiter zu verheizen oder gar der Todesgefahr auszusetzen.
Ihr Stadion wird als Wahrzeichen der Olympischen Spiele vom kommunistischen China dazu genutzt, der Welt seine Offenheit, Modernität und Überlegenheit zu demonstrieren. Haben Sie keine Angst, dass dies der Marke Herzog & de Meuron im Westen schaden könnte?
Wieso sollte es? Es gibt wohl kein Gebäude, das in letzter Zeit so oft besprochen und dessen architektonische Qualität derart hervorgehoben wurde. Die Medien können es selbstverständlich zu einem Symbol des heutigen China machen, zu einem Bau, der für das Regime steht. Unserer Meinung nach steht es aber – wie die Verbotene Stadt oder die Chinesische Mauer, mit denen es die Chinesen auch vergleichen – viel eher für die Kultur von Peking und von China ganz allgemein. Das Gebäude verkörpert etwas, mit dem sich die Leute identifizieren. Sie lieben dieses Stadion. Was können wir mehr erwarten? Aber wir bedauern zutiefst, dass die Regierung gerade jetzt die Menschenrechte mit Füssen tritt. Dennoch sind wir überzeugt, dass China bereits eine offenere Gesellschaft geworden ist und dass dieser Prozess nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Wir Europäer sehen in unseren Kulturschaffenden – anders als in Firmen und Investoren – gerne moralische Vorbilder. Steven Spielberg, Sharon Stone und andere Schauspieler sowie der Künstler Ai Weiwei haben die chinesische Politik kritisiert. Fühlen Sie sich da nicht auch gefordert?
Ich möchte hier noch einmal betonen, dass wir das Nichtbeachten von Menschenrechten auf das Schärfste verurteilen. Aber wir sind vergleichsweise unbedeutend. Wenn wir nun öffentlich verkünden würden, Herzog & de Meuron distanzieren sich wegen der jüngsten Entwicklung im Bereich der Menschenrechte von ihrem Stadion und gehen nicht an die Eröffnung der Olympischen Spiele, so wäre das lächerlich und hätte darüber hinaus keinerlei Wirkung, weil es der Regierung ganz einfach egal wäre. Vielleicht wäre es ihnen sogar recht, denn die Karten sind heiss begehrt. Spielberg kannte die Situation von Anfang an genau, und damals, als er seinen Auftrag annahm, war China gewiss nicht offener als heute. Wenn er sich nun mit viel Getöse zurückgezogen hat, so ist das nichts anderes als billige Propaganda.
Emanzipatorische Kräfte
Was sagen Sie dazu, dass Architekten wie Renzo Piano oder Christoph Ingenhoven sich dezidiert dagegen ausgesprochen haben, in China zu bauen?
Das ist deren Angelegenheit. Wir glauben aufgrund unserer Erfahrungen, dass Architektur ein Potenzial haben kann, das transformatorische und emanzipatorische Kräfte freisetzt. Es ist unsere Aufgabe, solche Kräfte zu fördern – viel eher, als auf eine aktive Teilnahme zu verzichten und aus der Ferne zu Boykotten aufzurufen.
Die Arbeiten am Olympiastadion sind abgeschlossen. Warum bleiben Sie in der jetzigen Situation weiterhin in China tätig?
Wir haben zurzeit keine weiteren Projekte in China – abgesehen von unserer Mitarbeit bei einer Aktion von Ai Weiwei, in deren Verlauf 100 Villen von 100 jungen Architekten in der äusseren Mongolei entstehen sollen. Wir helfen beim Zusammenstellen der Architektenliste mit. Und, ja, da gibt es noch ein Projekt in Hongkong, bei dem es um die Umwandlung einer ehemaligen Polizeistation in ein Kulturzentrum geht. Auch dieses Projekt hat dank seinem öffentlichen Charakter ein grosses Potenzial. Solche Aufträge interessieren uns. Uns geht es um das Ausloten dessen, was Architektur überhaupt sein und leisten kann. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit Ideologien und mit psychologischen Aspekten, was letztlich zur Frage führt: Warum macht eine Gesellschaft diese und nicht jene Architektur?
Es gibt immer mehr kreative chinesische Büros. Werden diese bald den Platz einnehmen, den jetzt Sie und andere ausländische Architekten besetzen?
China wird künftig verstärkt darauf tendieren, eigene Künstler und Architekten einzubeziehen, und sich auch auf diesen Gebieten Kompetenz erarbeiten. Es werden auch immer mehr chinesische Künstler, Intellektuelle und Forscher in den Westen gelangen. Das ist ein unaufhaltsamer Prozess, gut für die Chinesen und für uns auch.
Ein Leuchtturm für die Kunst
Das neueröffnete Museion – die Perle unter Bozens Kulturbauten
Wirtschaftliche Prosperität und politische Autonomie erlaubten es Bozen in den vergangenen Jahren, sich als Bildungs- und Kulturstadt zu profilieren. Neustes Wahrzeichen der Stadt ist das vor wenigen Tagen eröffnete Museion, das sich wie ein Leuchtturm am Rand der Altstadt erhebt.
Zwischen lieblichen Weinbergen gelegen und von der Rosengartengruppe überragt, weiss Bozen schnell die Fremden zu bezirzen. Doch bevor man in die Stadt gelangt, gilt es einen chaotischen Industriegürtel zu durchqueren, der mit seinen Fabriken, Bürocontainern und der aufgestelzten Autobahn alle städtebaulichen Schrecken der Moderne in sich zu vereinen scheint. Dahinter aber weitet sich eines der vielfältigsten Stadtgebilde des Alpenraums. Das malerische Zentrum mit seinen Kirchen, Bürgerhäusern und der Laubengasse wird zu den grünen Talfer-Auen hin abgelöst durch eine gründerzeitliche Bebauung, der am jenseitigen Ufer rund um Piacentinis Siegestor eine italienische Gegenwelt antwortet. Deren Prachtstrassen und Platzanlagen verleihen Bozen ein ganz eigenes grossstädtisches Gesicht, gemahnen aber auch an den Faschismus. Vielleicht tat sich die zerstrittene Stadt deswegen nach dem Krieg mit baukünstlerischen Akzenten schwer – sieht man von Luis Plattners Hochhaus am Sernesiplatz oder Othmar Barths Wohnhausklippen unter den Haslacher Porphyrfelsen ab.
Marmortempel und Glaskuben
Nicht zuletzt dank dem Autonomiestatut erlebt die heute 100 000 Einwohner zählende Alpenmetropole seit Jahren eine Wirtschaftsblüte. Der damit einhergehende Versuch einer kulturellen und touristischen Neuerfindung schlug sich bald in architektonischen Eingriffen nieder, mit denen man den Stadtkörper zu verjüngen suchte. Das erste dieser ambitiösen Bauwerke, der pharaonische Marmortempel des 1999 nach Plänen von Marco Zanuso aus Mailand vollendeten Stadttheaters am Verdiplatz, vermochte noch kaum zu überzeugen. Doch wenig später implantierten die Zürcher Architekten Bischoff & Azzola die sachlich kompakten Kuben der neugegründeten Freien Universität Bozen passgenau in die urbanistische Feinstruktur der Altstadt. Mit ähnlichem Können verwandelte der Wiener Boris Podrecca das Traditionshotel «Greif» am Waltherplatz in ein elegantes Refugium, erweiterte es um eine Passagenarchitektur und gab damit der ehrgeizigen Stadt eine neue touristische Adresse.
Bozens eigentlicher Stolz war bis jetzt aber die auf Sprach- und Minderheitenforschung spezialisierte Europäische Akademie (Eurac). Für sie wurde das lange vernachlässigte GIL-Gebäude, ein in der auf Geheiss des Duce mit viel Pomp gestalteten Neustadt gelegenes Meisterwerk des italienischen Rationalismus, vom Wiener Klaus Kada renoviert und – zur Drusus-Brücke hin – um einen über schlanken Rundpfeilern schwebenden Glaskubus ergänzt. Mit dessen städtebaulicher Rhetorik wetteifert die jüngst vom Meraner Büro Höller & Klotzner an der Romstrasse fertiggestellte Landesberufsschule. Nur schade, dass dieses Hauptwerk der neuen Südtiroler Architektur, welches mit einer neorationalistischen Sprache auf die italienisch anmutende Umgebung eingeht, seit dem Abriss von Guido Pelizzaris architektonisch bedeutender Messehalle auf die Leere eines falsch konzipierten Stadtgartens blickt.
Interesse an der Kunst
Höller & Klotzner, die zusammen mit Walter Angonese und Christoph Mayr Fingerle in der Südtiroler Architektenszene den Ton angeben, beteiligten sich im Jahr 2000 auch am Wettbewerb für den Neubau des Museion genannten Museums für moderne und zeitgenössische Kunst. Doch wie bei andern Bozner Grossprojekten erhielt auch hier ein auswärtiges Büro den Zuschlag: nämlich Krüger Schuberth Vandreike (KSV) aus Berlin. Mit seiner zeichenhaften Form, in der man einen Dialog mit Piacentinis noch immer angefeindetem Triumphbogen erkennen kann, rückt nun der Neubau des Museion die bildende Kunst in den Mittelpunkt des Interesses. Wohl hüten die Kirchen und Schlösser der Stadt seit je kostbare mittelalterliche Fresken und Schnitzaltäre; doch fehlte lange ein der Kunst des 20. Jahrhunderts gegenüber aufgeschlossenes Haus. Deshalb wurde 1985 mit Unterstützung der Autonomen Provinz Bozen das mit seinem griechischen Namen gleichsam zwischen der italienischen Mehrheit und der deutschsprachigen Minderheit der Stadt vermittelnde Museion gegründet und 1987 im alten Spital an der Sernesistrasse eröffnet.
Schon bevor das heute vor allem auf das zeitgenössische Schaffen ausgerichtete Museum mit Ausstellungen wie «Kunst und Werbung» international wahrgenommen wurde, machte man sich an die Realisierung des zwischen Universität und Talfer gelegenen Neubaus. Dessen Planer Torsten Krüger, Christiane Schuberth und Bertram Vandreike, die heute zwischen 45 und 47 Jahre alt sind, hatten erstmals 1994 mit einem Projekt für das Bundeskanzleramt auf sich aufmerksam gemacht. Stehen die in Berlin von ihnen realisierten Stadthäuser und das kubische, 2007 in Warnemünde vollendete Institut für Ostseeforschung eher für ein zurückhaltendes Architekturverständnis, so zeugt ihr jüngster Entwurf eines schlaufenförmig verknoteten Geschäftshauses in Stuttgart von einer vertieften Auseinandersetzung mit aktuellen Architekturideen.
Demgegenüber fällt das Museion weniger durch das formale Experiment als vielmehr durch seine Präsenz im Stadtbild auf. Die 25 Meter hohe und 54 Meter lange, mit profilierten Aluminium-Paneelen verkleidete Minimal-Skulptur öffnet sich zur Alt- und Neustadt mit zwei trichterförmigen Vitrinen, deren Glasvorhang von etwas schwerfällig geratenen weissen Stahlstreben gehalten wird. Drehbare Lamellen aus mattiertem Glas, welche die Exponate vor der direkten Sonneneinstrahlung schützen, und die zur Abdunklung dienenden Screens führen dazu, dass sich das bespielte Haus kaum je mit der auf den Computerbildern angepriesenen Transparenz präsentieren wird. Doch das dürfte nur die wenigsten jener 6000 Neugierigen kümmern, die anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten am letzten Samstag das Museion förmlich stürmten – zumal die Glastrichter bestens als Medienfassade funktionieren, wie Anri Sala nun allabendlich mit seiner eher langweiligen Lichtprojektion «Ulysses» beweist.
Widerspenstige Architektur
Im Schatten einer riesigen Zeder betritt man vom stadtseitigen Vorplatz her das luftige Foyer mit Kasse und Museumsshop, von dem der flussseitige Ausstellungsraum durch eine Glaswand abgetrennt ist. Dort führt eine Treppe in die drei oberen Ausstellungsgeschosse, die nach dem «Prinzip der maximalen Flexibilität» unterteilt werden können. Vom freien Raumfluss spürt man aber zunächst wenig: Die Bibliothek präsentiert sich hinter Glasmembranen; und Stellwände sorgen immer wieder für verwinkelte Resträume. Wirklich gelungen ist nur das oberste, an eine Industriehalle erinnernde Geschoss, in welchem die Weite des Gebäudes übergeht in einen faszinierenden Rundblick auf Stadt und Berge.
Hier kann sich die von Corinne Diserens, der aus Genf stammenden neuen Direktorin, eingerichtete Eröffnungsschau «Peripherer Blick und kollektiver Körper» entfalten. Anhand der Werke von über 200 Kunstschaffenden – von Francis Als und Archizoom bis Remy Zaugg und Italo Zuffi – thematisiert sie die Entwicklung des Körperhaften in Kunst, Architektur und Tanz während der letzten fünfzig Jahre. Obwohl im Katalog nicht erwähnt, darf die in wellenförmigen Bewegungen das Museion mit der Neustadt verbindende Doppelbrücke als wichtiges Exponat bezeichnet werden. Dieses von KSV entworfene Meisterwerk entschädigt zudem dafür, dass die hauseigene Sammlung, welche den Anlass zu dieser anregenden, aber etwas thesenlastigen Who-is-who-Schau gab, noch recht schmalbrüstig daherkommt. In Zukunft sollen denn auch vermehrt Arbeiten erworben werden, die von Artists in Residence in der Dépendance des Museion geschaffen werden. So sind denn Programm und Ankaufspolitik ebenso auf Offenheit und Kommunikation angelegt wie das die beiden Stadtteile verbindende Bauwerk. Dass bei der Eröffnung ein gekreuzigter Frosch von Martin Kippenberger einen Skandal auslöste, zeigt aber auch, wie viel Vermittlung noch nötig sein wird, um Bozen zu einem wirklichen Kunstzentrum zu machen. Spätestens anlässlich der diesen Sommer in Südtirol durchgeführten «Manifesta» dürften auch die vereinten Kunstsachverständigen Europas über den Stellenwert des neuen Museion urteilen.
