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Spektakuläre Projekte, kläglich gescheitert
TagesAnzeiger

An Visionen fehlte es in Zürich nicht – nur wurden sie nie realisiert. So wollten Architekten vor hundert Jahren die Altstadt niederreissen und durch moderne Hochhäuser ersetzen.

28. Dezember 2008 - Claudia Keller
Wer behauptet, Zürich fehlten die grossen Würfe, liegt falsch. Zumindest in den Köpfen der Planer wurde gerne dick aufgetragen: Eines der vielen spektakulären, jedoch grösstenteils nicht realisierten Projekte war die St. Peterstrasse. Deren Anfänge wurden zwar gebaut, der Durchstich – von der Bahnhofstrasse aus – hätte jedoch bis zum Limmatquai weitergeführt werden sollen. Das Projekt von Alex Koch wurde in einem Kalender aus dem Jahr 1882 hochgelobt: «–Wie wär`s–, dachten schon lange gescheite Leute, –wenn man die paar Häuser niederrisse, welche im Wege stehen und dann mittelst Durchstichs gradaus auf ebener breiter Strasse an die Bahnhofstrasse gelangen könnte?–»

Die Erleichterung der Mobilität und das Errichten von geraden Strassen zählten am Ende des 19. Jahrhunderts mehr als das historische Erbe und die Erhaltung des Stadtbildes. Denn bei der Realisierung dieses Projekts wären keineswegs nur ein paar Häuser niedergerissen worden. Die natürliche Unebenheit in diesem Gebiet hätte abgetragen werden müssen, wovon auch der Vorplatz der St.-Peter-Kirche und vor allem die Gartenmauer vor dem Pfarrhaus betroffen gewesen wären. An dieser Mauer scheiterte die St. Peterstrasse schliesslich, da die Kirchgemeinde einen zu hohen Preis dafür verlangte. Die Idee wurde später mehrmals wieder aufgegriffen. Sie steht exemplarisch für viele andere Projekte: Geplant wurde viel, aber umgesetzt haben die Zürcher nur einen kleinen Teil davon.

Flanieren wie in Paris

Ähnliche Durchstiche, die zwar gerade, breitere Strassen ermöglichen, jedoch immer das Abreissen vieler historischer Gebäude und somit grosse Veränderungen im Stadtbild zur Folge gehabt hätten, waren auch rechts der Limmat vorgesehen. 1885 plante der Architekt Heinrich Ernst den Waldmanndurchstich. Von diesem wurden neben der freien evangelischen Schule nur einige Meter realisiert, obwohl er sich ursprünglich bis zur Münstergasse hätte durchziehen sollen.

Als Parallelstrasse dazu war die verlängerte Zähringerstrasse gedacht, ein weiteres Dauerprojekt in der Geschichte der Altstadtplanung. Begonnen hat sie Gustav Gull, der Erbauer des Landesmuseums. Er wollte sie vom heutigen Zähringerplatz quer über den Neumarkt – einer der schönsten Gassen der Altstadt – bis zum Heimplatz weiterführen. Wäre ihm dies gelungen, könnte man heute, anstatt das Theater Neumarkt zu besuchen, wie in Paris auf den Champs-Elysées flanieren. Erstmals 1867 vorgeschlagen, wurde die verlängerte Zähringerstrasse in verschiedenen mehr oder weniger radikalen Versionen diskutiert und verschwand erst in den späten 30er-Jahren in der Schublade der nicht umgesetzten Visionen.

Eine neue Kultur schaffen

Einer der grossen Verfechter dieses Projekts war Karl Moser, der das Hauptgebäude der Universität Zürich sowie das Kunsthaus baute. Noch 1933 legte er in Anlehnung an Le Corbusier weitaus radikalere Pläne vor, in denen er vorschlug, die gesamte Altstadt mit wenigen Ausnahmen abzureissen und durch mehrstöckige Bürogebäude zu ersetzen. Schon 1930, bei der Diskussion um die Verlängerung der Zähringerstrasse, hatte er deutlich gemacht, dass er keine Rücksicht auf bedeutungsvolle historische Gebäude nehmen wollte: «Wir haben nicht die alte Kultur zu erhalten, sondern eine neue zu schaffen. Es hat keinen Wert, Geburtshäuser berühmter Leute zu schonen. Diese leben durch ihr geistiges Werk weiter und nicht durch die Gebäude, in denen sie gelebt haben.»

In der Tat, das Werk von Gottfried Keller hätte keine Einbussen erlebt, wäre sein Geburtshaus durch einen Boulevard à la Paris ersetzt worden. Die Frage lautet jedoch, ob ein Stadtbild, das völlig losgelöst von seinem historischen Kontext existiert, wünschenswert ist. Eine Frage, die heute lautstark verneint wird.

«Big City» statt «Little Big City»

Bis die öffentliche Meinung zu dieser Ansicht gelangte, keimten immer wieder sehr fortschrittliche, vielleicht allzu fortschrittliche Ansichten, auf. Ihre Verfechter wollten Zürich und seinen historischen Kern zu der Grossstadt entwickeln, die es heute gerne zu sein vorgibt: Zürich wäre statt einer «Little Big City» eine «Big City» geworden. Um zu erfahren, was eine Stadt wirklich bewegte, müsse man die Geschichte der Utopien und nicht die der wirklichen Veränderungen, die Ideenarchäologie und nicht die Archäologie der Steine lesen, hielt Rudolf Schilling 1981 in seinem Buch «Ideen für Zürich» fest. Denn diese Ideen zeugen, vielleicht gerade in ihrer Radikalität, von dem, was früher als Mangel empfunden werde.

Die Altstadt galt im 19. und bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein als ein Symbol für das dunkle Mittelalter; es herrschten unhygienische Zustände, die als Ausgangspunkt für Epidemien betrachtet wurden. Platzmangel sollte Licht, Luft und repräsentativer Grösse weichen. Die Projekte beschränkten sich weder auf Durchstiche noch auf die Altstadt. Ein Beispiel ist das von Heinrich Ernst im Jahre 1885 geplante Geschäftszentrum beim Bellevue: Zürich hätte eine Galerie bekommen, wie Neapel oder Mailand sie haben.

[ Publikation zum Thema: «Imaginäres Zürich», Martin Arthur Fröhlich und Martin Arthur Steinmann, Huber-Verlag (1975) ]

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