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Ein Übungsplatz der Zukunft
Neue Zürcher Zeitung

In der chinesischen Metropole Schanghai treffen Tradition und Ultramoderne aufeinander

Schanghai erlebt derzeit einen immensen Bauboom und wandelt sich zu einer Metropole der Superlative. Im Spannungsfeld zwischen Moderne und einem neu erwachten Bewusstsein für die chinesische Tradition vollzieht sich zugleich eine forcierte kulturelle Öffnung gegen Westen.

19. August 2008 - Hugo Loetscher
Die Skyline von Pudong ist unbestritten die optische Visitenkarte des heutigen Schanghai. Als ich vor gut fünfundzwanzig Jahren die Chance hatte, über den Huangpu ans andere Ufer zu schauen, waren drüben Reisfelder auszumachen, einige Bauten und Bauernbehausungen. Damals hatte der Huangpu nur ein Ufer, den Bund; hier hatten sich die Briten eingerichtet. Noch immer gibt es eine Ufer-Avenue, mit Banken und Handelshäusern auf Repräsentanz bedacht, klassizistische Erinnerungen an die Kolonialzeit der British Concession, mit dem Asia Building oder dem Peace Hotel als Monumenten, eine Prachtmeile, an der man heute das Denkmal für die Helden der Revolution findet, einen Park, wo einst das Schild angebracht war «Chinesen und Hunde verboten».

Im Höhenrausch

Jetzt führt ein Unterwassertunnel, mittels einer Lichtinstallation als touristische Attraktion konzipiert, hinüber, direkt zum Oriental Pearl Tower. Pudong ist mit anderthalb Millionen Einwohnern nicht nur das Investment- und Finanzzentrum mit Einrichtungen wie dem Fernsehturm und der Convention Hall mit imposantem Kugeldach. Hier findet man neben Luxushotels das Ozean-Aquarium wie das Museum für Wissenschaft und Technologie oder den Jahrhundert-Boulevard, gesäumt von acht verschiedenen chinesischen Gärten.

Über all das hinaus ist Pudong die Schaltstelle für die Zukunft. Das manifestiert sich in den Wolkenkratzern. Der Fernsehturm Oriental Pearl ist der höchste in Asien und der dritthöchste in der Welt. Daneben wäre gleich der Jinmao Tower zu erwähnen, mit 412 Metern eines der höchsten Gebäude der Welt. Er besitzt eine Aussichtsterrasse im 88. Stockwerk und einen Lift, der so rasch hinauffährt, dass Leuten mit Herzbeschwerden von der Fahrt abgeraten wird. Im Bau befindet sich unweit davon ein Wolkenkratzer, der noch höher werden soll als die bisherigen.

Mit diesen himmelstürmenden Wolkenkratzern partizipiert Schanghai am asiatischen Wettstreit, es den USA gleichzutun und wenn möglich besser und eben höher zu bauen – wie die Twin Towers in Kuala Lumpur oder der Taipei 101 in Taiwan oder Burj Dubai. Wobei es darauf ankommt, ob für die Rekordhöhe die Antenne mit gemessen werden darf.

Pudong ist Zukunft im Superlativ. Zum höchsten Gebäude passt der längste Unterwassertunnel im Aquarium oder die mit dreissig Kilometern längste Seebrücke der Welt; das wäre eine Brücke von Zürich über den See bis Pfäffikon Schwyz. Oder die Maglev-Bahn zum Flughafen: Bei einer Höchstgeschwindigkeit von 431 km/h braucht sie für die dreissig Kilometer sieben Minuten und zwanzig Sekunden.

Fährt man durch Pudong und andere Wolkenkratzerviertel mit ihren Hoch- und Ringstrassen, ihren Rampen und Karussells, durch Fussgängerzonen und Hightech-Distrikte, könnte man sich in irgendeiner westlichen Metropole wähnen. Angesichts der Boutiquen fühlte ich mich unweigerlich an meine Storchengasse in Zürich erinnert, nur dass die Gasse hier kilometerlang ist und die Boutiquen zahlreicher und pompöser. Angesichts des Luxus und der Luxuspreise drängt sich ein ganz anderer Vergleich auf. Da diskutieren wir, wie im Kapitalismus die Gesellschaft sozial immer mehr auseinanderdriftet. Und nun erlebe ich das Gleiche hier, wo unter einem kommunistischen Regime als Folge der wirtschaftlichen Öffnung eine Schicht von Allerreichsten entsteht.

