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Glaspaläste statt Kirchtürme
Neue Zürcher Zeitung

Die estnische Hauptstadt Tallinn baut an ihrer Zukunft

Tallinn verändert sein Gesicht in rasantem Tempo. Tief in der europäischen Tradition verwurzelt und zugleich zukunftsorientiert, sieht sich die estnische Hauptstadt als weltoffene Boomtown. Die Sowjetvergangenheit soll hinter neuen Bauwerken verschwinden. Doch ihre Spuren sind auf Schritt und Tritt zu sehen – ebenso wie die sozialen Gegensätze.

19. Juli 2008 - Arnold Bartetzky
«Vergesst London und Paris!», titelte vor einiger Zeit eine deutsche Zeitschrift und empfahl ihren Lesern die derzeit «coolen Städte» Europas: von Amsterdam über Kopenhagen bis Tallinn. Diesen Aufstieg von einem blinden Fleck in der postsowjetischen Peripherie zu einem strahlkräftigen Modeort verdankt die estnische Hauptstadt ihrem bezaubernden, zunehmend von Touristen entdeckten Stadtbild, ihrer dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer lebendigen Kulturszene, aber auch einer äusserst erfolgreichen Vermarktungsstrategie. Das einstige Reval inszeniert sich zum einen als altehrwürdige Schönheit mit wechselvoller, bis ins hohe Mittelalter zurückreichender Geschichte, die vielfältig mit jener Mitteleuropas und Skandinaviens verwoben ist. Die dänischen Herrscher haben darin einen ebenso festen Platz wie die ihnen folgenden Deutschordensritter, die hanseatischen Kaufleute, die Reval zu seiner Blüte verhalfen, und die Schweden, die Estland nach dem Zerfall des Ordensstaates ihrem Grossreich einverleibten. Auch die über zwei Jahrhunderte bis zum Ersten Weltkrieg währende Herrschaft der russischen Zaren ist in diese Identitätskonstruktion integriert – wenn auch nicht ganz vorbehaltlos.

Hauptstadt des «E-State»

Mit der Zelebrierung des multikulturellen Erbes beschreitet Tallinn, das im Jahr 2011 zusammen mit dem finnischen Turku den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt tragen wird, in seiner Selbstdarstellung ähnliche Wege wie andere geschichtsträchtige Städte im postsozialistischen Nordosteuropa, etwa Riga oder Danzig. Doch zugleich hat es das 400 000 Einwohner zählende Tallinn wie keine andere Stadt der früheren sowjetischen Machtsphäre vermocht, sich ein Image als «Hightech-City» und als pulsierendes urbanes Zukunftslabor der vielbeschworenen «Kreativklassen» zu verschaffen – und das ist es vor allem, was die estnische Kapitale in den Augen von Touristen, Zuwanderern und Investoren so «cool» erscheinen lässt.

Die Chiffre dieses Zukunftssinns ist das Präfix «E», das vor allem in der englischsprachigen Eigenwerbung Signalwirkung hat. Tallinn präsentiert sich als Hauptstadt eines «E-State», dessen Bürger schon seit Jahren «E-Taxes» entrichten, also ihre Steuererklärungen auf elektronischem Wege abwickeln, Rechnungen online oder per SMS bezahlen und die Schulnoten ihrer Kinder im Internet abrufen. Inzwischen werden sogar die Parlamentswahlen als «E-lections» abgehalten, bei denen die Wähler zu Hause elektronische Stimmzettel ausfüllen können. Auch die Abgeordneten sparen viel Papier. Denn im Riigikogu, dem in den zwanziger Jahren von der ersten estnischen Republik in die Tallinner Deutschordensburg einbauten Parlament, ist jeder Sitzplatz selbstredend mit einem Laptop ausgestattet.

Die meisten Touristen bekommen den erlesenen Plenarsaal, bei dem es sich, wie Estlands Architekturhistoriker stolz betonen, wohl um den weltweit einzigen Parlamentssaal in expressionistischen Formen handelt, nicht zu sehen, und schon gar nicht die Arbeitsweise der Parlamentarier. Dank der dezenten Natur der elektronischen Datenverarbeitung fallen die Segnungen des «E-State» auch im Stadtbild wenig auf. Hier und da sind Internetstationen aufgestellt, denn der kostenlose Zugang zum Netz gehört in Estland zu den staatlich garantierten Grundrechten, und auf Informationstafeln ist zu lesen, dass die Stadtverwaltung in der Altstadt einen drahtlosen Internet-Service eingerichtet hat. Natürlich gehört Tallinn auch zu den Städten mit hoher Mobiltelefondichte. Doch da die Esten wortkarg sind, ist auf den Strassen kein Dauergeschnatter wie auf südlichen Plätzen zu vernehmen.

