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Die nahe Zukunft überspringen
Der Standard

Ein Projekt zweier österreichischer Architekten hat einen Wettbewerb des Massachusetts Institute of Technology gewonnen. Es entwirft den Nahen Osten des Jahres 2050.

23. August 2008 - Gudrun Harrer
Die erste Begegnung mit dem Projekt zaubert den meisten Menschen am ehesten ein nachsichtiges Lächeln auf die Lippen. Eine Entwicklung eines „Ostmittelmeerraums“ (siehe Karte unten), der Ebene der Nationalstaatlichkeit enthoben? „Untergeordnete Strukturen, wie Regionen und Städte, die aufgrund natürlicher globaler Entwicklungen ohnehin zu mehr Einfluss gelangen werden, sollen die Zentren der Entwicklung darstellen und die Bemühungen von ,unten' verstärken.“ Nota bene die Bemühungen um den Frieden in der Region, den nationalstaatliche Politik nicht zu schaffen imstande ist. Sonst noch etwas?

Um die Zukunft des Nahen Ostens pessimistisch zu sehen, bedarf es keinerlei Kreativität. Sich ein übernationales „Städtenetzwerk“ in der Region vorzustellen, ein Urbangebiet, das die schwierige Zwischenstaatlichkeit sozusagen links überholt, schon. „Städte sind freier in ihren Entscheidungen, innovativer in ihren Entwicklungen und haben einen großen Fundus an intellektueller Stärke in Form von Humankapital.“

Völlig aus der Luft gegriffen erscheint die Sache spätestens in dem Moment nicht mehr, wenn man die Entfernungskarte (ein Ausschnitt rechts) genauer studiert. Verdammt, liegt das alles nah beieinander, so kommt einem das gar nicht vor, wenn man dort ist. Von Haifa nach Damaskus nur um 50 km mehr als von Haifa nach Jerusalem. Von Haifa nach Amman näher als nach Jerusalem.

Hohe Zäune, tiefe Gräben

Aber die Zäune sind hoch und die Gräben tief. Als Pessimist könnte man jetzt versuchen, die Unauflösbarkeit der Ängste gerade mit dieser Nähe zu begründen. Wir ignorieren im Moment aber den aktuellen mangelnden Willen zur Vernetzung (der ja auch nicht nur aus der Angst begründet ist) und schauen in die Zukunft des Jahres 2050. Dieser „Anmaßung“ - die unmittelbare Zukunft zu überspringen und zu versuchen, die Entwicklung nach rückwärts aufzurollen - wird in diesem Fall mit dem Untersuchungsinstrumentarium der Architektur begegnet, im weitesten Sinne.

Mit einer Diplomarbeit mit dem breit gefassten Titel „Der Ostmittelmeerraum. Einblick und Aussicht“ hat der Oberösterreicher Siegfried Atteneder im Juli an der Kunstuniversität Linz seinen Mag. arch. erworben (die Standard-Redakteurin war Mitglied der Diplomprüfungskommission). Anfang und Fortsetzung des Projekts sind jedoch spektakulärer als ein Studienabschluss.

Jerusalem-Forschung in Boston

Die Diplomarbeit ist nämlich die Erläuterung einer Projektidee, die Atteneder gemeinsam mit dem Architekten Lorenz Potocnik beim Wettbewerb „Just Jerusalem“ des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston einreichte. Der Wettbewerb wiederum ist Teil eines Programms mit dem Namen „Jerusalem 2050“. Aus 125 Projekten mit Teilnehmern aus 85 Ländern ging Atteneder-Potocniks „Hummus - East Mediterranean City Belt 2050“ in einer von vier Sparten des Wettbewerbs (in „Civic Structure“) als Sieger hervor.

Gewonnen haben die beiden einen halbjährigen Forschungsaufenthalt am MIT, in dessen Rahmen die Idee weiterentwickelt werden soll (Ziel ist die Publikation und eine Präsentation in Jerusalem), und zwar unter der interdisziplinären Schirmherrschaft des Department of Urban Studies and Planning des Center for International Studies. Dort ist das Jerusalem- Programm angesiedelt.