[ Die Eröffnungsausstellung dauert bis zum 21. September. Katalog: Peripherer Blick & kollektiver Körper. Museion, Bozen 2008. 437 S., € 48.–. ]
Archäologisch geadelte Baukunst
Der klassizistische Architekt Friedrich Weinbrenner in Karlsruhe
Mit Visionen, die zum Radikalsten zählen, was die deutsche Architektur im späten 18. Jahrhundert hervorbrachte, sicherte sich der in Karlsruhe zum Zimmermann ausgebildete Friedrich Weinbrenner (1766–1826) früh schon den Ruf eines Meisters des Klassizismus. Seine grossformatigen, in Rom gefertigten Aquarelle zeigen schmucklose, von schweren dorischen Säulen geprägte Bauten oder düster-kahle Innenräume. Doch die realisierten Werke, die – nach Kriegsschäden wiederaufgebaut – noch heute das Stadtbild von Karlsruhe adeln, veranschaulichen jenen Mittelweg zwischen Ideal und Wirklichkeit, der zu Weinbrenners Markenzeichen wurde. So kristallisierten die gravitätischen Rathaus-Entwürfe, die er von aus Rom nach Karlsruhe sandte, schliesslich zu einem bürgerlichen Monument. Dieses bildet seit 1825 das noble Gegenüber der 1816 eingeweihten Stadtkirche, deren Säulenhalle ähnlich ins urbane Gefüge eingebunden scheint wie der Minervatempel in Assisi. Von einer revolutionären, den «französischen Modemachern» verpflichteten Haltung fand er hier zu einer Vereinigung von altrömischem Vorbild und zeitgenössischer Nutzform, wie sie bald auch in Klenzes München oder Schinkels Berlin den Ton angeben sollte. Ernster und altrömischer wirkt hingegen der am Pantheon inspirierte Zentralbau der Stephanskirche, die 1814 für die wachsende katholische Bevölkerung, aber auch für Napoleons Adoptivtochter Stéphanie, die Ehefrau des Grossherzogs von Baden, vollendet wurde.
Rom als Lehrmeisterin
Weinbrenners Auseinandersetzung mit der Antike in Rom spürt derzeit eine kleine, aufgrund des informativen, reich bebilderten Katalogs aber erwähnenswerte Ausstellung des Karlsruher Stadtmuseums im Prinz-Max-Palais nach. Der angehende Baukünstler gelangte nach Wanderjahren, die ihn nach Zürich und Lausanne führten, 1790 über Wien, Prag und Dresden nach Berlin. Dort lernte er von den Architekten Langhans, Gilly sowie Genelli und freundete sich mit dem Künstler Asmus Jakob Carstens an. Mit diesem brach er im Mai 1792 nach Rom auf, wo er gerne für immer geblieben wäre, hätte ihm 1798 nicht die napoleonische Politik einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Doch zuvor durchstreifte er mit Künstlerfreunden die Ruinen Roms, die wiederentdeckten Vesuvstädte und Paestum. Dabei entstanden Zeichnungen, in denen er – der «überspannten Bilder» Piranesis überdrüssig – nach einer wirklichkeitsnahen und perspektivisch exakten Interpretation der antiken Überreste strebte und so Carstens' lineare Zeichenkunst beeinflusste, wie in der Ausstellung ein Stich nach dessen «Jason in Jolkos» belegt. Noch leidenschaftlicher bemühte sich Weinbrenner um die zeichnerische Rekonstruktion römischer Thermen und Prachtsbauten sowie – Jahre später – der in Badenweiler entdeckten römischen Bäder. All diese Wiederherstellungsversuche zeugen von fundierten Quellenkenntnissen. Deshalb erstaunt es nicht, dass die 1797 im «Neuen Teutschen Merkur» publizierten Studien zum Theater des Curio auch Goethes Augenmerk auf Weinbrenner lenkten. Parallel zu diesen anspruchsvollen antiquarischen Übungen entstanden höchst unkonventionelle, die antiken Vorbilder neu interpretierende Entwürfe für viele damals wichtige Bautypen – vom Stadttor und vom Rathaus über Ballhaus, Reithalle und Zeughaus bis hin zum Schlachthof.
Städtebauliches Gesamtkunstwerk
Auch wenn diese ausdrucksstarken Aquarelle vom Karlsruher Baudirektor Müller als «lästig und drückend» empfunden wurden, begründeten sie und der wohl noch in Rom gezeichnete Generalplan für Karlsruhe den Erfolg Weinbrenners. Gleich nach seiner Rückkehr aus Italien wurde er Inspektor im Bauamt und schon 1801 Baudirektor sowie Leiter der neuen Bauschule. Sein erstes, noch ganz vom Geist der Revolutionsarchitektur durchdrungenes Meisterwerk war die 1800 geweihte, aber leider 1871 abgebrannte Karlsruher Synagoge, an deren rigorose, ägyptisch anmutende Form noch heute ein permanent ausgestelltes Modell im Stadtmuseum erinnert. Danach realisierte er – im Rahmen der Umgestaltung der 1725 gegründeten Stadt Karlsruhe zur grossherzoglichen Residenz – mit der seit 1806 zwischen Rondell- und Marktplatz angelegten Via Triumphalis das erste städtebauliche Gesamtkunstwerk des deutschen Klassizismus. Doch das weist schon über das eigentliche Thema der Schau hinaus, die neben kostbaren Bildern und Plänen auch jene Publikationen präsentiert, die zusammen mit Weinbrenners Lehrtätigkeit eine eigentliche «Weinbrenner-Schule» begründeten.
[ Bis 1. Juni im Karlsruher Stadtmuseum im Prinz-Max-Palais. Katalog: Friedrich Weinbrenners Weg nach Rom. Bauten, Bilder und Begegnungen. Hrsg. Ulrich Maximilian Schumann. Lindemanns Bibliothek, Karlsruhe 2008. 96 S., € 16.80. ]
Monumente der Macht
Das Dilemma westlicher Architekten in China
In Architektenkreisen gelten sie vor allen andern Stars als Leitfiguren: der Niederländer Rem Koolhaas und die beiden Basler Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Mit ihren Schöpfungen eröffnen sie der Baukunst neue Wege und verleihen zudem den Metropolen dieser Welt begehrte Wahrzeichen. Wie keine andere Stadt profitiert derzeit von ihrem Können Peking, wo das Olympiastadion des Schweizer Duos und der vom Rotterdamer Alleskönner entworfene Sitz des chinesischen Staatsfernsehens CCTV vom waghalsigen Höhenflug der zeitgenössischen Architektur berichten. Mit solch innovativen Meisterwerken, die andernorts allein schon aus Kostengründen unrealisierbar wären, will Chinas Regierung der eigenen Bevölkerung und dem internationalen Publikum das Bild einer hochmodernen Nation vorführen. Verschwiegen wird dabei die Tatsache, dass diese architektonischen Markenzeichen nur dank einem Heer von schlechtbezahlten Wanderarbeitern möglich sind, die mit fronartiger Akkordarbeit ihre Gesundheit riskieren.
Tiefgreifender Wandel
Schon bevor sich Peking 2001 die diesjährigen Olympischen Sommerspiele sichern konnte, hatten sich Zentren wie Shenzhen oder Schanghai durch den Wirtschaftsboom tiefgreifend zu wandeln begonnen: Hochhäuser, Wohnquartiere sowie Verkehrsbauten wurden aus dem Boden gestampft – und bald auch ganze Neustädte. Zur gleichen Zeit entdeckte das Regime das Prestige westlicher Architektur. Den Anfang machte der Franzose Paul Andreu, der 1999 den Zuschlag für das im Volksmund kritisch «Ei» genannte Nationaltheater am Tiananmenplatz in Peking erhielt. Ohne grosse politische Bedenken suchte danach eine wachsende Zahl von europäischen, amerikanischen, australischen und japanischen Architekten ihr Glück im neuen Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Unter diesen befanden sich auch Herzog & de Meuron, die 2002 den Wettbewerb für das olympische Nationalstadion für sich entscheiden konnten.
Ihr visionäres Projekt begeisterte nicht nur die internationale Jury, sondern anschliessend auch die zur Besichtigung und Kommentierung der Projekte eingeladene Bevölkerung. Gleichwohl ging die Realisierung nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten, wie der Dokumentarfilm «Bird's Nest» jüngst zeigte. Doch selbst Intrigen und politisch bedingte Bauverzögerungen liessen die Basler anscheinend nicht darüber nachsinnen, ob sie mit ihrem Bauwerk wirklich einen Beitrag zu der vom Internationalen Olympischen Komitee erhofften Öffnung des Landes leisteten oder nicht vielmehr ein Unterdrückungssystem stützten. Spätestens seit den Entwicklungen rund um Tibet ist aber klar, dass sie mit dem «Vogelnest», das laut Herzog «wie kein anderes Gebäude China verkörpert», ungewollt ein Monument geschaffen haben, welches unter dem Deckmantel des Sports die Macht des Regimes zum Ausdruck bringt.
Die Blauäugigkeit, mit der sich die Schweizer auf ihr China-Abenteuer einliessen, zeigt, dass sie wenig aus der unheilvollen Verquickung von Architektur und Gewaltherrschaft im 20. Jahrhundert gelernt haben. Sie erstaunt aber auch deswegen, weil Jacques Herzog noch 2001 in dieser Zeitung meinte: Aus Gründen des Branding «müssen wir schauen, wo wir mitmachen». Statt von den Olympischen Spielen zu profitieren, könnte ihre Marke jetzt, da sich die versprochene Verbesserung der Menschenrechtssituation als reines Lippenbekenntnis der Machthaber erwiesen hat, Schaden nehmen. Gleichzeitig müssen Herzog & de Meuron einsehen, dass sie mit ihrem Engagement zu Handlangern eines unzimperlichen Regimes geworden sind. Mehr noch als Koolhaas' CCTV-Hochhaus, der neue Pekinger Flughafen von Norman Foster oder der blaue Blasenkörper der Schwimmhalle von PTV Architects aus Sydney könnte das zeichenhafte Olympiastadion zudem – ähnlich wie bereits die elegant gestylte olympische Fackel – zum Symbol eines China werden, das Dissidente, Bürgerrechtler sowie Minderheiten unterdrückt und in Tibet ein ganzes Volk in die Knie zwingt.
Komplexe Situation
Damit finden sich die Basler zusammen mit vielen anderen westlichen Architekten, die sich noch so gerne haben täuschen lassen, in einem Dilemma wieder. Wenn sie dieser Entwicklung zuvorkommen und gleichzeitig als moralisch integre Vordenker glaubwürdig bleiben wollen, so müssten sie (und Koolhaas mit ihnen) die Stimme erheben, dies umso mehr, als schon die Architekturbiennale von Venedig im Jahr 2000 von den Baukünstlern «More Ethics» gefordert hatte. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn für bauende Architekten ist die Situation eine andere als für Künstler wie Steven Spielberg, der vor zwei Monaten mit seinem Plädoyer für Darfur bei Chinas Machthabern auf taube Ohren gestossen war und daraufhin als künstlerischer Berater der Olympischen Sommerspiele in Peking zurücktrat. Eine öffentliche Kritik der Vorgänge in Tibet durch Herzog & de Meuron, in denen die Chinesen dem Vernehmen nach zurzeit die grössten Architekten der Gegenwart sehen, könnte nämlich nicht nur für sie mit unvorhersehbaren Konsequenzen verbunden sein, sondern unter Umständen auch die Träume vieler anderer Bauwilliger im Reich der Mitte gefährden. Gewinnen dürfte aber allenfalls Chinas neue, mit der Baukunst des Westens längst vertraute Architektengeneration, die nur darauf wartet, sich in Sachen Kreativität mit ihren Vorbildern zu messen.
Wolkenkuckucksheim
Das Hochhaus und die Landschaft
Es war heftig umstritten, das Hochhausprojekt von Mario Botta, das Celerina im Oberengadin einen himmelweisenden Akzent verleihen sollte. Nach leidenschaftlichen Debatten wurde nun der prismatisch-kristalline Hotelturm, der – anders als das von Herzog & de Meuron hoch über Davos als isolierter Akzent geplante Haus – mit seinen 17 Geschossen sogar die Kirche von Celerina überragt hätte, soeben von der Gemeindeversammlung abgelehnt.
Mit scharfen Artikeln in der Tagespresse war das Bauwerk nicht zuletzt von Mailändern und Tessinern bekämpft worden, die dort in Pseudo-Engadinerhäusern ihre Zweitwohnungen besitzen. Sie verwiesen auf Bottas überdimensioniertes Spielkasino in Campione d'Italia am Luganersee. Ihm gegenüber – beim Seedamm von Melide – soll nun eine der wertvollsten klassizistischen Villen des Tessins, die lange als Nachtklub bekannte «Romantica», einem Neubau weichen. Nicht ein Hotel wie in Celerina, sondern Luxusapartments sollen hier entstehen.
Nachdem die Gemeinde Melide grünes Licht gegeben hatte, wuchs in den vergangenen Wochen der Widerstand gegen das Projekt mit dem Resultat, dass der Investor Behjget Pacolli die Flucht nach vorn ergriff und der Gemeinde nun gleich mehrere Planungsvarianten vorschlug. Darunter findet sich neben solchen, die weiterhin den Abbruch der «Romantica» vorsehen, auch ein höchst spektakulärer Entwurf von Zaha Hadid. Sie will die Villa erhalten und dafür im kleinen Park einen 75 Meter hohen Turm aus übereinandergestapelten Wolken aus Aluminium und Glas errichten.
Im Interesse der Villa und des zukunftsweisenden Bauprojekts möchte man Melide die Zustimmung zu Hadids Wolkenkuckucksheim empfehlen, zumal schon Rino Tami vor vierzig Jahren für diese exponierte Stelle ein 22-stöckiges Hochhaus vorgeschlagen hatte. Zu klären bleibt allerdings die Frage, ob die – trotz Verkehrsbauten und wuchernden Dörfern – noch immer einzigartige Seelandschaft ein derartiges Zeichen überhaupt verkraften würde.
Formen der Erinnerung
Eine Ausstellung zum Architekten Fabio Reinhart in Biasca
In den späten siebziger Jahren war Fabio Reinhart ein Stern am Himmel der Tessiner Architektur. Nun kann man dem geschichtsbewussten Baukünstler in einer Ausstellung in Biasca wiederbegegnen.