Kulturerbe

Trotz modernem Design ist das Chinesische als Zitat präsent. Primär wegen der Schriftzeichen: mit einem Torbogen, den Aufbauten auf den Hochhäusern oder als Dekor von Strassenbeleuchtungen. Wobei Wolkenkratzer oft mit asiatischer Metaphorik charakterisiert werden, auch wenn sie von westlichen Architekturfirmen entworfen wurden – die Gebäude sollen an eine Pagode erinnern, an Bambus oder Lotos oder an einen Drachen, der gen Himmel fliegt. Das Grand Theater, das Opernhaus, knüpft baulich an überlieferte Vorstellungen an: über dem Rechteck des Unterbaus, dem Symbol für die Erde, das geschwungene Runddach des Himmels.

Und doch lassen sich Unterschiede zu andern asiatischen Metropolen feststellen. Zu Bangkok etwa, dessen Boom kaum an das goldene Bangkok von einst erinnern lässt. Aber man wird vor jedem Bau, ob öffentlich oder privat, ein Geisterhäuschen finden, dem Geist errichtet, den man mit dem Bau um seinen angestammten Platz gebracht hat. So bestimmt die Religion das Strassenbild. Ähnliches liesse sich auch für indische Metropolen sagen, Hindu-Gottheiten begleiten den öffentlichen Alltag.

Entsprechendes fällt hier weg. Die Kulturrevolution hatte Tabula rasa gemacht mit der eigenen kulturellen Vergangenheit. Ich hatte in Taiwan oder in asiatischen und amerikanischen Chinatowns chinesische Traditionen kennengelernt, von denen eine junge Generation in Festlandchina nichts mehr wusste. Das hat sich geändert. Als symbolisches Beispiel dafür darf Konfuzius gelten. Konfuzius, der Lehrmeister von Disziplin und Harmonie, ein Philosoph des Gleichmuts, galt in Maos ideologisch ausgerichtetem China als Unperson. Nach seiner Rehabilitierung kann man nun in Downtown einen restaurierten Tempel aufsuchen: eine meditative Insel inmitten von Hochhäusern, und man kann in der einstigen Bibliothek über Sätze von ihm nachdenken wie diesen: «Der Mensch stolpert über den Ameisenhaufen und nicht übers Gebirge.»

Kulturerbe, das ist seit den achtziger Jahren ein neuer Begriff im politischen Wortschatz. Restaurieren bedeutet vorerst einmal Respekt vor Bauten, aber noch nicht, dass damit den Stätten auch ihre einstige Funktion zugestanden wird. Zu diesem Erbe kann eine russisch-orthodoxe Kirche gehören, die aber Besuchern verschlossen bleibt.

Das gilt nicht für die buddhistischen Tempel. Der Jadetempel hat seine Bedeutung als Wallfahrtsort für den internationalen Buddhismus behalten. Der Tempel beeindruckt nicht nur mit seiner kunstvollen Ausgestaltung, den Jadestatuen von Buddha und den übergrossen Inkarnationsfiguren. Es ist ein Ort, wo man als Besucher achtgeben muss, Gläubige nicht beim Gebet zu stören. Von anhaltender Popularität nicht minder der Longhua-Tempel, und dies nicht nur wegen seiner Pagode. Hier treffen sich Gläubige aus ganz China. Alljährlich findet im Frühling ein Festival statt, und die berühmte Glocke verspricht denen, die sie beim Einläuten des Neujahrs vernehmen, besonderes Glück. Die Glocke, die jetzt läutet, ist ein Duplikat, das Original wurde unter Mao eingeschmolzen. Ein Rundportal führt in einen Garten von zauberhaftem Grün; hier befindet sich der Sitz der Poem Association, die die Zeitschrift «Shanghai Poem» herausgibt.

Internationalisierung

Sicher hat das Interesse für die Überlieferung mit der Imagepflege einer liberalen (oder liberaleren) Kulturpolitik zu tun. Und dies steht ja nicht im Widerspruch dazu, dass eine alleinmächtige Partei ihr eigenes historisches Gedächtnis pflegt: das Gebäude, in dem der erste Kongress der Kommunistischen Partei Chinas stattfand, die Residenzen von Tschou En-lai oder Mao. Am monumentalsten ist wohl der Friedhof der Märtyrer, errichtet auf dem einstigen Exekutionsplatz, im Gedenken an die, die im Glauben an die Revolution ihr Leben lassen mussten. Eindrücklich das Museum Sun Yat-sen. Der Gründer des modernen China und dessen erster Präsident wird heute gleicherweise von Peking und Taiwan verehrt. Der Besuch bietet eine aufschlussreiche Nachhilfestunde in Geschichte, wenn einem anhand von Dokumenten vorgeführt wird, dass erst in der Nachkolonialzeit mit dem Ende der Qing-Dynastie 1911 dieses Riesenreich zu einer eigenen nationalen Existenz fand. Eine paradoxe Formulierung drängt sich auf: China, ein junges Land mit einer viertausendjährigen Geschichte.