Im Griff des Tourismus

So erleben die Besucher das historische Zentrum als einen Ort, an dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Von der Oberstadt öffnet sich ein grandioser Blick auf das pittoreske Gassengewirr, überragt von mächtigen gotischen Kirchtürmen und den als exotische Fremdkörper wirkenden Zwiebelkuppeln der Ende des 19. Jahrhunderts zum Zeichen des russischen Herrschaftsanspruchs errichteten Alexander-Newski-Kathedrale. Ein nahezu lückenlos erhaltener Mauerring mit vielen Türmen evoziert das Bild einer intakten mittelalterlichen Stadt. Der Rathausplatz besticht mit dem aus dem 15. Jahrhundert stammenden Bau des städtischen Machtzentrums, der trotz nordischem Steildach an einen italienischen Palazzo comunale erinnert. Hübsche Cafés laden zum Verweilen ein. In den Gassen der Unterstadt sind Kaufmanns- und Gildehäuser mit prachtvollen Dielen zu bestaunen, wie sie für alte Handelsstädte des Ostseeraums charakteristisch, aber nur noch sehr selten erhalten sind.

Die Entdeckung durch den Tourismus hat Tallinns Altstadt die Belebung und weitgehende Sanierung, aber auch eine wenn auch vorerst noch massvolle Verkitschung eingebracht. Als mittelalterliche Maiden verkleidete Studentinnen verkaufen Postkarten und Coca-Cola. Die historischen Museen werden mit gregorianischem Gesang vom Band berieselt, als hätten die alten Revaler unentwegt geistliche Lieder gesungen, und in der als Konzertsaal genutzten gotischen Nikolaikirche wird zur Erbauung der Touristen ein barockes Ohrwurm-Repertoire abgespielt. Mittelalterlich getrimmte Restaurants mit Namen wie «Olde Hanse» simulieren eine ungebrochene hanseatische Tradition.

Die Verbannung Aljoschas

Eine andere Tradition indes, die im heutigen Tallinn viel wirksamer ist als die der Hanse, wird verdrängt – die sowjetische. Dass Estlands Umgang mit seiner sowjetischen Geschichte auch sechzehn Jahre nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit ein politisches Minenfeld ist, erfuhr die Weltöffentlichkeit im April des vergangenen Jahres, als der Beschluss der Regierung, das Standbild eines Sowjetsoldaten aus Tallinns Stadtzentrum auf einen Soldatenfriedhof zu verlegen, schwere Krawalle auslöste, die einen Toten und zahlreiche Verletzte forderten. In den von der russischen Medienpropaganda angestachelten Ausschreitungen entlud sich ein schwelender Dauerkonflikt zweier Parallelgesellschaften: der estnischen Mehrheit, die sich der westeuropäisch-skandinavischen Kultur zugehörig fühlt und die sowjetische Vergangenheit abschütteln möchte, und der russischen Minderheit, die sich vom estnischen Staat zu Bürgern zweiter Klasse degradiert sieht. Zwar kritisierten auch einige estnische Intellektuelle die Verbannung des 1947 aufgestellten bronzenen Rotarmisten als «Geschichtsexorzismus», doch für die Regierung war die Aktion eine Gelegenheit, sich als David im Kampf gegen den russischen Goliath zu profilieren.

Am alten Standort des Denkmals neben der Karlskirche steckt zuweilen eine einsame rote Rose in einer von Rindenmulch bedeckten Rabatte. Sonst zeugt nichts von den dramatischen Ereignissen, die sich hier abgespielt haben. Und an seinem neuen, keineswegs unwürdigen Ort steht «Aljoscha», wie die Soldatenfigur im Volksmund genannt wird, inmitten der Kriegsgräber so selbstverständlich da, als wenn er niemals anderswo gestanden hätte. Doch seine Verlegung hat die Gräben zwischen den Esten und den Russen, die in Tallinn über ein Drittel der Stadtbevölkerung stellen, noch weiter vertieft.