Originelle Geister sind in der heutigen, von Starkult, Modeströmungen und Investorengeldern bestimmten Architekturwelt rar geworden. Selbst Vordenker wie Rem Koolhaas scheinen sich nur noch für das schnelle Bauen und die Wucherungen der Riesenstädte zu begeistern. Das war in der Zeit nach den Studentenunruhen anders. In Ermangelung von Aufträgen träumten junge Baukünstler damals von wandernden Städten und riesigen, die Landschaft überziehenden Megastrukturen oder spielten nicht ohne Ironie mit dem historischen Formenschatz. Eine der eigenwilligsten Persönlichkeiten war der 1942 in Bellinzona geborene Fabio Reinhart. Inspiriert von Aldo Rossis Analyse der europäischen Stadt, entwarf er zusammen mit Bruno Reichlin eine Architektur, in deren Zentrum die vielschichtige, dem Gebauten innewohnende Erinnerung stand. Mit einem Schlag berühmt wurden sie Mitte der siebziger Jahre mit zwei Wohnhäusern, der Casa Tonini in Torricella bei Lugano und der Casa Sartori bei Riveo im Maggiatal. In beiden näherten sie sich mit den Mitteln der zeitgenössischen Architektur der palladianischen Villentypologie und stilisierten dabei die klassizistische Formensprache, ohne aber einem postmodernen Flirt mit antiken Versatzstücken zu verfallen.
Die Stimmung des Ortes
Doch bald schon galt Reinhart mit seinem Hang zur Geschichte als Exot in der rational gefärbten Tessiner Architektenszene. So war den subtilen Projekten, die er und Reichlin für die Umgestaltung des Castelgrande in Bellinzona (1974) oder für den Schulhausneubau in Montagnola (1978) entwarfen, kein Erfolg beschieden. Die einzigartige Fähigkeit, mit der sie die Stimmung eines Ortes zu verdichten wussten, verhalf den von ihnen konzipierten Interventionen in Rheinfelden (1978) und in Laufenburg (1990) ebenso wenig zum Durchbruch wie den urbanistischen Entwürfen für Rotterdam, München und Berlin. War die Restrukturierung eines Häuserblocks an der Berliner Kochstrasse noch ganz im Geiste Aldo Rossis, so fand Reinhart beim Spandauer Bahnhof (1991) wie zuvor schon beim Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe zu zeichenhaften Darstellungen, die mitunter an die futuristischen Grossstadtbilder von Antonio Sant'Elia und Mario Chiattone gemahnen. In ihrer magischen Ausstrahlung veranschaulichen diese Visionen gleichsam die Quintessenz der Mitte der achtziger Jahre von Reinhart und Miroslav ik an der ETH Zürich erarbeiteten Entwurfsstrategie der «Analogen Architektur», die einige der besten Deutschschweizer Architekten der mittleren Generation ganz entschieden prägen sollte.
Parallel zur Lehrtätigkeit, die ihn später über Deutschland zurück in die italienischsprachige Welt führte, konnte Reinhart 1990 noch mit Reichlin das Mövenpick-Autobahnhotel bei Bellinzona realisieren, das die Burgen und Mauern der Stadt ebenso zitiert wie klassizistische Palazzi oder, mit einem Augenzwinkern, die bildhafte Ziegelbaukunst Mario Bottas. Eine gleichzeitig von Reinhart geplante Reihenhaussiedlung über dem Park von Antonio Crocis Villa Argentina, dem heutigen Verwaltungssitz der Architekturakademie Mendrisio, hätte ganz im Sinne von Crocis Bauwerk mit den Stilen der Vergangenheit gespielt. Doch diese Follies sollten wie so viele andere Projekte nicht über die betörenden Zeichnungen hinauskommen. Ihnen kann man derzeit in einer grossen Retrospektive begegnen, die – anlässlich von Reinharts 65. Geburtstag von der Architekturfakultät «Aldo Rossi» in Cesena zusammengestellt – letztes Jahr schon in Neapel, Ravenna und Cesena gezeigt wurde und nun in der Casa Cavalier Pellanda in Biasca zu sehen ist. Auch wenn das Ausstellungshaus etwas entlegen scheinen mag, könnte es nicht idealer sein, wurde dieses Juwel der Tessiner Spätrenaissance doch zwischen 1984 und 1987 von Reinhart und Reichlin mit viel Herzblut restauriert und zu einem Kulturzentrum umgebaut.
Metaphysische Innenräume
Im sonst nicht zugänglichen Annexbau der Casa Pellanda, in welchem sich der Aufgang zu den Verwaltungsräumen des Museums befindet, durfte Reinhart vom pyramidenförmigen Entrée bis hin zur rot gepolsterten Türe im Fifties-Stil seine innenarchitektonische Phantasie ausleben. Anlässlich der Ausstellung wurde dieses leicht surreal anmutende Treppenhaus zum Museumseingang umgewidmet und ist nun ein Hauptexponat der Schau. In den historischen Räumen werden dann alle wichtigen Bauten und Projekte präsentiert, die Reinhart anfangs mit Reichlin und später mit anderen Kollegen konzipierte. Neben Fotos und Modellen – darunter im stimmungsvollen Kellergewölbe eine grosse Maquette des Mövenpick-Hotels – dominieren phantastische, in dieser Qualität seit dem 19. Jahrhundert kaum je mehr angefertigte Pläne und Ansichten.
Viel Platz nimmt die Restaurierung der Casa Croci in Mendrisio ein. Der Eklektizismus dieses Meisterwerks entspricht Reinharts «analogem» Architekturwollen derart, dass man es für sein eigenes Werk halten könnte – zumal der Architekt sich im Innern einige dekorativ-metaphysische Spielereien erlaubt hat. Ähnliches gilt für das Opernhaus von Genua, das Reinhart zusammen mit seinen Mentoren Rossi und Ignazio Gardella gestalten durfte. Vorgestellt werden aber auch ganz neue Arbeiten – etwa die städtebaulichen Entwürfe für Vicenza und Siracusa sowie seine bisher letzte bauliche Realisation: eine poetische Villa hoch über dem Luganersee in Vernate (1999), die man als Hymne auf das Schreinerhandwerk bezeichnen möchte. Auch wenn Reinhart bis anhin nur wenige Werke ausführen konnte, schuf er doch ein eindrückliches architektonisches Universum. Diesem versucht sich der schön illustrierte Katalog mit einer Sammlung von Aufsätzen zu nähern, verzichtet dabei aber leider auf einen gültigen Überblick über die in fast vierzig Jahren entstandenen Bauten und Projekte. Umso wünschbarer wäre es deshalb, wenn das in Biasca vereinte Material seinen Weg auch in ein Deutschschweizer Museum finden könnte.
[ Bis 6. April in der Casa Cavalier Pellanda in Biasca (jeweils am Mittwoch-, Freitag-, Samstag- und Sonntagnachmittag). Katalog: Fabio Reinhart. Architettura della coerenza. Cooperativa libreria universitaria editrice, Bologna 2007. 223 S., Fr. 45.–. ]
Architektur mit Glamour
Der Fotograf Julius Shulman in einer Lausanner Ausstellung
Mit verführerischen Aufnahmen in Magazinen wie «Life» und «Time» machte Julius Shulman die modernistische Architektur im konservativen Amerika der Wirtschaftswunderjahre zum Stadtgespräch. Der 1910 in New York geborene Meister der Inszenierung hatte vergleichsweise spät zur Fotografie gefunden. Anfang der dreissiger Jahre begann er, vom Studium angeödet, mit einer Pocketkamera zu experimentieren und hielt zunächst auf winzigen Abzügen stählerne Brückenkonstruktionen und Wendeltreppen fest, die irgendwie an Bauhaus-Fotos erinnern. Doch 1936 veränderte eine Bildserie über Richard Neutras Kun House sein Leben: In ihr hielt er die Villa in den Hügeln von Los Angeles aus unkonventionellen Blickwinkeln fest, von denen einer das Gebäude wie nach einem Erdbeben zeigt. Das hatte nichts mehr mit den nüchternen Sujets der gängigen Architekturfotografie zu tun. Neutra zeigte sich ebenso begeistert wie sein Kollege Raphael Soriano, der ihn umgehend bat, das Haus der Pianistin Helen Lipetz in Silverlake aufzunehmen.
Häuser und Geschichten
Diese und andere frühe Aufnahmen für Neutra und Soriano, der das Atelierhaus des Fotografen bauen sollte, bilden die eigentliche Überraschung der Shulman-Schau, die derzeit in der Galerie «Archizoom» der ETH Lausanne zu sehen ist. Handelt es sich dabei doch um kaum bekannte Fotos aus einer 100 Abzüge umfassenden Schenkung des italoschweizerischen Architekten Alberto Sartoris an die Lausanner Hochschule. Die Aufnahmen, an welchen sich die Entwicklung von Shulmans Stil ablesen lässt, bilden eine ideale Ergänzung zur schönen Auswahl von 70 Highlights aus dem Schaffen des Amerikaners, die vor zwei Jahren bereits in Frankfurt gezeigt worden war.
Nach diesem fulminanten Start wartete Shulman bald schon mit ersten Meisterwerken wie der Nachtaufnahme des mit einem beleuchteten Korkenzieher-Turm bekrönten Academy Theatre in Hollywood auf, in denen sich Licht, Raum und Perspektive zu magischen Bildern verdichten. Kurz darauf begann er die Bauten mit Menschen und Gegenständen erzählerisch aufzuladen und damit auch für ein Laienpublikum attraktiv zu machen. So fotografierte er William E. Fosters «Shangri La»-Hotel in Santa Monica mit einem Rolls-Royce, aus dem eine junge Dame und ein älterer Herr steigen, oder mit Tennisspielern, die von einem jungen Pagen kühle Drinks entgegennehmen. Nach dem Krieg verlieh er dem ufoartigen Haus des Schweizer Architekten Albert Frey in Palm Springs mit einer Swimmingpool-Szene einen Hauch von Sinnlichkeit; und die legendären, als Prototypen für den Mittelstand gedachten Case Study Houses bevölkerte er mit seltsam isoliert wirkenden Paaren. Kein Wunder, dass der glamouröse Zusammenklang von spektakulären Bauten und perfekt gekleideten Modellen schliesslich die Modefotografie beeinflusste.
Verlust der Seele
Zur Ikone der Architekturfotografie des 20. Jahrhunderts aber wurde das gleichsam über dem Lichtermeer von Los Angeles schwebende Stahl House von Pierre Koenig, welches von der unergründlichen Atmosphäre der Bilder Edward Hoppers erfüllt zu sein scheint. Doch auch Oscar Niemeyers Brasilia oder Eladio Diestes Backsteingewölbe in Uruguay sah er mit den Augen eines Künstlers. Wie einzigartig Shulmans Blick auf eine durch Menschen, Tiere oder Objekte belebte Architektur einst war, machen die letzten Bilder der Lausanner Schau klar. Sie zeigen Frank Gehrys Disney Concert Hall in Los Angeles oder das Kindermuseum von Abraham Zabludovsky im mexikanischen Villahermosa, die der Meister vor drei Jahren zusammen mit Jürgen Nogai aufgenommen hat. Auch sie sind sicher komponiert und informativ – aber ohne Seele. Hier tritt der greise Shulman ganz offensichtlich in die Falle jener zeitgenössischen Architekturfotografie, die – im Wettstreit mit Renderings – immer mehr auf Hochglanzperfektion setzt.
[ Bis 4. April (täglich ausser sonntags) in der Galerie «Archizoom» der ETH Lausanne. Kataloge: Ein Leben für die Architektur. Der Fotograf Julius Shulman. Deutsches Architekturmuseum Frankfurt, 2005. 48 S., Fr. 24.–. – Julius Shulman dans les collections des Archives de la construction moderne. Hrsg. Archives de la construction moderne, Lausanne 2008. Fr. 20.–. ]
verknüpfte Publikationen
- All began just by chance. Julius Shulman.
Baumeisterliche Perfektion
Die Vorarlberger Architekten Helmut Dietrich und Much Untertrifaller in Meran
Das neue Festspielhaus in Bregenz machte Helmut Dietrich und Much Untertrifaller zu Stars der österreichischen Architekturszene. Nun stellen die Vorarlberger ihr Werk in Meran erstmals zur Diskussion.
Wenn James Bond demnächst von seinen Widersachern über die Bregenzer Seebühne gejagt wird, dürfte sich neben der Handlung vielen Zuschauern wohl auch die spektakuläre Szenerie einprägen. Doch mindestens so faszinierend wie das über dem Wasser sich auftürmende Bühnenbild ist das Festspielhaus selbst, das mit skulpturaler Präsenz aus einem urbanistischen Hinterhof einen Ort von grosser Ausstrahlung machte. Mit ihm besitzt Bregenz nach Peter Zumthors gläsernem Kunsthaus-Kubus ein weiteres baukünstlerisches Highlight, das im globalen, von einprägsamen Bildern lebenden Architekturwettstreit mithalten kann. Erstaunlicherweise handelt es sich bei diesem collageartig zusammengefügten Gebäude nicht um das reife Werk eines Architekten. Vielmehr ging es hervor aus einem frühen Wettbewerbsprojekt, das die beiden heute gut fünfzigjährigen Bregenzer Architekten Helmut Dietrich und Much Untertrifaller 1992 zusammen erarbeitet hatten. Im Hinblick auf die Realisierung des ersten Bauabschnitts gründeten sie 1994 ein gemeinsames Büro in Bregenz, mit dem sie in jüngster Zeit so erfolgreich waren, dass sie Niederlassungen in Wien und St. Gallen eröffnen konnten.
Vorarlberger Tradition
Neben dem Bregenzer Grossauftrag befassten sie sich – ganz den regionalen Gepflogenheiten entsprechend – zunächst vor allem mit Einfamilienhäusern, in denen sie die zeitgenössische Formensprache oft in Holz materialisierten und damit Eigenheiten der bis in die 1970er Jahre zurückreichenden neuen Vorarlberger Architektur weiterentwickelten. Das festigte ihren Ruf ebenso wie die Tatsache, dass sie aufmerksam auf die Vorstellungen der Bauherren eingehen und stets perfekt ausgeführte Arbeiten abliefern. Obwohl das Büro inzwischen mit Aufträgen überschüttet wird, finden Dietrich & Untertrifaller weiterhin Zeit, an Wettbewerben teilzunehmen. So vermochten sie sich 2004 mit ihrem Projekt einer neuen Hochschulsportanlage der ETH Zürich auf dem Hönggerberg gegen illustre Konkurrenten durchzusetzen. Wenig später konnten sie mit dem neuen Reka-Feriendorf in Urnäsch ihren ersten Grossauftrag in der Schweiz vollenden: eine kammartige Anlage, die sich entschieden vom alten, aus schönen Einzelhäusern bestehenden Dorfkern abhebt und beweist, dass die Bregenzer mitunter auch in schönen Landschaften harte Akzente zu setzen wagen.