Die Besinnung auf das kulturelle Erbe geht aber über blosse Imagepflege hinaus. Der Bauboom erlaubt kaum eine Verschnaufpause. Schanghai ist denn auch eine Stadt, in der man sich versucht fühlt, das baugeschichtliche Museum zu besuchen, um zu sehen, was vor kurzem noch war und was bald nicht mehr sein wird. Das Museum für Stadtplanung reiht sich am Platz des Volkes unter repräsentative Bauten ein: das Kunstmuseum, das Städtische Museum, die Oper, das Grosse Theater und die Bibliothek.

Bei solchem Boom-Tempo droht auf der Strecke zu bleiben, was chinesische Eigenheiten ausmacht, so dass eines Tages ausländische Besucher sich erkundigen könnten: Wo geht es zur Chinatown? Solche Zukunftssorgen kennt eine Stadt wie Peking nicht. Aber die Hauptstadt macht auch nicht wie Schanghai eine radikale Internationalisierung (oder Verwestlichung) mit. Diese Internationalisierung stellt ein neues Kapitel in der Verwestlichung dar. Wenn man zum Beispiel wegen der Jesuitenmissionen von einem katholischen Jahrhundert gesprochen hat oder wenn Schanghai als Folge der Öffnung des Hafens zu einem französischen und einem britischen Viertel kam, handelte es sich stets um eine aufgezwungene Verwestlichung. Das verhält sich heute anders; die jetzige Verwestlichung findet aus freien Stücken statt – unter der Ambivalenz, dank westlichen Errungenschaften sich gegen diesen Westen zu behaupten. Was sich auch als eine Art chinesischer Heimatstil äussert. Demnach nimmt sich Schanghai im Moment aus wie eine chinesische Stadt mit der Besonderheit einer Chinatown.

Nebeneinander

Ancient City, die Altstadt, ist das alte Chinesenviertel. Gassen, in denen man sich zu zweit gerade noch ausweichen kann, prekär der Strassenbelag. Familienweise lebt man auf engstem Raum, für die Bedürfnisse ein gemeinsamer Nachttopf, man wäscht sich im Freien, das Leben spielt sich draussen ab. Zwischen diese niedrigen Bauten und ihre lädierten Fassaden verirrt sich nicht einer der Fremdenführer, die mit einem Wimpel an ihren Stecken Touristengruppen lotsen. Solche Sightseeing-Gruppen drängen sich in jenem Teil der Ancient City, der restauriert (oder chinesisch hergerichtet) wurde. Hier haben die Bauten geschwungene Dächer. Schlangen bilden die Dachabschlüsse, Monster und Löwen schützen vor bösen Geistern. Souvenir und Fake. Hier tummeln sich junge Schlepper und Schlepperinnen: «Rolex, Rolex.» Aus dem geschäftigen «look look» wird ein «looki looki».

Auf dieses Nebeneinander von Tradition und Moderne stösst man auch anderswo und überall. Schanghai ist umgeben von Kleinstädten, die zum Teil ihren historischen Charakter behalten haben. Da gibt es Orte, die den «Garten des mäandernden Flusses» oder den «Garten der Augenweide» bieten, eine viereckige Pagode wie den «Teich des ertrunkenen Bai». Wasserstädte zum Beispiel. Eine Siedlungs-Parallele dazu wäre bei uns ein Strassendorf; während dieses entlang einer Strasse gebaut wurde, verläuft die Wasserstadt entlang eines Flusses oder eines Kanals.

Einen besonderen Ruf unter den Wasserstädten erlangte Zhujiajiao. Nicht nur wegen der «Brücke der Freilassung», so geheissen, weil von hier die gefangenen, aber nicht benötigten Fische wieder freigelassen wurden. Kommt man an diesen Ort, erwartet einen ein weitläufiger Parkplatz. Man bezahlt einen Eintrittspreis. Der Weg führt durch Bauten in traditionell chinesischem Stil – noch ist einiges an Geschäftsräumen zu mieten. Die Bauten leiten über zur alten besterhaltenen Stadt entlang der Kanäle. Was hier zu sehen ist, ist so echt, dass ein amerikanisches Filmteam den Ort als Schauplatz für «Mission Impossible» gewählt hat. Es war Tom Cruise, der über die Dächer dieser Wasserstadt hinweg geflüchtet ist.