Aus russischer Sicht ist Aljoscha ein Befreier, der Estland von der Besatzung durch Nazideutschland erlöst hat. Für die Esten ist er dagegen selbst ein Besatzer, der ein Terrorregime durch ein anderes ersetzt hat. Dieses Geschichtsbild, das in seiner trotzigen Undifferenziertheit und latenten Neigung zur Relativierung der Naziverbrechen auf viele Westeuropäer etwas verstörend wirkt und nur durch die Leidensgeschichte unzähliger Esten in der Sowjetzeit zu verstehen ist, wird mit allen Finessen moderner Ausstellungstechnik im 2003 eröffneten Tallinner «Okkupationsmuseum» präsentiert. In einem eigentümlichen Kontrast zu den grauenerregenden Exponaten steht das von den estnischen Architekten Indrek Peil und Siiri Vallner entworfene, schwebend leichte Glasgehäuse des Museums, das alles andere als eine Ausstellung über Unterdrückung und Tod vermuten lässt.

Das ungeliebte Architekturerbe

Das als Dauerokkupation interpretierte halbe Jahrhundert Sowjetherrschaft hat im Stadtbild seine Spuren hinterlassen. Von sowjetischen Bombern schwer beschädigt, musste Tallinn nach dem Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen wiederaufgebaut werden. Dass dies im historischen Zentrum auf den ersten Blick kaum auffällt, liegt daran, dass die Neubauten meist durchaus rücksichtsvoll in den gewachsenen Bestand eingefügt wurden. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach einem Entwurf von Armas Lindgren und Wivi Lönn als Symbolbau der nationalen Emanzipation errichtete neoklassizistische Estonia-Theater wurde sogar aufwendig rekonstruiert. In den fünfziger Jahren entstanden historisierende Bauensembles im Stil des pathetischen Monumentalismus der Stalinzeit. Die nachfolgende sozialistische Moderne setzte ihnen einige markante Solitäre entgegen, etwa das funktionalistische Hochhaus des Hotels «Viru» von Henno Sepmann und Mart Port oder auch, weitab des Stadtzentrums, die kühn als hyperbolischer Paraboloid geformte Grossbühne für das traditionelle estnische Sängerfest und den Fernsehturm, dessen Aussichtsrestaurant mit einer kaum veränderten Inneneinrichtung der späten Sowjetzeit überrascht.

Einige Bauten aus der Sowjetzeit werden in Tallinn als Klassiker geschätzt. Das von Peeter Tarvas und August Volberg entworfene Kino «Soprus» etwa, ein Flaggschiff stalinistischer Baukunst mit einer theatralisch einschwingenden Front, wuchtigen Säulenreihen und sozialistisch-realistischen Reliefs, erstrahlt nach einer Restaurierung in neuem Glanz. Viele qualitätvolle Gebäude der letzten Jahrzehnte werden aber der Abrissbirne preisgegeben. Jüngstes Beispiel ist das postmoderne frühere Parteischulungszentrum, das einem geplanten Vergnügungskomplex weichen musste. Ähnlich wie in anderen postsozialistischen Städten sind solche Abbrüche in Tallinn inzwischen keinesfalls unumstritten. Mit 10 000 Unterschriften protestierte eine Bürgerinitiative gegen die Zerstörung des Gebäudes.

Anhaltender Bauboom

Doch das wird die Behörden kaum von weiteren Abrissgenehmigungen abhalten, denn die Investoren gieren nach innerstädtischen Grundstücken. Angesichts eines seit Mitte der neunziger Jahre anhaltenden Baubooms, berichtet Karin Hallas-Murula, Direktorin des Tallinner Architekturmuseums, können sich die estnischen Architekten vor Aufträgen kaum retten. Östlich der Altstadt ist bereits eine Downtown en miniature nach amerikanischem Vorbild aus dem Boden geschossen, bestehend aus ein paar Hochhäusern, die aber mit ihren uninspirierten Glasfassaden provinzielle Langeweile verströmen. Gleiches gilt für das sich in der Nachbarschaft ausbreitende Einkaufszentrum «Viru Keskus». Interessanter sind einige Büro- und Geschäftshäuser in der Nähe der Hafenterminals oder auch entlang der Strasse nach Tartu. Vielfältig in Material und Form, bald betonsichtig, bald farbenfroh verkleidet, bald kubisch sachlich, bald lustvoll geschwungen, bald hermetisch in sich ruhend, bald luftig transparent, folgen sie den aktuellen Architekturtendenzen Westeuropas, vor allem Skandinaviens und der Niederlande, gelegentlich auch der Schweiz. Verpönt sind dagegen die betulich dekorativen Retrostile, wie sie derzeit anderswo in Osteuropa Konjunktur haben.