Den bisherigen Höhepunkt ihrer Karriere markierte der 2006 vollendete zweite Teil des Bregenzer Festspielhauses. Dieser antwortet dem älteren, von einem industriell anmutenden Schwebebalken dominierten Verwaltungsbau mit der geschliffenen Eleganz der Theaterfassade, die sich auf einen neuen Platz öffnet und dem Haus eine spannungsvolle Mehransichtigkeit verleiht. Im vergangenen Jahr konnten sie dann auch den Wienern, die sich der Provinz gegenüber gerne etwas hochnäsig geben, ihre Meisterschaft bewiesen: mit der Erweiterung der Wiener Stadthalle um ein schnittig polygonales Musiktheater, das sich bald dem Nachkriegs-Meisterwerk von Roland Rainer anzuschmiegen, bald ihm die Zähne zu zeigen scheint.
Spektakuläre Formen und baukünstlerische Innovationen um jeden Preis sind aber nicht die eigentlichen Anliegen von Dietrich & Untertrifaller. Viel lieber konzentrieren sie sich auf baumeisterliche Präzision und Detailsorgfalt, die sie dank den hohen handwerklichen Standards in Vorarlberg leicht verwirklichen können. Exemplarisch mag dafür die 2007 abgeschlossene Erweiterung des Angelika-Kauffmann-Museums in Schwarzenberg stehen, bei der beste Schreinerarbeit und Stahlbautechnik zusammenfinden. War für diesen Umbau der Scheune eines ehemaligen Bauernhauses zum stimmungsvollen Ausstellungsraum das Zwiegespräch mit der Baukultur des Bregenzerwaldes entscheidend, so holen die ganz in der Tradition der alemannischen Streusiedlungen präzis am sonnigen Hang oder in aussichtsreicher Höhe placierten Villen ihre Kraft aus dem Dialog mit dem Ort und der Topografie. Aber auch den Umgang mit schwierigen städtischen Situationen beherrschen Dietrich & Untertrifaller: In Bregenz setzten sie die urbanistische Körnung der von Bahntrassee und Strasse bedrängten seeseitigen Vorstadt überzeugend fort mit einem Büroturm und drei über einem verglasten Sockel liegenden Wohnbauten, von deren Balkonen man einen Traumblick über Österreichs Riviera hat.
Analyse und Interpretation
Nun stellen Dietrich & Untertrifaller ihr baukünstlerisches Schaffen in einer sachlichen Schau im Ausstellungshaus «Kunst Meran» zur Diskussion. Diese Meraner Institution widmet sich seit Jahren nicht nur der zeitgenössischen Kunst, sondern auch der Architektur und ist damit zu einem wichtigen Forum für Baukunst im Alpenraum geworden. Die Ausstellung vermittelt einen Überblick über 14 wichtige Projekte sowie kleine Bauten, die das Büro seit Mitte der neunziger Jahre realisiert hat. Thematisch nach Kulturbauten, Schulen, Geschäftshäusern sowie Wohnanlagen gegliedert, nähert sich die Präsentation dem Werk von Dietrich & Untertrifaller mittels eines Bilderreigens des Vorarlberger Architekturfotografen Bruno Klomfar, der sich im dritten Stock zu einer Hymne an das Einfamilienhaus steigert. Vertieft wird diese bildhafte Vergegenwärtigung der gebauten Werke mit Modellen, aber auch mit Plänen, die auf kleinen Tischen aufgezogen sind. Diese minimalistischen, aus immer wieder anderem Holz oder Metall gefertigten Möbel verwandeln die Ausstellungsräume in eine einheitliche Installation, die zeigt, dass es nicht grosse Erfindungen sind, mit denen die beiden Vorarlberger brillieren. Das Geheimnis ihres Könnens liegt eher in der bedächtigen Analyse und der pragmatischen Uminterpretation internationaler Trends. Aus dieser Strategie resultieren jedoch keine epigonenhaften Arbeiten, sondern Bauten, die stets eine Bereicherung des Ortes darstellen – oder aber diesen ganz neu definieren.
[ Bis 30. März im Ausstellungszentrum Kunst Meran. Begleitpublikation: Dietrich & Untertrifaller. Bauten und Projekte seit 2000. Hrsg. Walter Zschokke. Springer-Verlag, Wien 2008. 307 S., Fr. 81.50 (€ 49.95 in der Ausstellung). ]
Bautechnische Höhenflüge
Der britische Architekt Richard Rogers im Centre Pompidou in Paris
Mit dem 1977 vollendeten Centre Pompidou wurden Renzo Piano und Richard Rogers zu gefeierten Stars. Nun widmet das Pariser Museum dem britischen Architekten eine fulminante Retrospektive.
Kaum sonstwo gibt sich Paris derzeit so festlich wie beim Centre Pompidou. In der ebenerdigen Südgalerie des technoiden Musentempels werden zahllose Lichter von pink, gelb und blau lackierten Tischen reflektiert, auf denen architektonische Modelle leuchten. Sie verwandeln den grossen Saal in ein Spielzeugparadies, das die Passanten magisch anzieht und sie zum architektonischen Window Shopping verlockt. Das Prinzip der Offenheit, das Renzo Piano und Richard Rogers in ihrer 1977 vollendeten Museumsmaschine anstrebten, überzeugte selten mehr als bei dieser Ausstellung, welche die Pariser Institution in ihrem Jubeljahr einem ihrer beiden Architekten, Richard Rogers, ausrichtet. Der 1933 in Florenz geborene Londoner Baukünstler nutzte die ihm gebotene Gelegenheit zur Selbstdarstellung und inszenierte eine fulminante Schau, in die das Publikum in Massen strömt.
Architektur in der Vitrine
Seit der Gründung seines eigenen Büros vor nunmehr 30 Jahren hat Rogers zusammen mit seinem basisdemokratisch organisierten Team rund 400 Projekte erarbeitet, von denen viele realisiert wurden. Darunter befinden sich Ikonen wie das Lloyd's Building in London oder der Gerichtspalast von Bordeaux, aber auch umstrittene Bauwerke wie der zeltartige Millennium Dome – dessen Teflongewebe im Film «The Earth is not enough» immerhin James Bonds Sturz aus grosser Höhe abzufedern vermochte. Ebenso sehr wie über diese populäre Szene dürfte sich Rogers über den Pritzker-Preis gefreut haben, der ihm heuer für seine wegweisenden Bauten, aber auch für seinen Kampf gegen den städtebaulichen Niedergang verliehen wurde. Die Idee von der Stadt als baukünstlerisch durchdachtem Konstrukt liegt auch seiner Ausstellung zugrunde. Die vieleckigen Tische, auf denen gut 45 Projekte präsentiert werden, gleichen Häuserblocks, die sich zu den Quartieren einer Stadt verdichten. Sieben dieser Stadtviertel sind mit «Öffentlicher Raum», «Lesbarkeit», «Transparenz», «Urbanismus», «Umweltverträglichkeit», «Leichtigkeit» und «Systembau» bezeichnet. Am Eingang zur Schau verweist zudem ein isolierter Häuserblock auf Rogers' Frühwerk, während in der diagonal gegenüberliegenden Ecke in einem weiteren Quartier die im Bau befindlichen Werke zelebriert werden.
Der jedem Hierarchiedenken abholden Weltsicht des Meisters entsprechend können sich die Besucher frei auf den durch die Schau führenden Strassen bewegen und ganz individuell dem Œuvre nähern. Wer Halt in dieser flirrenden Ausstellungsstadt sucht, wird sich der riesigen Collage zuwenden, die auf der Rückwand des dreiseitig verglasten Saales eine chronologische Werkübersicht vermittelt – von den frühen Arbeiten, die Rogers zwischen 1963 und 1967 zusammen mit Norman Foster im Team 4 schuf bis hin zum Leadendall-Hochhaus in der Londoner City, das bald schon Renzo Pianos formal, aber nicht strukturell verwandter «Glasscherbe» antworten wird, die südlich der Themse entstehen soll.
Am Anfang des Modellreigens im Centre Pompidou steht jedoch das Zip-Up-Haus, das Rogers und seine damalige Frau Su Brumwell 1969 als Prototyp entwickelten. Die gelbe Hülle, die Bullaugen und die Metallstelzen machen es zu einem Vorläufer von High-Tech und Ökoarchitektur. Indem die energiesparende modulare Konstruktion des Zip-Up-Hauses auf Vorbilder wie Buckminster Fuller, Charles Eames und Jean Prouvé verweist, bietet sie den Schlüssel zu Rogers' späterem Schaffen. Es war denn auch Prouvé, der sich als Jurymitglied des Centre-Pompidou-Wettbewerbs für das Projekt von Rogers und Piano starkmachte. Neben dem bautechnischen Höhenflug wurde die soziale Dimension zum zentralen Thema ihrer ganz im Sinn von Archigram als radikales architektonisches Manifest konzipierten Kulturmaschine. Eine genauso wichtige Rolle wie der von aussen lesbaren Konstruktion kam deshalb der ins Häuserdickicht von Paris geschlagenen Piazza zu, die sich durch die Glasfassade hindurch ins Museumsforum weitet und dank den Rolltreppen-Kaskaden auch vertikal über das Gebäude ausbreitet.
Ausgehend von der faszinierenden Dokumentation des Centre Pompidou, die einen zum Erkunden des gebauten Originals animiert, sind unterschiedliche Promenaden durch die Ausstellung möglich. Nach wenigen Schritten begegnet man unter dem Stichwort «Lesbarkeit» den Maquetten des Londoner Lloyd's Building, das Rogers nach der Vollendung des Pariser Jahrhundertwerks zwischen 1978 und 1982 als ersten Grossauftrag in eigener Regie verwirklichte. Die schon im Centre Pompidou angedeutete Trennung von dienenden und bedienten Bauteilen wird hier – im Dialog mit Louis Kahns Laborgebäude in Philadelphia – perfektioniert. Aber auch eine Begeisterung für die Transparenz von Pierre Chareaus Glashaus oder für die organischen Strukturen der japanischen Metabolisten ist zu spüren. Obwohl Rogers im Glasgewölbe, das den Lichthof überspannt, sogar Joseph Paxtons Londoner Kristallpalast zitierte, zog er mit dem Lloyd's-Neubau, dem eigenwilligsten und besten Gebäude, welches in den vergangenen Jahrzehnten in Londons City entstanden ist, den Zorn von Prinz Charles auf sich. Dabei träumen beide von einer lebenswerten Stadt. Allerdings verbindet der königliche Architekturkritiker diese mit einem harmonischen, historisch intakten Erscheinungsbild, während es dem 1996 zum Lord of Riverside geadelten Baukünstler um den lebendigen, unkommerziell gestalteten öffentlichen Raum geht. Davon künden seine urbanistischen Projekte – allen voran die 1986 ausgearbeitete Vision von «London as it could be», in der Rogers die Ufer der Themse in eine pulsierende Flaniermeile verwandeln und den Fluss durch futuristische, zwischen Skulptur und Raffinerie oszillierende Bauten beleben wollte.
Gebaute Widersprüche
Die aus dem Lloyd's Building gewonnenen Erkenntnisse beeinflussten den 1994 eröffneten neuen Sitz des Senders Channel 4, der sein Innenleben dank den übereinander gestapelten, an Fernsehapparate erinnernden Boxen der Sitzungszimmer und der strukturell verglasten, über mehrere Galerien sich öffnenden Lobby gleichsam nach aussen stülpt. Ähnlich transparent gibt sich der Justizpalast von Bordeaux (1998), ein gläserner Schrein, der sieben hölzerne, an konische Fässer gemahnende Gerichtssäle umhüllt. Diese Architektur zeugt ebenso wie das vor anderthalb Jahren vollendete walisische Parlamentsgebäude in Cardiff von Rogers' Interesse am umweltbewussten Bauen. Den hier aufgestellten Standards vermag dann aber der neue Terminal des Barajas-Flughafens in Madrid (1996–2005), der in der Ausstellung den Systembau veranschaulicht, trotz natürlicher Belüftung und Sammlung des Oberflächenwassers kaum zu genügen.
Konsequenter durchgeformt ist dagegen der gleichfalls 1996 entworfene, aber schon 1999 vollendete Millennium Dome. Seine Leichtbauweise weist zurück auf das 1990 an einem Meccano-Modell entwickelte Projekt des kleinen, kranförmigen Tomigaya-Ausstellungsturms in Tokio. Doch ausgerechnet diese wichtige Miniatur konnte Rogers, dem sonst in Japan das Glück lacht, nicht realisieren. Auch auf ästhetischem Gebiet reüssierte Rogers nicht immer, wie der Europäische Gerichtshof in Strassburg oder die Bauten am Potsdamer Platz in Berlin beweisen. Formal geschliffener, architektonisch jedoch brüchiger als die früheren Arbeiten sind Rogers' neuste, meist von seinen Büropartnern betreute Projekte: vom überinstrumentierten Umbau der neo-maurischen Stierkampfarena von Barcelona in ein Shoppingcenter bis hin zu den Londoner Luxushäusern. Die Pariser Schau demonstriert aber eindrücklich, dass all diese Schwächen die Bedeutung des Gesamtwerks nicht trüben können.
[ Bis 3. März 2008 im Centre Pompidou in Paris. Katalog: Richard Rogers + Architectes. Hrsg. Oliver Cinqualbre. Editions Centre Pompidou, Paris 2007. 240 S., € 39.90. ]
Magie der Modelle
Santiago Calatravas Sportstadien im Musée Olympique in Lausanne
Man mag von Santiago Calatravas Bauten halten, was man will. Eines ist ihnen nicht abzusprechen: die ikonenhafte Erscheinung, mit der sie vielerorts Zeichen setzen – vom Bahnhof bis zum Opernhaus. Seit den Olympischen Spielen in Athen befinden sich auch Stadien darunter. Der schönste von Calatravas meist unrealisiert gebliebenen Sporttempeln hätte in Zürich entstehen können. Doch leider vermochte sich die Jury vor fünf Jahren für sein Projekt eines neuen Hardturmstadions nicht wirklich zu erwärmen. So wird denn der stilisierte Riesenfisch mit der fast hundert Meter hohen Schwanzflosse nie durch das Zürcher Häusermeer schwimmen, obwohl er aufgrund seiner die Grösse relativierenden und den Schattenwurf minimierenden Stromlinienform bei den Anwohnern bestimmt mehr Anklang gefunden hätte als die selbstbewusste Fussballburg von Marcel Meili und Markus Peter.