Das architektonische und damit urbanistische Gesicht, zu dem Boom-Schanghai kommt, müsste jeden Freund des Postmodernismus erfreuen. Nicht dass nach diesem Stil-Credo gebaut würde, sondern es wird global Bilanz gezogen. Benutzt wird, was gefällt und gebraucht werden kann, was Geschichte und Zeitgenossenschaft bietet, das Angebot ist interkulturell und global. Dafür gibt die University City in Songjiang ein einmaliges Beispiel. Ein griechischer Tempel neben schmucklosen Quaderbauten der Studentenheime. Säulen als blosses Zitat und asketische Stahl- und Glasfassaden, Kolonialbauten mit Erinnerungen an die europäische Renaissance und Anspielungen an japanischen oder arabischen Baustil und immer wieder Elemente der chinesischen Kultur. Im Hintergrund modernistisch der gläserne Kegel des Rathauses.

Schweizerisch-chinesische Begegnungen

Auf diesem ausgedehnten Gelände haben sechs Universitäten ihren Standort gefunden. Darunter die University for International Studies, eine der bedeutendsten Sprachuniversitäten des Landes. Die Deutschabteilung hat zum ersten Mal Sonderveranstaltungen für die Deutschschweizer Literatur durchgeführt. Mit Vorlesungen und Seminaren für Studenten, Magister und Doktoranden. Der Münchner Literaturkritiker Eberhard Falcke orientierte über die schweizerische Frauenliteratur und das Genre des Kriminalromans von Glauser über Dürrenmatt bis heute. Der Schreibende sprach zur multikulturellen Situation einer deutschsprachigen Literatur in einem viersprachigen Land und anhand eigener Texte zu poetologischen Problemen; zudem wurde eine chinesische Edition von Erzählungen vorbereitet.

Wie gross das Interesse für deutschsprachige Kultur ist, mag man daraus ersehen, dass heute 60 Universitäten ein Deutschdepartement haben im Unterschied zu den 30 vier Jahre zuvor. Nun pflegt die Internationale Sprachuniversität seit langem beste Beziehungen mit den Universitäten Heidelberg und Göttingen. Sie ist dank der Öffnung zu grösseren Finanzmitteln gekommen, was einen vermehrten Austausch ermöglicht.

Alle derartigen Kulturkontakte sind unweigerlich Konfrontationen mit Mentalitäten. Darum fallen die Diskussionen anders aus, ob Doktoranden unmittelbare Kenntnisse von Europa haben oder ob solche Erfahrungen wie bei den Studenten fehlen. Direkt wurde Aktualität kaum angesprochen, aber man erkundigte sich im Fall von Tibet, ob der Dalai Lama wirklich ein Kriegshetzer sei, wie dies in den offiziellen Medien zu vernehmen sei. Aber die Frage kann auch grundsätzlicher sein: Gibt es tolerante Gesellschaften? Was antwortet man auf solche Fragen angesichts alleinseligmachender Kirchen und Ideologien, die für sich die absolute Wahrheit beanspruchen?

Ein Übungs- und Bauplatz

Was für Einsichten und Missverständnisse möglich sind, was an Klischees und Interpretationen bei Kulturkontakten entsteht, das hat für China Matthias Messmer untersucht. Sein Buch «China. Schauplätze west-östlicher Begegnungen» (Böhlau-Verlag, Wien 2007) ist ein sorgfältig recherchiertes und breit angelegtes Werk zu dem, was wir gemeinhin als Mentalitäten bezeichnen. Zum Beispiel für das Stichwort «Mianzi» (Gesicht), d. h. für das Problem, das Gesicht zu wahren und das Gesichtwahren zu respektieren.

Aktivitäten wie die der Sprachuniversität sind nur ein Beispiel dafür, dass Schanghai im Moment einen kulturellen Übungsplatz darstellt. Mit dem Kulturprogramm China 2008–10 prüft die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia die Voraussetzungen, um in China kulturell Fuss zu fassen und Netzwerke aufzubauen. Geplant ist, neben Delhi und Kairo eine weitere Auslandantenne zu eröffnen, wofür Schanghai eine erstrangige Chance hat.

Jedenfalls ist Schanghai ein Bauplatz. Wie könnte es auch anders sein: ein Bauplatz des Superlativs: wegen der Weltausstellung 2010, der grössten Asiens.

[ Der Schriftsteller Hugo Loetscher, geb. 1929, lebt in Zürich. 2003 erschien bei Diogenes der Band «Lesen statt klettern» mit Aufsätzen zur literarischen Schweiz. ]

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