Durch den Bauboom wird nicht nur die Sowjetarchitektur, sondern auch die traditionelle Holzbaukunst aus der Innenstadt verdrängt. In den Wohnvierteln aber können die sparsam dekorierten, dafür in allen erdenklichen Farben angestrichenen Häuser des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf eine Renaissance hoffen. Im alten Arbeiterquartier Kalamaja zum Beispiel, das derzeit von jungen Familien und Künstlern entdeckt wird, verwandeln sich die einstigen Behausungen der Armen dank zunehmend fachgerechter Sanierungstätigkeit in schmucke, prestigeträchtige Domizile für die Mittelschicht.

Der Tallinner Boom beschränkt sich nicht auf Kommerz- und Wohnbauten. Im vergangenen Jahr etwa erhielten Estlands Juden mit dem ebenso expressiven wie feierlichen Bau des aufstrebenden heimischen Architekturbüros KoKo (Andrus Köresaar, Raivo Kotov) die erste Synagoge seit dem Zweiten Weltkrieg. Einen spektakulären Kulturbau leistete sich Tallinn mit dem 2006 eröffneten Museum für estnische Kunst, kurz «Kumu» genannt. An ein Kalksteinplateau angedockt, umschliesst der vom finnischen Architekten Pekka Vapaavuori geplante Bau auf segmentförmigem Grundriss einen Lichthof in der Grösse eines antiken Amphitheaters. Der Besucher steigt über kaskadenartige Treppen und Rampen in die Tiefe, wo er von dem einladend einschwingenden, mit Kupferblech und Kalksteinbändern verkleideten Baukörper empfangen wird – ein selten raffinierter Eingang zu einem Kunsttempel. Allein, es fehlt in dieser Inszenierung an Menschen. Denn so auffällig der bereits 1994 von Vapaavuori geplante Bau ist, so unglücklich ist sein Standort gewählt. Das Kumu liegt im noblen Stadtteil Kadriorg (Katharinental), unweit der barocken Sommerresidenz von Zar Peter dem Grossen, damit aber auch fernab des Stadtzentrums.

Orte der Verlierer

Der Verkehr einer achtspurigen Ausfallstrasse donnert am Museum vorbei. Sie führt nach Lasnamäe, Tallinns grösster Plattenbausiedlung aus den siebziger und achtziger Jahren. Über 100 000 Menschen wohnen hier, mehr als jeder vierte Tallinner. Trostlose Betonsilos, wohin das Auge reicht. Auf den Strassen hört man fast nur Russisch. Die Männer tragen Sportanzüge, Frauen verhelfen sich mit Glitzerapplikationen zu Glanz und verströmen Duftschwaden billigen Parfums. Pfandleihhäuser bieten in Geldnot geratenen Bewohnern ihre Dienste an. Lasnamäe ist ein Ort der Wendeverlierer – aber nicht der Abgestürzten. Die leben in slumähnlichen Behausungen in No-go-Areas wie der Hafenarbeiter-Siedlung Kopli am anderen Ende der Stadt.

Fährt man von Lasnamäe einige Kilometer nordwärts, so erlebt man in den begehrten, in Strandnähe gelegenen Wohnvierteln Pirita und Viimsi weitere Kontraste. Manch ein walmdachgedecktes Einfamilienhausidyll für Besserverdiener ist hier in den letzten eineinhalb Jahrzehnten entstanden. Doch die stilbildenden Esten von heute, jene, die am Wochenende zum Clubbing nach London fliegen, bevorzugen inzwischen schnörkellose Kisten im Bauhausstil. Damit rezipieren sie zum einen trendbewusst die gesamteuropäische Strömung der «zweiten Moderne». Zum anderen aber hat diese Wiederentdeckung der schlichten Eleganz des Neuen Bauens, wie Mart Kalm, Chef des Instituts für Kunstgeschichte der Tallinner Kunstakademie, erläutert, einige landesspezifische Gründe: Mit dem Funktionalismus wird an den in den dreissiger Jahren vorherrschenden Architekturstil der ersten estnischen Republik angeknüpft und damit einer als goldene Zeit verklärten nationalen Tradition Reverenz erwiesen. Ausserdem steht der Funktionalismus in der Wahrnehmung gebildeter Esten für nordeuropäisch-skandinavische Klarheit und Ehrlichkeit. Und weiter dient er der Abgrenzung von den in bizarren Türmchen, Giebelchen und Erkern schwelgenden Märchenschlössern der «neuen Russen» – auch wenn es die in Estland noch kaum gibt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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