Calatravas Hardturm-Entwurf fasziniert jedoch nicht nur wegen der zoomorphen Form, sondern auch wegen der ausgeklügelten Dachkonstruktion. Vorarbeiten zu diesem architektonischen Balanceakt finden sich schon in den achtziger Jahren in den ebenfalls gescheiterten Entwürfen einer Squashhalle in Berlin und des Genfer Sportzentrums «Pré Babel». Solche Fingerübungen aber führten den in Zürich tätigen Spanier zum filigranen Dach der 1995 konzipierten Fussballarena von Marseille. Im Jahr darauf verfeinerte er diese netzartige Struktur im Wettbewerb für ein Olympiastadion in Stockholm zu einer von Himmelsharfen getragenen Überdachung, die er in einem ovalen, auf die Stierkampfarenen seiner Heimat verweisenden Baukörper erden wollte. Seine Stadionträume konnte Calatrava dann endlich zwischen 2001 und 2004 im eleganten, aus Arena, Velodrom und Agora bestehenden Athener Olympiazentrum verwirklichen. Damit gelang ihm ein Gesamtkunstwerk, das erstmals seit der legendären Münchner Zeltkonstruktion von Günter Behnisch und Frei Otto wieder einem olympischen Austragungsort ein architektonisches Gesicht verlieh. Gleichwohl wirken die Einzelbauten heute – verglichen mit dem brachial anmutenden Vogelnest des Pekinger Stadions von Herzog & de Meuron – etwas parfümiert.
Nun steht die Athener Anlage im Mittelpunkt einer Calatravas Sportbauten gewidmeten Ausstellung im Musée Olympique in Lausanne, die wortkarg elf ebenso prachtvolle wie beeindruckende Modelle sowie einige Grossfotos vereint. Calatravas ersten Olympia-Auftrag, bei dem es sich allerdings nicht um ein Stadion, sondern um den skulpturalen, mit seinen 136 Metern Höhe weithin sichtbaren Telekommunikationsturm auf dem Olympiagelände von 1992 in Barcelona handelte, klammert die Schau zu Recht als gattungsfremd aus. Dennoch würde sich dieser pendelartige Himmelstürmer wohl gern mit Calatravas neusten Gleichgewichtsübungen messen – etwa dem aus kubischen Doppelaggregaten zusammengefügten Universitätsgebäude mit angedockter Sporthalle, das in Maastricht Realität werden soll. Scheint dieses wie ein libellenartiges Raumschiff über einer spiegelnden Wasserfläche zu schweben, so erinnert die vor zwei Jahren entworfene Schwimmhalle der Universität Tor Vergata in Rom mit ihren plissierten Dächern bald an einen räumlich verdrehten Fächer, einen Lampion oder eine exotische Blüte. All dieser Formenzauber verdichtet sich zur Erkenntnis, dass stumme Modelle selten eine grössere Eloquenz entfaltet haben als in dieser Calatrava-Schau.
[ Bis 6. Januar im Musée Olympique in Lausanne. Kein Katalog. ]
Wellensofas für Science-Fiction-Städte
Pop-Architektur von Archizoom – eine Ausstellung in Lausanne
Die Architekturgalerie der ETH Lausanne hat sich neu erfunden. Wo bisher bunt gemixte Präsentationen – von romantischer Gartenkunst bis hin zu Bauten trendiger Jungarchitekten – zu sehen waren, sollen künftig in zwei jährlichen Ausstellungen die Wechselwirkungen zwischen Architektur, Konstruktion, Urbanismus und Design thematisiert und mit Vorträgen vertieft werden. Dieses Forum heisst neu Archizoom. Der Name erinnert an eine innovative, aber kurzlebige Architektengruppe in Florenz, der nun auch die Eröffnungsschau gewidmet ist. Zwischen 1966 und 1974 arbeiteten unter der Gruppenbezeichnung Archizoom Associati mehrere junge Florentiner zusammen, welche die Architektur mit revolutionären Ideen und künstlerischen Strategien zu erneuern suchten. Dabei schufen sie – angeregt durch ihr Londoner Vorbild Archigram – marxistisch angehauchte Visionen und gesellschaftskritische Projekte von grosser Suggestivkraft.
Auftakt zur ebenso zeitgeistigen wie baukünstlerisch interessanten Ausstellung machen die von metabolistischen Strukturen und Louis Kahns Betonburgen inspirierten Diplomarbeiten von Andrea Branzi, Gilberto Corretti und Paolo Deganello, die 1966 Archizoom gründeten. Ihre Begeisterung für die Pop-Art lebten die Rebellen vor allem im Design aus und schufen Ikonen wie das wellenförmige Kunststoff-Sofa «Superonda». In den antifunktionalistischen «Dream Beds» von 1967 vermischten sie «afro-tirolischen Kitsch» mit postmodernen Formen und nahmen so Themen von Alchimia und Memphis vorweg.
Obwohl die Mitglieder von Archizoom als Verfechter einer «radikalen Architektur» die Theorie stets höher werteten als die Praxis, hielt sie das nicht davon ab, bourgeoise Bauten wie das von Adolf Loos und der traditionellen Architektur beeinflusste Ferienhaus Benini bei Grosseto oder die terrassenförmig abgetreppte Villa Vivoli in Fiesole zu bauen. Nicht einmal vor klerikalen Aufträgen wie der Kirche San Cristofano in Florenz schreckten die selbsternannten Revoluzzer zurück.
Der von Archizoom im Zusammenhang mit dem Städtebau propagierte «Diskurs in Bildern», der sich bald auf monströse Megastrukturen, bald auf fragmentierte Stadtansichten abstützte, prägt auch die mit rund 130 Zeichnungen und Fotomontagen aufwartende Lausanner Ausstellung. Sie zeigt ausserdem Originalmöbel wie den als Mies-van-der-Rohe-Kritik verstandenen «Pekino»-Sessel oder das «Superonda»-Sofa. Das Modell ihres Flughafenprojekts für Genua von 1970 kündet von städtebaulichen Ambitionen, die im Guckkasten-Objekt «No-Stop City» zum Gesamtkunstwerk stilisiert werden. Eine Vielzahl dekorativer Pläne dokumentieren diese Stadt der Zukunft, für deren Bewohner die Architekten sogar Overalls und Kimonos kreierten. Mit dem von einem informativen Katalog begleiteten Neustart ist der Architekturgalerie ein Coup gelungen. Denn das bisher nur ausschnittweise bekannte Œuvre von Archizoom, das sich auf Rem Koolhaas' «Delirious New York» ebenso auswirkte wie auf Bernard Tschumis Parc de la Villette in Paris, ist mehr als eine Marginalie der Architekturgeschichte – und es gewinnt durch die heutige Retromode in der Architektur neue Aktualität.
[ Bis 30. November in der Architekturgalerie der ETH Lausanne. Katalog: Roberto Gargiani: Archizoom Associati. 1966–1974. De la vague pop à la surface neutre. Electa Mondadori, Mailand 2007. 335 S., Fr. 81.–. ]
Das Haus als städtebaulicher Kosmos
Alvaro Siza in der Galerie der Architekturakademie Mendrisio
Der 1933 geborene portugiesische Träger des Pritzker-Preises, Alvaro Siza, versucht seit je nach ethischen Gesichtspunkten zu bauen. Eine intelligent gewichtete Ausstellung in Mendrisio beleuchtet sein Schaffen neu.
Weit über die Fachkreise hinaus bekannt wurde Alvaro Siza 1983 mit seinem umstrittenen Beitrag zur Internationalen Bauausstellung (IBA) in Berlin – einem abgerundeten Eckhaus mit strenger Lochfassade, auf der bald in grossen Lettern «Bonjour tristesse» zu lesen war. Doch schon zwanzig Jahre zuvor hatte sich der 1933 in Portos Hafenvorstadt Matosinhos geborene Architekt mit dem von seinem Lehrer Fernando Távora und Frank Lloyd Wright beeinflussten Teehaus Boa Vista und der als archaisch-brutalistische Terrassenlandschaft am Meer konzipierten Poolanlage in Leça de Palmeira für eine regionalistisch verankerte Baukunst starkgemacht. In seinem sensiblen, von der Moderne ausgehenden Dialog mit den örtlichen Gegebenheiten, seinem Interesse an Haus und Stadt sowie seinem architektonischen Ethos war Siza damals am ehesten mit Luigi Snozzi vergleichbar. Während es dem Tessiner aber bis heute nicht vergönnt war, seine urbanistischen Visionen zu verwirklichen, öffneten sich Siza in der Heimat schnell alle Türen. Kurz nach der Nelkenrevolution erhielt der damals 41-jährige Architekt die Möglichkeit, mit der SAAL-Sozialsiedlung Bouça in Porto ein Vorzeigequartier zu gestalten, dessen Reihenhauszeilen zusammen mit den davorgesetzten Einzelbauten intime Gassenräume aufspannen und damit eine dörfliche Situation wachsen liessen.
Wenig bekannte Bauwerke
Zwei Dekaden später gab ihm Porto mit dem Bau der Architekturfakultät erneut Gelegenheit, eine Summe seiner baukünstlerischen Recherche zu präsentieren. Siza entwarf die an einem Steilhang hoch über dem Douro gelegene Hochschule als eine aus mehreren kleinen Turmbauten bestehende Miniaturstadt, in der die Aussenräume sich zu einem beziehungsreichen Kontinuum vernetzen. Dieses Juwel der europäischen Baukunst der 1990er Jahre sucht man leider in der Siza-Retrospektive, die derzeit in der Galerie der Architekturakademie Mendrisio zu sehen ist, ebenso vergeblich wie das Kunstmuseum von Santiago de Compostela, die Universitätsbibliothek von Aveiro oder das wiederaufgebaute Lissabonner Chiado-Viertel. Gleichwohl darf die Schau, die – wohl unbeabsichtigt – erstmals das Auf und Ab von Sizas Karriere verdeutlicht, als gültige Übersicht bezeichnet werden. Denn der Kurator Carlos Castanheira analysiert das Werk anhand von gezielt ausgewählten, oft wenig bekannten Werken. So spiegelt sich beispielsweise die Architekturfakultät von Porto in einer luxuriösen, unlängst vollendeten Ferienvilla in Mallorca. Diese demonstriert ebenso wie der 2007 über einem geborstenen Grundriss errichtete Holzbungalow in Sintra, bei dem jedem Zimmer ein eigener Bauteil zugeordnet ist, dass der Pritzkerpreisträger von 1992 das Haus stets als städtebaulichen Kosmos im Kleinen versteht.
Der Einzelbau bildete seit je das Zentrum von Sizas architektonischen und urbanistischen Studien. Die Casa Júlio Gesta, die statt des bekannteren Teehauses am Anfang der Schau auf Sizas moderne und mediterrane Wurzeln hinweist, konzipierte er 1961 als römisch inspiriertes Atriumhaus mit rückseitigem Peristylgarten, Dieses wirkte weiter auf den befremdend monumentalen portugiesischen Pavillon der Expo 98 in Lissabon mit seinem riesigen, zwischen Pfeilerportikus und Hauptgebäude eingehängten Baldachin. Bescheidener geben sich die 1984 fertig gestellte Casa Avelino Duarte in Ovar und der kubisch-abstrakte Tempel Santa Maria, der seit zehn Jahren einen blendend weissen Akzent in die chaotische Stadtlandschaft von Marco di Canaveses setzt. Gehorcht das äussere Erscheinungsbild von Haus und Kirche einer an Adolf Loos geschulten Kompositionsweise, so lassen die fliessenden Wände und der Oberlichtgaden im Inneren des Heiligtums an Bauten von Sizas Namensvetter Alvar Aalto denken. Der Widerspruch zwischen Aussenform und Innenraum zeigt sich auch beim Serralves-Museum in Porto, das wie ein Privathaus angelegt ist. Die Ausstellungssäle mit den wie umgekehrte Tische an den Decken klebenden Oberlichtblenden, die das Licht in all seinen Schattierungen zur Geltung bringen, warten dann aber mit einer überraschenden Grosszügigkeit auf.
Organische Einflüsse
Auch Sizas jüngsten Dialog mit modischen Bauformen stellt die Schau zur Diskussion. Die Fundação Iberê Camargo in Porto Alegre, an welcher der Meister seit 1998 plant und baut und die – typisch für die oft langsame Genese seiner Werke – schon vor der Eröffnung Patina ansetzte, flirtet mit dem Organischen: Aus der gewellten Hauptfassade wachsen Därmen gleich stumpfwinklig geknickte Rampen, die der internen Erschliessung dienen. Die Quintessenz von Sizas biomorph angehauchter Planungsstrategie stellt jedoch der jüngst mit ostasiatischem Tempo realisierte Kunstpavillon im südkoreanischen Anyang dar. Ein komplexer Baukörper wird hier von einem amöbenartig weichen Dach überfangen, so dass trotz der Kleinheit der Anlage die unterschiedlichsten Ansichten entstehen. Intimität und Grösse, Poesie und materielle Zurückhaltung prägen auch das Weingut im portugiesischen Campo Maior. Doch lagert es mit seinem schachtelartigen Volumen und den abgewinkelten Vordächern ruhig in der Landschaft und erinnert eher an Sizas Werk der neunziger Jahre. Manifestiert sich hier die Hand des Könners, so weist der Entwurf des 40-stöckigen «New Orleans»-Hochhauses in Rotterdam eine einfältige Art-déco-Bekrönung auf. Selbst von den Skizzen dieser misslungenen Arbeit aber geht etwas Magisches aus. Schade nur, dass sie – anders als die schönen Modelle – einmal mehr nicht im Original gezeigt werden.
[ Bis 25. November. Begleitpublikation: Alvaro Siza. Twenty two recent projects. Hrsg. Carlos Castanheira. Casa d'arquitectura Edições. Vila Nova de Gaia, 2007. 398 S., Fr. 80.–. ]
Gezähmter Wirbelsturm
Die von heute an zugängliche BMW-Welt in München sorgt mit einem spektakulären Bauwerk für Aufmerksamkeit
Exzentrische Architektur spielt im Marketingkonzept der Autoindustrie eine wichtige Rolle. Das beweist einmal mehr das neueröffnete Wolkenhaus der BMW-Welt von Coop Himmelb(l)au in München.
Mit Architektur lässt sich Aufsehen erregen. Das haben auch Deutschlands Autohersteller erkannt. Im Jahre 2000 eröffnete VW in Wolfsburg eine «Autostadt» und zwei Jahre später die «Gläserne Phaeton-Fabrik» in Dresden, dieweil Audi sich ein Automuseum in Ingolstadt errichten liess. Im vergangenen Jahr sorgte dann Mercedes mit dem von Ben van Berkel aus einer Doppelhelix entwickelten Stuttgarter Museum für Begeisterung, nachdem zuvor bereits Zaha Hadids bildkräftigem «Zentrumsgebäude» der neuen BMW-Produktionswerkstätten in Leipzig zugejubelt worden war. Die Münchner Fahrzeugbauer hatten die Wirkungsmacht der Baukunst jedoch früher schon entdeckt und sich 1973 vom Wiener Architekten Karl Schwanzer am Petuelring den Vierzylinder genannten BMW-Verwaltungsturm und ein pokalförmiges Firmenmuseum in Sichtweite der Olympiastadien errichten lassen.