Gefragt wurde nach Jerusalem, geantwortet wurde von Atteneder und Potocnik, die selbst vom „Risiko Themenverfehlung“ sprechen, mit „die Region“ - ohne deren Gedeihen sich Jerusalem nicht von einer politisch belasteten, religiös überfrachteten Stadt wegentwickeln, das heißt normalisieren - oder internationalisieren - lassen wird. Diese Region, der „Ostmittelmeerraum“, umfasst das Nildelta, Israel, Palästina (visionär lassen wir hier die politisch korrekten Anführungszeichen weg), Libanon, Westjordanien und -syrien sowie ein Stück Südostürkei. Was riesig klingt, ist wesentlich kleiner als Frankreich. 106 Millionen Menschen auf 427.000 km2.

In seiner Diplomarbeit verweist Atteneder auf andere Urbangebiete in der Welt, wie „San San“ (von San Francisco bis San Diego), „Boswash“ (Boston bis Washington), „Tokaido“ in Japan und die (als Begriff veraltete) „Blaue Banane“ von Nordengland bis Norditalien. Die Unterschiede liegen auf der Hand - aber eben auch die Gemeinsamkeiten. Sowohl Israel als auch die arabischen Mittelmeeranrainer (die Türkei weniger) sind extrem urbanisiert und ihre Bevölkerung wird in den nächsten Jahren stark wachsen. 1970 gab es nur zwei Städte mit über einer Million Einwohner, 2002 waren es schon 15.

Was kann jedoch die Menschen in diesem Raum zusammenbringen? Die Antworten - Wirtschaft, Handel, gemeinsame Sorge für die Umwelt - sind einfach und komplex zugleich. Aufschlussreich sind zwei Interviews, die Atteneder seiner Arbeit anfügt, mit einer Israelin, in deren Antwort die „verhasste Beziehung“ zwischen Tel Aviv und Jerusalem vorkommt, und dass Haifa „irgendwie in einem anderen Land“ liegt. Eine Libanesin spricht über libanesische und syrische Städte und Amman und kann sich eine „Ostmittelmeerregion“ nicht einmal wirklich vorstellen angesichts der Zersplitterung in ihrem eigenen Land. Als sie jedoch vom Nicht-Verhältnis zwischen Libanesen und Israelis spricht, verweist sie gleichzeitig auf das Internet, „ein Medium, das diese Barriere durchbrechen könnte. Vereinzelt suchen junge Menschen der beiden Länder den Kontakt ...“

Levantinisches Auge und Co.

Angesichts der aktuellen Situation sind schon die kleineren Figuren des Projekts, die im großen Rahmen des Ostmittelmeerraumes vorgeschlagen werden, ehrgeizig: Der „Levantische Ring“ involviert als kleinstmögliche Form der übernationalen Städtekooperation Haifa, Jerusalem, Tel Aviv und Amman; das „Levantinische Auge“ bindet im Süden Gaza-Stadt und im Norden Beirut und Damaskus ein - und man möchte sagen, falls es so etwas einmal gibt, kommt der Rest von selbst. Der „Levantinische Korridor“ erstreckt sich im Süden nach Elat/Aqaba und im Norden nach Gaziantep und Adana. Die „Levantinischen Pole“ positionieren das „Levantinische Auge“ vis à vis dem Nildelta in Ägypten, und im „Levantinischen Nest“ kommen als Teilbereiche noch Nordsyrien/Südosttürkei und Zypern dazu, die nach Bedarf und Möglichkeit mit den anderen kooperieren. Alles natürlich Vorstufen auf den einen City Belt 2050.

Ja, es fällt schwer, den Geist so weit schweifen zu lassen, den einen und anderen wird der Begriff „Levante“ stören, aber es geht hier ganz dezidiert nicht um eine fertige Struktur, sondern um einen offenen Denkprozess, einen räumlich-theoretischen Diskurs. Und wer das als Architektur-Arbeit ungewöhnlich findet, hat Recht.

Was nicht heißen soll, dass hier nur vage spintisiert wird. Drei touristische Achsen im Raum erarbeitet Atteneder (neben der auf der Hand liegenden Küstenachse eine Natur/Kulturachse und eine Hinterland-Wüstenachse), aber vor allem erfreut die Idee von fünf transnationalen Regionalparks: Hatay-Liwaa (Syrien, Türkei), Bekaa-Orontes (Syrien, Libanon), Kinneret-Golan (Syrien, Libanon, Israel), Totes Meer (Palästina, Israel, Jordanien) und Rotes Meer (Israel, Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien).

Es kommt eben immer darauf an, welche Fragen man stellt. Und auf die Frage „Wo wollen wir in 40 Jahren sein?“ ist das keine irrationale, sondern eine vernünftige Antwort. Man muss nur noch den Weg von der vernünftigen Zukunft zurück in die Gegenwart finden.

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