Dekonstruktivistischer Blob
Als es nun darum ging, zwischen diesen Münchner Wahrzeichen auf einem 180 Meter langen, dreieckigen Grundstück ein Verkaufszentrum für BMW zu planen, versuchten sich die Wettbewerbsteilnehmer mit exzentrischen Gesten zu überbieten. Den Sieg trugen die Wiener Altrevoluzzer von Coop Himmelb(l)au mit einer grauen «Wolke» aus Stahl und Glas davon. Das Projekt sah im Entwurf phänomenal aus. Doch die architektonische Umsetzung der computergenerierten Vision verlangte konstruktive Zugeständnisse, so dass statt eines schwebenden Luftgebildes ein Bauwerk entstand, das neben der wogenden Zeltlandschaft der vor 35 Jahren eingeweihten Stadien fast etwas altbacken aussieht. Steht dieses doch den Formenträumen von heute näher als der dekonstruktivistische Blob der BMW-Welt.
Es ist die Tragik dieses Wiener Büros, dass es sich nach den frechen, künstlerisch inspirierten Anfängen der siebziger Jahre ganz auf wolkenartige Lebensräume eingeschworen hat, die es seit dem Dachausbau an der Wiener Falkstrasse (1988) stur in Architektur umzusetzen sucht. In einem unrealisierten Genfer Projekt von 1995 hätte die Gebäudehülle weicher werden sollen, doch dann nahm im Splitterwerk des Dresdner Ufa-Kinos der Dekonstruktivismus erneut überhand. Mit dieser eingängigen Formensprache sicherten sie sich bald schon prestigeträchtige Aufträge für das Musée des Confluences in Lyon, die Europäische Zentralbank in Frankfurt oder das jüngst eröffnete Akron Museum of Art. Wenn sich Wolf Prix, der 65-jährige Vordenker von Coop Himmelb(l)au, nun beim Wolkenbau im modischen Spiel mit dem Organischen übt, kommt ihm der Hang zum Chaos weiterhin ebenso in die Quere wie die barocke Lust am Theatralischen, von dem die über dem Bielersee tanzenden Expo-Türme einst kündeten. Wie diese wohl stimmungsvollste Arbeit des Wiener Büros ist die BMW-Welt eine zwischen Skulptur und Bühnenbild oszillierende Ereignisarchitektur, die sich bestens eignet für die effektvolle Präsentation und Vermarktung von Produkten.
Um das riesige Bauvolumen in den Griff zu kriegen, entschied sich Prix – wie einst Rem Koolhaas beim Congrexpo in Lille – für eine fliessende Grossform. Dieser verlieh er an der unmittelbar gegenüber dem BMW-Museum gelegenen Südostecke einen Akzent durch einen mit Glas und Lochblech verkleideten, zu einer Windhose dynamisierten Doppelkegel. Aus diesem trichterförmigen Wirbel heraus scheint das Dach einer Wolke gleich aufzusteigen, um – wie vom Föhnwind nach Norden geblasen und dramatisch aufgerissen – über dem Gebäude zu wabbern. Nur schade, dass das Bild der Wolke durch die Schwere der stählernen Konstruktion gestört wird. Verglichen mit Le Corbusiers kissenartigem Betonabschluss der Kapelle von Ronchamp mutet Prix' ähnlich konzipierte Überdachung denn auch ungelenk, ja hilflos an und macht dabei klar, dass die von ihm gewählte Stahlkonstruktion sich schlecht für organische Blob-Formen eignet. Da interessiert es den Betrachter kaum, dass das Dach dank einem ingenieurtechnischen Kraftakt nur vom Doppelkegel und von elf nackten, verkleideten oder umbauten Betonstützen getragen wird. Hingegen fragt er sich, warum die durch Annexbauten unterbrochene Glashülle auf halber Höhe einknickt und so mit dekonstruktivistischer Härte nicht nur der biomorphen Grundidee widerspricht, sondern dem massiven Wolkendach noch zusätzlich etwas Lastendes verleiht.
Im Bauch des Wals
Das alles macht diese Architektur, die vom benachbarten Fernsehturm herab betrachtet einer futuristischen Amöbe gleicht, aus der Nähe nicht verständlicher. So meint man, von der U-Bahn-Station Olympiazentrum herkommend, vor einem wie von Riesenhand zerquetschten Bürohaus zu stehen. Dissonante architektonische Motive – von dem wie ein Schiffsheck auskragenden Stahlkörper über seltsam angedockte Kuben bis hin zu Glaskaskaden – erschweren die Orientierung. Zunächst scheint es, die auffällige Brücke, die das Museum über die Strasse hin mit der BMW-Welt verbindet, führe in den Neubau. Erst später entdeckt man neben dem allmählich in Erscheinung tretenden Wirbel des Doppelkegels den Eingang. Dahinter weitet sich ein unterkühltes Raumkontinuum, dessen Treppen, Passerellen und Podien das Vokabular des Dresdner Ufa-Kinos ins Gigantische steigern und gleichzeitig an Piranesis Carceri gemahnen wollen.
Das dominierende Element des Innenraums, der sich in seiner architektonischen Anmutung irgendwo zwischen Flughafenterminal, Automesse und Shoppingcenter bewegt, ist das sich bald aufwölbende, dann wieder hinabsinkende Dach. Es schafft viel Raum, so dass man gerne an den ausgestellten Autos, den BMW-Boutiquen und Cafés vorbeiflaniert und zwischendurch hinaufblickt zum luxuriösen Restaurant, das durch den Walfischbauch hindurch in den Himmel vorzustossen sucht, oder zum Premiere genannten, von einer Spiralrampe umgebenen Plateau, auf dem jährlich rund 45 000 Autonarren der Geburt ihres Fahrzeugs beiwohnen werden. – Auch wenn das Silbergrau der metallenen Wandverkleidung die Besucher auf Schritt und Tritt daran erinnern will, dass hier «alles hundertprozentig BMW» ist, steht doch die grobe Detailverarbeitung in grösstem Gegensatz zu den wie aus einem Guss geformten Karosserien. Da kann die Architektur vom Autobau noch einiges lernen.
Aber nicht nur als Lehrstück für Baukünstler ist dieses Haus interessant. Auch neugierige Touristen, die zu den Olympiastadien pilgern, kommen in dieser kommerziellen Erlebniswelt auf ihre Rechnung – nicht zuletzt kulinarisch und kulturell. Denn der faszinierend gestauchte Raum im Doppelkegel soll künftig für Jazzkonzerte zur Verfügung stehen. Und experimenteller Jazz ist vielleicht die Musikform, die diesem Werk von Coop Himmelb(l)au am ehesten entspricht.
[ Die BMW-Welt ist täglich von 9 bis 20 Uhr gratis zugänglich. ]
Wohntürme und Verandahäuser
Eine Ausstellung und zwei Bücher über neue Architektur in Australien
Australien besitzt eine spannende Architekturszene, die allerdings in Europa kaum bekannt ist. Eine Ausstellung im Deutschen Architekturzentrum Berlin beleuchtet nun den innovativen Wohnungsbau des fünften Kontinents.
Nach Architektur in Australien befragt, nennen wohl die meisten Europäer Jørn Utzons Opernhaus. Doch seit seiner Vollendung vor 34 Jahren ist in Sydney ein ganzer Wald von Wolkenkratzern in den Himmel gewachsen, von denen einige der besten vom 2006 verstorbenen Harry Seidler stammen. Während dieser sich in seinen letzten Jahren vermehrt Europa zuwandte, konnte sich die kommerzielle Grossfirma von Philip Cox in Sydney stark ausbreiten. Deshalb arbeiten heute die meisten kreativen Architekten in Melbourne, wo Büros wie Denton Corker Marshall oder Nonda Katsalidis sich gleichermassen mit der städtebaulichen Integration von Bürotürmen und der harmonischen Einbettung von Villen in die weite Landschaft befassen. Einen ganz eigenen Weg geht wiederum der 2002 mit dem Pritzker-Preis geehrte Glenn Murcutt, dessen von der klassischen australischen Leichtbauweise inspirierte Häuser die Erde nur leicht berühren.
Innovativer Wohnungsbau
Doch gibt es in Australien auch jüngere interessante Architekten – und, wenn ja, womit beschäftigen sie sich? Eine Antwort auf diese Fragen versucht derzeit eine Ausstellung im Deutschen Architekturzentrum (DAZ) an der Köpenicker Strasse in Berlin zu geben. Unter dem etwas altbackenen Titel «Wohnraum Moderne» wirft sie einen Blick auf den zwischen Brisbane und Perth boomenden Wohnungsbau. Die thematische Einschränkung lässt sich damit rechtfertigen, dass in Australien – anders als in Europa und Amerika – der Museumsbau als Spielwiese für innovative Baukünstler kaum eine Rolle spielt. Hingegen geben engagierte Investoren und Privatleute gerne aufsehenerregende Wohntürme oder ausgefallene Villen und Ferienhäuser in Auftrag. Seit Murcutt im Grossraum Sydney und Gabriel Poole oder Lindsay Clare in Queensland das umweltverträgliche Verandahaus aufgefrischt haben, entstehen überall auf dem Kontinent Neubauten, die internationale Einflüsse und lokale Traditionen miteinander zu verschmelzen suchen.
Die Berliner Schau kann denn auch mit viel neuem Material aufwarten. Doch wie jeder Übersichtsausstellung eignet ihr eine gewisse Beliebigkeit. Das zeigen allein schon die Kategorien «Minimal», «Rahmen», «Interaktion» oder «Ost/West», nach denen insgesamt 48 Projekte von 25 Büros gegliedert sind. Diese Materialflut versuchen die Ausstellungsmacherinnen Claudia Perren und Kristien Ring aber nicht nur thematisch, sondern auch gestalterisch zu bewältigen. Die blau gestrichenen Wände des Galerieraums, auf denen eine weisse Welle das Auge von einem theoretischen Kurztext zum nächsten leitet, erinnern an ein Aquarium. Darin scheint ein seltsamer Fischschwarm zu flirren: eine Ansammlung von 25 Flachzylindern, auf denen die Projekte in Wort und Bild präsentiert werden.
Abstand lässt sich hier kaum gewinnen, und stets buhlen mehrere bunte «Fische» um Aufmerksamkeit. Nach kurzer Zeit verschwimmen die Eindrücke, und nur die aussergewöhnlichsten Bauten bleiben einem im Gedächtnis haften: etwa das von der Struktur eines Schneekristalls hergeleitete Ferienhaus «Huski Lodge», welches das junge Melbourner Büro Elenberg Fraser 2005 als expressiv verwinkelten Holzbau in den Bergen von Victoria realisieren konnte. Aus Holz ist auch das 2007 wie ein Möbel an die Küste von Victoria gesetzte Port Fairy House von Shelley Penn, zeltartig transparent hingegen die Erweiterung eines Wohnhauses in Perth von Iredale Pedersen Hook. Während das Büro Andresen O'Gorman das klassische Farmhaus in Queensland neu interpretiert, setzt David Luck ein Verandahaus ganz sanft in die Wälder von Red Hill in Victoria. An Eleganz werden all diese Villen vom Butterfly House überflügelt, das Ed Lippmann 2005 als Antwort auf Scharouns organische Bauten und Ben van Berkels Möbius-Haus auf einer Anhöhe über Sydney errichtete. Spektakulärer noch als diese Miniaturen sind die neuen Hochhäuser in Melbourne. Darunter finden sich die einem konstruktivistischen Minimalismus verpflichteten, bis 92 Stockwerke hohen Wolkenkratzer von Nonda Katsalidis ebenso wie der kantig skulpturale «Dock 5»-Turm von John Wardle oder das organisch fliessende Yve-Hochhaus von Wood Marsh.
Vielfältige junge Szene
Das begleitende Katalogbuch bietet nicht nur die nötige Übersicht, sondern auch fundierte Essays und Ausblicke von namhaften australischen Architekturtheoretikern wie Philip Drew und Philip Goad. Wer zusätzliche Informationen über junge australische Architekten sucht, findet diese in der soeben erschienenen Publikation «Down Under». Das verwirrend gestaltete, aber informative Buch kreist nicht nur um den Wohnbau, sondern beleuchtet auch architekturpolitische, wirtschaftliche und ökologische Aspekte. Einigen attraktiven Bauten aus der Ausstellung begegnet man hier erneut, aber auch ganz anderen Lösungen wie dem hügelartigen Peppermint Bay Restaurant von Terroir in Tasmanien, dem futuristisch in die Welt blickenden Ideen-Center des Victorian College of Art oder dem verschleierten Bürohaus von Neil & Idle in Melbourne. Sie alle beweisen einmal mehr, wie abwechslungsreich und inspirierend Australiens Architekturszene ist.
[ Bis 11. November im DAZ in Berlin. Katalog: Wohnraum Moderne. Australische Architektur. Hrsg. Claudia Perren und Kristien Ring. Hatje-Cantz-Verlag Ostfildern. 240 S., Fr. 59.– (€ 35.– in der Ausstellung). Davina Jackson: Down Under. Neue Architektur in Australien. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007. 255 S., Fr. 84.90. ]
Räume aus Licht
Das Kunsthaus Bregenz feiert den Architekten Peter Zumthor mit einer fulminanten Retrospektive
Mit wenigen Bauten hat Peter Zumthor sich international einen Namen gemacht. Nun ist eine grosse Schau des Haldensteiner Architekten in dem von ihm errichteten Kunsthaus Bregenz zu sehen.
In einer Zeit, da die computergenerierte Architektur dank Programmen wie CAD, CAM und Catia immer austauschbarer wird, kann ein kleines Bauwerk wie die Bruder-Klaus-Kapelle von Peter Zumthor in der Eifel bereits Verunsicherung auslösen. Wurden doch die als Schalung verwendeten Fichtenstämme des in Stampfbetontechnik errichteten Sakralraums nachträglich mittels eines Köhlerfeuers entfernt, so dass eine dunkle, archaisch wirkende Höhle entstand. Der Architekt, der solches schafft, muss ein Künstler sein, dem die kompromisslose Umsetzung einer Vision wichtiger ist als kommerzieller Erfolg. Deswegen gilt der zur Sturheit neigende Perfektionist Zumthor spätestens seit dem Streit um das aus ideologischen, politischen und bautechnischen Gründen gescheiterte Projekt der Berliner Gedenkstätte «Topografie des Terrors» als unbequem. Verlangt er doch von seinen Bauherren einiges. Das musste auch der Erzbischof von Köln beim Bau des Kolumba-Diözesanmuseums erfahren. Denn während in China oder Dubai Hochhäuser in wenigen Wochen in den Himmel schiessen, feilt Zumthor jahrelang an seinen Bauten. Doch der Lohn für das Warten ist hohe baukünstlerische Qualität, wie das jüngst in Köln eröffnete Museum einmal mehr beweist.
Heimspiel am Bodensee
Nicht nur seiner Bedächtigkeit und seines schmalen Œuvre wegen ist Zumthor eine Ausnahmeerscheinung unter Architekten. Er wehrt sich auch dagegen, simple Dienstleistungen zu erbringen, und baut weder abenteuerlich gefaltete Spiegelfassaden noch modische Blitze oder Blobs. Seine Gebäude erschöpfen sich nicht in schönen Hüllen. Vielmehr sind sie von den Räumen, vom Licht und vom Material her gedacht. Darüber hinaus erweisen sie sich als ökologisch, sind sparsam im Umgang mit den Ressourcen und einfach in der Konstruktion. Intelligent aufgebaute Wände und gezielt angebrachte Öffnungen bewirken ein günstiges Raumklima, aber auch stimmungsvolle Lichtverhältnisse und tragen mithin zum Wohlbefinden der Benutzer bei. Darin liegt das Erfolgsgeheimnis von Zumthors Felsentherme in Vals begründet – oder des Kunsthauses in Bregenz. Hier resultierte aus dem Dialog mit dem Ort ein Meisterwerk, das sich mit aufragendem Kubus und niedriger Dépendance ganz unaufgeregt in den städtebaulichen Kontext einfügt, wobei der Glaswürfel des Museums mit seinem opaken Schuppenkleid über die Altstadt hinweg den schindelverkleideten Martinsturm, ein weiteres Bregenzer Wahrzeichen, grüsst.
Dieser Leuchtturm am Bodensee, mit dem der Meister zum «harten Kern der Schönheit» vorgedrungen ist, darf als Schlüssel zu Zumthors Œuvre bezeichnet werden. Alle Eigenschaften, die man mit seinem Schaffen verbindet, sind in diesem Bau vereint: Stille, Askese, Emotion und eine durch Licht und Schatten bestimmte Aura des Sakralen. Der Respekt vor dem Ort, die handwerkliche Gründlichkeit und die Empfindsamkeit gegenüber Raum und Materialien erinnern zudem an jenes protestantische Ethos, auf dem einst die neue Schweizer Einfachheit aufbaute. Das Kunsthaus ist deshalb der ideale Ort für die neuste Zumthor-Retrospektive.
Strebte die letzte Werkpräsentation vor knapp zehn Jahren in Chur nach Verklärung, so wird einem in Bregenz nun eine klärende Gesamtsicht geboten. Und dies in Form einer grandiosen Schau, die ähnlich wie die in aller Welt gezeigten Ausstellungen von Frank Gehry, Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas, Miller & Maranta oder Renzo Piano beweist, dass Architektur sich im Museum höchst suggestiv inszenieren lässt. Im Erdgeschoss hat der Ausstellungskurator Thomas Durisch sechs grosse Modelle – darunter das tonnenschwere, betretbare Betongebilde des Kolumba-Museums, eine verkleinerte Wand- und Oberlichtkonstruktion des Kunsthauses Bregenz und die kohlengraue Wiedergabe der Landschaft von Almannajuvet an der norwegischen Küste, wo ein vierteiliges Zinkminen-Museum entstehen soll – zu einem Lob des Skulpturalen vereint. Nach diesem gewichtigen Einstieg wirft das Wiener Künstlerduo Nicole Six und Paul Petritsch in den nächsten beiden Ausstellungsgeschossen mittels zweier aus bewegten «Grossfotos» bestehender Videoinstallationen einen Blick von aussen auf zwölf bedeutende Bauten von Zumthor.
Plötzlich diese Übersicht
Den eigentlichen Höhepunkt aber bildet die Werkschau im dritten Stock. Eine Vielzahl von zarten, fast konstruktivistisch anmutenden Farbzeichnungen, von Plänen und Modellen, die auf drei überlangen Arbeitstischen und eng zusammengerückten Podesten aufgereiht sind, verdichtet sich plötzlich zu einer grossen Übersicht. Leider vermisst man – ähnlich wie auf den publizierten Werklisten – Zumthors frühe Fingerübungen. Wohl um die Mythenbildung zu fördern, setzt die Retrospektive des 1943 geborenen Baslers, der sich als gelernter Schreiner erst 1979 entschied, in Haldenstein bei Chur ein Architekturbüro zu eröffnen, nicht mit dem 1983 eingeweihten Schulhaus «Witiwäg» in Churwalden ein. Den Auftakt bilden vielmehr zwei 1986 vollendete Arbeiten: das Atelierhaus in Haldenstein und die Schutzbauten über römischen Ruinen im Churer Welschdörfli, welche den gleichsam aus dem Nichts aufgetauchten Meister bereits auf der Höhe seines Könnens zeigen. Seither steht jeder Bau für ein neues Experiment, wobei gewisse Grundthemen immer wieder aufklingen. So verwandeln sich die Holzlatten der Schutzbauten in das Beton-Stabwerk der «Topografie des Terrors», um sich schliesslich zur Batterie des Schweizer Klangkörper-Pavillons auf der «Expo 2000» in Hannover zu verdichten.
Vorbei am überraschend einfachen Kartonmodell der Kapelle Sogn Benedetg in Sumvitg, die ihren Schöpfer 1988 international bekannt machte, gelangt man zu einer poetischen, aus grünlichem Gneis gefertigten Miniatur der Felsentherme in Vals. Sie kündet wie das Original davon, dass «Architektur eine sinnliche Kunst» ist. Die kantig-minimalistischen Formen dieses Baus kehren im Kunsthaus Bregenz ebenso wieder wie im Kolumba-Museum oder im Entwurf der Herz-Jesu-Kirche, für deren Realisierung sich die Münchner 1996 leider nicht erwärmen konnten. Dafür erhielt Zumthor wenig später den Auftrag für die Bruder-Klaus-Kapelle, in der sich in aller Stille eine formale Öffnung ankündigte. Deutlicher manifestierte sich diese 2001 im amöbenartig gewellten Innenhof eines Projekt gebliebenen Apartmentblocks im finnischen Jyväskylä und im pilzförmigen Baukörper eines spanischen Weinguts, der wiederum im Restaurantpavillon auf der Ufenau nachhallt. – Es bleibt zu hoffen, dass diese subtile Intervention trotz Opposition vonseiten des Heimatschutzes realisiert werden kann. Dies umso mehr, als unlängst in Luzern auf den Bau einer spannenden, neokubistisch fragmentierten Wohnsiedlung zwischen Bahnhof und Werft verzichtet wurde. Denn Zumthors «auf das Wesentliche reduzierte» Gebäude, die «im Idealfall zu strahlen beginnen», sind wichtige und nötige Statements gegen die fortschreitende Banalisierung der Architektur – auch wenn der weiterhin auf das Handwerk setzende Baukünstler von seinen bauwütigen, ganz in das Spektakel verliebten Kollegen als etwas antiquiert belächelt werden mag.
[ Bis 20. Januar im Kunsthaus Bregenz. Begleitbroschüre gratis. ]
Blühende Paradiese
Gärten der Antike – eine Ausstellung in der Orangerie des Boboli-Gartens in Florenz
Grünanlagen zählen seit der Antike zu den Eckpfeilern einer verfeinerten Wohnkultur. Eine Schau in Florenz beleuchtet die Entwicklung der Gärten von der altägyptischen bis in die römische Zeit.
Es sind nicht nur die Strassenzüge und weitläufigen Villen, mit denen die Ruinenstädte Herculaneum und Pompeji die Besucher in ihren Bann ziehen, sondern auch die oft noch deutlich zu erkennenden, mitunter durch Rekonstruktionen hervorgehobenen Gärten. Bereits zur Zeit ihrer Entstehung spiegelten die durch den verheerenden Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 konservierten Grünanlagen der luxuriösen Wohnsitze am Golf von Neapel eine jahrtausendealte Geschichte, die ihren Anfang in Ägypten und im Zweistromland genommen hatte. Die dortigen Kulturen lernten früh schon das kostbare Nass mittels immer ausgeklügelterer Techniken zur Bewässerung zu nutzen und so die Wüste in ein blühendes Fruchtland zu verwandeln. Aus Gemüsekulturen und schattigen Dattelpalmenhainen entwickelten sich dann die ersten Ziergärten. In Mesopotamien erfüllten diese mitunter sogar eine politische Funktion, indem sie mit aus allen Teilen des Reichs zusammengetragenen und sorgsam kultivierten Pflanzen zum Symbol für Macht und Einfluss der Herrscher wurden. Es erstaunt daher kaum, dass sich diese selbst den Ehrentitel «Gärtner» zugelegt haben sollen.
Hängende Gärten und Wasserspiele
Diese Anlagen, von denen die legendären Hängenden Gärten der Semiramis in Babylon sogar den Rang eines Weltwunders erlangten, waren nicht ohne Einfluss auf die griechische Mythologie. Und bald schon umgaben heilige Haine die Tempelbezirke. In den privaten Gärten kultivierte man neben Früchten, Kräutern und Medizinalpflanzen allmählich auch Blumen und Sträucher. Diese Refugien wurden in der hellenistischen Zeit im östlichen Mittelmeergebiet immer eleganter. Ihnen antworteten öffentliche Parkanlagen mit Wasserspielen, deren Technik nicht zuletzt auf den hydraulischen und mechanischen Forschungen basierte, die man in Alexandria betrieb. Von den Römern wurden diese Künste begierig aufgegriffen und verfeinert. Denn der Kult mit dem Wasser, der im Bau von Aquädukten und Thermen kulminierte, wirkte sich auch auf die Gestaltung der Grünräume aus, die ohne Brunnen, Kanäle und reflektierende Wasserflächen bald nicht mehr denkbar waren.
All diese Entwicklungen sind Thema einer auf umfangreichen neuen Forschungsarbeiten beruhenden Ausstellung über die Gärten in der Antike, die unter dem Titel «Il giardino antico da Babilonia a Roma» derzeit in der frisch renovierten Orangerie im Boboli-Garten des Palazzo Pitti in Florenz zu sehen ist. Mehr als 150 kostbare Exponate aus den archäologischen Sammlungen in Berlin, Florenz, London, Neapel, Paris und Rom, aber auch aus Herculaneum und Pompeji veranschaulichen die Geschichte des Gartens als Ort der Erholung, des Vergnügens und der Meditation. Daneben wird die Funktion der für die Gärten unentbehrlichen Bewässerungssysteme und Wasserspiele an eigens angefertigten Modellen erläutert. Die Rekonstruktionen zweier pompejanischer Peristylgärten im Massstab 1:1 in den Bosketten des Parks vergegenwärtigen darüber hinaus den einfachen Garten der Casa dei Pittori al Lavoro ebenso wie den luxuriösen, von einer Vielzahl von Brunnen und Skulpturen belebten Grünraum des Hauses der Vettier.
Römische Villenkultur
Mit Informationen aus Ägypten wird die Schau eröffnet. Dabei erfährt man, dass schon Hatschepsut exotische Bäume einführen liess. Eine vor rund 3500 Jahren entstandene Darstellung aus dem Remike-Grab in Theben zeigt einen der frühsten Gärten überhaupt: mit Palmen, Akazien und Platanen. Während diese Wandmalerei – ausnahmsweise – nur als Reproduktion zugegen ist, künden stilisierte Elfenbeinbäume und Alabastertafeln mit Palmengruppen vom mesopotamischen Gartenkult des siebten vorchristlichen Jahrhunderts in Assur und Ninive. Vasenbilder und kalabrische Votivtafeln entführen einen daraufhin in die blühenden Welten der griechischen Mythologie – von den Weinbergen des Dionysos und dem Sitz der Musen auf dem Helikon bis zum Paradiesgarten der Hesperiden. Antike Büsten von Platon, Aristoteles oder Epikur erinnern zudem an die attischen Philosophen-Haine.
Den eigentlichen Höhepunkt der Schau bildet aber die römische Gartenkultur, die in der augusteischen Zeit zu ungeahnter Bedeutung aufstieg, so dass bald schon Dutzende von Parkanlagen das Zentrum Roms einkreisten. Diese wurden in der Neuzeit zu wichtigen archäologischen Fundstätten, in denen man sogar original griechische Werke fand, wie in der Schau eine attische Grabstele mit einem lebensgrossen Jüngling aus den Gärten des Maecenas bezeugt. Statuenschmuck aus weiteren Pärken des altrömischen Adels geleiten einen zu einem erstaunlichen Modell des Hofgartens eines grossen Miethauses in Ostia.
Noch materialreicher präsentieren sich dann die Gärten der Vesuvstädte – mit Brunnenskulpturen des Vettier-Gartens in Pompeji und Marmorbildwerken aus der Villa der Poppea in Oplontis, mit Stelen und Bildtafeln, die einst zwischen Rosen, Oleander, Lorbeer und Erdbeerbäumen aufgestellt waren, sowie mit an Ästen oder Pergolen aufgehängten Masken. Dazu kommen pneumatische Wunderwerke wie Bäume aus Bronze, in deren Geäst metallene Vögel zwitschern, und technische Objekte wie Verteiler, Siphons, Pumpen und Abflusssiebe sowie aufschlussreiche pflanzliche Überreste.
Zusammen mit den gemalten Parkanlagen, von denen die wohl schönste aus dem Haus des Goldenen Armbands ebenso wie das dort entdeckte, mosaikverzierte Nymphäum in Florenz zu sehen ist, vermitteln uns solche Funde genaue Kenntnisse der römischen Villengärten. Dank diesen konnte beispielsweise im südkalifornischen Malibu das Getty-Museum in Form der Villa dei Papiri mit all ihren Pflanzen, Skulpturen und Wasserspielen errichtet werden. Doch davon erfährt man in dieser sonst so inspirierenden, mitunter gar berauschenden Schau ebenso wenig wie von den impressionistisch hingehauchten Gartenfresken, mit denen einst das Haus der Livia bei Prima Porta in Rom prunkte, oder vom prachtvollen Park der Hadriansvilla bei Tivoli. Da der opulente Katalog solche Fehlstellen nicht schliesst, empfiehlt sich ein Blick in das Buch «Gärten der Römischen Welt» des englischen Spezialisten Patrick Bowe, welches mit seinen attraktiven Abbildungen die materialreiche Florentiner Ausstellung ideal ergänzt.
[ Bis 28. Oktober in der Orangerie des Palazzo Pitti im Boboli-Garten. Katalog: Il giardino antico da Babilonia a Roma. Scienza, arte e natura. Sillabe, Livorno 2007. 351 S., € 35.–. Patrick Bowe: Gärten der Römischen Welt. Schirmer/Mosel, München 2004. 169 S., Fr. 38.20. ]
Technik und Natur
Zum 70. Geburtstag des italienischen Architekten und Städteplaners Renzo Piano
Alles begann mit dem Centre Pompidou. Dort erprobten zwischen 1971 und 1977 zwei junge Rebellen, Renzo Piano und Richard Rogers, eine neue Architektursprache, deren Vokabular gleichermassen auf den Konstruktionen von Richard Buckminster Fuller und Jean Prouvé wie auf der Idee der «wandernden» Bauten von Archigram basierte. Mit ihrer neuartigen, Offenheit signalisierenden Kulturmaschine, die wie eine Ölplattform im Pariser Häusermeer zu schwimmen scheint, interpretierten Piano und Rogers den Musentempel neu und wagten darüber hinaus einen provokativen Dialog mit der gebauten Umgebung. Geleitet vom Bemühen, die Stadt sichtbar zu machen, fand Piano danach in einem «Nachbarschafts-Workshop» im süditalienischen Otranto, den er 1979 im Auftrag der Unesco betreute, zu neuen, bis heute wirksamen Strategien der Auseinandersetzung mit dem urbanistischen und sozialen Kontext der Stadt an sich. Die Erfahrungen von Otranto sollten bald darauf auch die demokratisch strukturierte Arbeitsweise in den «Building Workshop» genannten Büros bestimmen, die Piano in Paris und Genua eröffnete.
Im genialen Frühwerk des Centre Pompidou, das längst zu einer baukünstlerischen Ikone des 20. Jahrhunderts und zu einem Wahrzeichen der Seinestadt geworden ist, manifestierte sich nicht nur Pianos Glaube an die Erneuerung der traditionellen europäischen Stadt. Es begründete auch seine Faszination für die Museumsarchitektur, von der Meisterwerke wie die 1986 in Houston, Texas, eröffnete Menil Collection oder das elf Jahre später eingeweihte Beyeler-Museum in Riehen bei Basel zeugen. Zu Recht im Schatten dieser Glanzlichter steht das im Geist der Land-Art konzipierte Klee-Museum in Bern, das – obwohl mit Respekt vor der Landschaft gestaltet – den Charme eines Hangars am Highway verströmt. Ähnlich wie die Wallfahrtskirche im apulischen San Giovanni Rotondo oder der jüngst in Manhattan vollendete New York Times Tower beweist es, dass auch Piano gelegentlich etwas missglückt, wenngleich stets auf hohem Niveau.
Abgesehen von diesen Schwachpunkten kann die nunmehr vierzig Jahre währende Bilderbuchkarriere des heute vor siebzig Jahren, am 14. September 1937, in Genua geborenen Renzo Piano mit einer Vielzahl immer wieder anders geformter Akzente aufwarten: vom subtil transformierten Lingotto in Turin über die Neubauten am Potsdamer Platz in Berlin bis hin zum Kongresszentrum der Cité internationale in Lyon und von den riesigen Hallenkonstruktionen des vor Osaka im Meer schwimmenden Kansai-Flughafens über den gläsernen Hermès-Flagship-Store in Tokio bis hin zu dem zwischen 1991 und 1998 verwirklichten Tjibaou-Kulturzentrum in Nouméa auf Neukaledonien. Diese langgestreckte, von zehn hüttenartigen Pavillons gekrönte Anlage, in welcher Hightech und Ökologie in einer üppigen Natur zusammenfinden, wirkte weiter auf den blütenförmigen Aurora-Palace-Turm in Sydney, der seit dem Jahr 2000 als schönstes Hochhaus Australiens gilt und einmal mehr beweist, dass sich Piano auch für modische Megastrukturen begeistern kann. Erinnert sei hier an das zeppelinförmige Shoppingcenter in Bercy, die elegante Schalenform des Fussballstadions in Bari, die drei käferartigen Konzerthallen des Parco della Musica in Rom oder das an ein sinkendes Schiff gemahnende Wissenschaftsmuseum in Amsterdam.
Ebenso wichtig wie diese Solitäre sind Piano, der 1998 für seine technische Erfindungsgabe, seine prozessuale Entwurfspraxis, seine experimentelle Arbeitsweise und für seine Absage an den Persönlichkeitskult mit dem Pritzker-Preis geehrt wurde, stets auch die architektonischen Zwiegespräche mit der gebauten Stadt. Nachdem er zwischen 1985 und 2001 den alten Hafen seiner Heimatstadt Genua mit Plätzen, Kongress- und Einkaufsmöglichkeiten, einem phantastischen Aussichtskran und einem containerartigen Aquarium in einen neuen Treffpunkt verwandelt hatte, musste er vor zwei Jahren das Scheitern eines noch viel umfassenderen Erneuerungsprojekts für die vernachlässigten Uferzonen der ligurischen Metropole als wohl grösste berufliche Enttäuschung hinnehmen. Dafür kann er nun seinen Traum vom Umbau obsolet gewordener Industriegebiete zu Zentren des Informationszeitalters auf dem Falck-Areal im Mailänder Vorort Sesto San Giovanni und auf dem Gelände der ehemaligen Michelin-Fabrik in Trento weiterspinnen.
An beiden Orten will Piano – ausgehend von einem sensiblen Weiterbauen im Bestand – möglichst vielschichtige Quartiere realisieren. Denn neben der Ästhetik prägen vor allem Ökologie und soziale Verträglichkeit Pianos heutiges Schaffen. Auch wenn den neusten Bauten und Projekten das Revolutionäre der frühen Arbeiten abgeht und junge Architekten sich für diese kaum mehr interessieren, sind sie doch stets wieder für Überraschungen gut, wie der neuklassizistische Erweiterungsbau der Morgan Library in New York oder die aggressive «Glasscherbe» des im Bau befindlichen London Bridge Tower zeigen. Noch immer sprüht der sich gerne bescheiden gebende Meister vor Energie, arbeitet er doch nicht nur in London und New York an bedeutenden Projekten, sondern auch in San Francisco, Los Angeles, Oslo, Rom, Neapel – und in Ronchamp, wo er unweit von Le Corbusiers Wallfahrtskapelle seinem Œuvre mit einem Nonnenkloster einen spirituellen Touch verleihen wird.
Holzhäuser und Supermärkte
Die Ausstellung «Neues Bauen in den Alpen» in Flims
Obwohl zeitgenössische Architektur derzeit viel Aufmerksamkeit geniesst, bleiben gute Bauten rar. Doch gerade in den Bergen sind klare architektonische Aussagen wichtig, wie eine Schau in Flims zeigt.
Anders als das flache Land, wo schlechte Bauten kaum auffallen, verzeihen Bergregionen aufgrund ihrer Topografie baukünstlerische Fehler nicht. Ein Haus am falschen Ort kann das Erscheinungsbild eines am Hang komponierten Dorfes ebenso stören wie ein Hotel im Pseudo-Tiroler-Stil. Nun sollen aber die Gebirgsgegenden weder zu kulturgeschichtlichen Museen noch zu Refugien für Nostalgiker werden, sondern weiterwachsen können, um die Mär von den «alpinen Brachen» zu widerlegen. Damit dies in einem verträglichen Rahmen geschehen kann, müssen die Bauwilligen aber wissen, was gute Architektur ist. Hier weist – wie nirgends sonst im ganzen Alpenbogen – der Kanton Graubünden mit einer Vielzahl vorbildlicher Schulen, Gemeindebauten und Infrastrukturanlagen den Weg.
Gebaute Vorbilder
Vermehrt begeistern sich aber auch private Auftraggeber für architektonische Qualität, wie Ben van Berkels Erweiterung des Hotels «Castell» in Zuoz, Pablo Horváths Wohnblocks in St. Moritz oder der geplante Turm von Herzog & de Meuron auf der Schatzalp in Davos beweisen. Und selbst bei den vielgeschmähten Einfamilienhäusern kündigt sich Besserung an. So findet man in dem für sein harmonisches Aussehen bekannten Weinbauerndorf Fläsch in der Bündner Herrschaft mit dem Haus Meuli von Bearth & Deplazes einen kantigen Betonbau, der sich auf den ersten Blick ebenso rigoros wie extravagant gibt, sich aber bei genauerer Analyse als perfekt in den Ort integriert erweist. Solche Werke müssten eigentlich vermehrt als Vorbilder hervorgehoben werden. Doch in der nunmehr vierten Ausgabe des 1992 vom Südtiroler Ferienort Sexten initiierten Preises für «Neues Bauen in den Alpen» sucht man nach diesem Haus vergeblich.
Vielleicht war die hochkarätige, aber schon etwas angegraute Jury diesmal allzu sehr auf Holz fixiert, was auch erklären mag, warum der kubische Gäste-Turm der Villa Garbald in Castasegna von Miller & Maranta oder die Erweiterung eines Behindertenwohnheims in Scharans von Corinna Menn keine Gnade fanden, obwohl sie die von Bruno Reichlin geforderte Auseinandersetzung mit der «landschaftlichen Lage, der Topografie und der Aussicht» perfekt erfüllen. Von den Steinbauten stiess nur Gion A. Caminadas 2004 vollendetes Mädcheninternat des Klosters Disentis auf Begeisterung und sicherte sich gar den ersten Preis, den es allerdings mit dem 2001 eröffneten «MPreis»-Supermarkt von Rainer Köberl und Astrid Tschapeller in Wenns im Tiroler Pitztal teilen muss. Beide Bauten geniessen einen Ehrenplatz in der kargen, sich ganz auf Fotos und Publikationspläne abstützenden, auf jeden Kommentar verzichtenden Ausstellung im Gelben Haus in Flims. Unter dem Titel «Neues Bauen in den Alpen» stellt die Schau neben den erstprämierten Arbeiten und einem Hotel des für sein Lebenswerk geehrten Südtirolers Othmar Barth auch die übrigen 29 ausgezeichneten Gebäude vor, die aus 419 Eingaben ausgewählt wurden.
Etwas dubios erscheint die Präsenz von vier «MPreis»-Filialen, zumal sie baukünstlerisch von mässiger Qualität sind. Gewiss sind Supermärkte für Bergtäler ein Segen, doch müssen sie deswegen noch lange nicht zu wegweisenden Architekturen erklärt werden. Die «MPreis»-Euphorie lässt sich damit erklären, dass die Jury diesmal einen Akzent auf infrastrukturell wichtige Bauwerke setzen wollte. Das gelingt ihr mit der Auszeichnung des Dorfplatzes in Domat/Ems von Gioni Signorell, des Fernheizkraftwerks Sexten von Siegfried Delueg sowie mehrerer Brücken von Walter Bieler, von Conzett, Bronzini, Gartmann, von Geninasca Delefortrie und von Marte Marte. Weit weniger überzeugen die Entscheide zugunsten der Betriebsanlage des Strassenbauamts Klagenfurt, des Biomasse-Heizwerks Lech, des Gemeindezentrums Inzing oder des Altersheims Steinfeld. Umso erstaunlicher ist dann aber die Tatsache, dass das Preisgericht den erwähnten Bau von Corinna Menn ebenso ignorierte wie Horváths volumetrisch und ästhetisch perfekt ins Dorfbild von Riom-Parsonz eingepasste Schulhauserweiterung. Als einziger Kulturbau wurde das von Valerio Olgiati zum weissen Würfel umgeformte spätklassizistische Gelbe Haus in Flims berücksichtigt. Vorbildliche Fremdenverkehrs-Gebäude, die für die alpine Zone besonders wichtig wären, sucht man dagegen – abgesehen von der pompösen Parkhotel-Erweiterung in Hall – vergebens. Dabei hätten sich das Hotel Pergola von Matteo Thun in Algund bei Meran oder die beiden Erweiterungsbauten der Jugendherberge Zermatt von Bauart Architekten angeboten, die all den falschen Chalets mutig die Stirn bieten.
Wichtige Diskussionen
Vor allem Ein- und Mehrfamilienhäuser sollten künftig von Jury und Ausstellung aufmerksamer gewürdigt werden, machen sie doch auch in den Bergregionen den Hauptteil der Neubauten und damit der potenziellen baukünstlerischen und urbanistischen Fehlentwicklungen aus. Dabei käme Objekten von der Qualität des Hauses Meuli oder des immer noch polarisierenden Wohn- und Geschäftshauses von Höller & Klotzner in Schenna bei Meran die Funktion von Katalysatoren zu, an denen sich die für das Architekturverständnis nötigen Diskussionen entzünden könnten. In der jetzigen Auswahl gelingt das nur dem höchst eigenwilligen Holzhaus von Loeliger Strub in Bürglen im Kanton Uri, während sich Peter Zumthors Haus Luzi im bündnerischen Jenaz wohl doch etwas allzu selbstverliebt in Szene setzt, um wirklich wegweisend zu sein.
Schliesslich kann die Ausstellung noch mit einer Trouvaille aufwarten: dem Seebad von Mauro Castelletti am Lago del Segrino in den Hügeln der lombardischen Brianza. Dafür ist das Preisgericht erneut weder in Bayern noch in Slowenien fündig geworden; und auch Frankreich ging diesmal leer aus. Die durchaus begründete Dominanz der Schweiz manifestiert sich in schnörkellosen Häusern, waghalsigen Konstruktionen und einem subtilen Dialog mit dem Kontext. In Südtirol hingegen wurden für einmal Architekturen geehrt, die von einer weltgewandten Auseinandersetzung mit der Land-Art zeugen, wie das Fernheizkraftwerk Sexten oder Walter Angoneses meisterhaft erweitertes Weingut Manicor bei Kaltern, das weit eher als der Supermarkt in Wenns einen Ehrenplatz verdient hätte. Demgegenüber drohen die Bauten in den österreichischen Bergregionen durch formale Exzesse und eine unmotivierte Materialvielfalt immer mehr ins Manierierte abzugleiten.