Artikel

Industrielle Varietät und intersubjektive Form
Neue Zürcher Zeitung

Aus der Reihe „Junge Schweizer Architekten“

Zum Werk von Ursula Stücheli und Beat Mathys

7. November 1997 - J. Christoph Bürkle
Es gibt Stimmen, die die architektonische Entwicklung der Stadt Bern in den letzten Jahren als festgefahren und provinziell bezeichnen. Zugleich gibt es aber auch Ansätze bei jungen Architekten, aus dieser Situation und der anhaltenden Baukrise eine Tugend zu machen. Ursula Stücheli und Beat Mathys haben ihr Büro in Bern, stehen in kritischer Distanz zu ihrer Stadt, in der sie aber auch eine besondere Qualität ausmachen, die sich im städtischen Wohnen ausdrückt und aus der heraus sie ihre Arbeiten entwickeln. Ausgebildet an der ETH in Zürich, wo sie konzeptionelles Denken und die «Kultur des Details» lernten, wenden sie sich nun eher ab von einer «Form des Akademismus», die zu sehr in Formalismen erstarrt. Transformationen nennen sie denn auch programmatisch ihre Arbeiten, mit denen sie versuchen, zu anderen Raumbildungen zu gelangen, Wohn- und Lebensbedürfnisse zu hinterfragen, um mit neuen Produktionsmethoden darauf reagieren zu können. Hochgesteckte Ziele fürwahr, die sich jedoch an ihrer Arbeit überprüfen lassen, wenngleich bis jetzt erst in Ansätzen. 1997 erhielten sie für ein stapelbares Minimalhaus ein eidgenössisches Stipendium. Die experimentelle Holzkiste, ihre Vorstellung von räumlichem Minimalismus, kann fürs Wohnen, Arbeiten oder als Ferienhaus einzeln oder seriell eingesetzt werden. Aus wenigen Elementen zusammengesetzt, ist sie gleichsam als Urzelle des Wohnens formuliert und kann gestapelt gar zu einem mehrstöckigen Hochhaus mutieren.

Die erste grössere Arbeit von Stücheli und Mathys sind zwei Atelierbauten der Siedlung Baumgarten Ost, die sie in Arbeitsgemeinschaft mit Thomas Hostettler und Peter Flückiger entwickelt haben. Der harten Betonästhetik der bestehenden Siedlung, die - inspiriert vom Atelier 5 - von der Architektengruppe Aarplan realisiert wurde, stellten sie zwei blau gestrichene Holzkisten entgegen.

Diese gleichsam auf Betonfüssen schwebenden Holzbauten haben neun Räume mit ganz unterschiedlicher Nutzung. So entstanden zunächst rasterlos einteilbare Grundrisse, die auf Grund der Holzrahmenelemente festgelegt wurden. Die ästhetische Umsetzung dieser heute gebräuchlichen Konstruktionsart war eines der entwerferischen Hauptanliegen der Architekten. Die Hülle wurde als informelles Band, einem Strichcode ähnlich, ohne spezifische Ausrichtung um die Baukörper gezogen. Sie ist bewusst Zäsur zwischen der Betonschallschutzmauer und dem formal dominierenden Balkonsystem der Siedlung. Die Oberlichter ermöglichten einen hohen Anteil an geschlossenenWänden, wodurch die Kosten gesenkt werden konnten. So entstanden geschlossene Ateliercontainer, deren Hermetik durch die grossen blauen Holztafeln und die bodenlangen Schiebetüren noch verstärkt wird.

Die mit einfachem Kiefernholz ausgekleideten Innenräume wirken mit ihren Oberlichtern beinahe wie meditative Kapseln in der offen gestalteten Siedlung. Es ging den Architekten letztlich darum, «einfachste und kostengünstige Holzkisten zu bauen, die die inneren Kräfte ihrer Produktionsbedingungen ästhetisch darstellen. Die Räume sind in ihrer Stimmung non-figurativ undnatural-ornamental.» Aus der inneren Aufteilung, die die kollektiven Bedürfnisse der Benutzer widerspiegelt, und der konsequenten Gestaltung der äusseren Hülle entstand eine erste «industrielle Varietät», die durch den vorfabrizierten Holzrahmenbau strukturiert ist.

Stücheli und Mathys interessieren sich für Herstellungstechniken und -bedingungen aus anderen medialen Bereichen, die sie in Architektur zu transformieren suchen: Strichcodes statt Rasterfassade, irregulärer Rhythmus statt Gleichton, Ein- und Ausblendung statt Durchgängigkeit. Dabei gilt ihre spezielle Aufmerksamkeit der Auseinandersetzung mit dem Raum. In ersten Umbauten beschäftigten sie sich mit den Grundbedürfnissen der elementaren Raumnutzung und versuchten zugleich, den Raum als autonomes architektonisches Kraftfeld zu behandeln. Inspirationsquelle ist einerseits Adolf Loos und dessen konsequenter Raumplan, zugleich aber auch die abstrakte Raumintensivierung der Minimal art. Allerdings rücken sie heute von der sich verselbständigenden Ästhetik des Minimalismus wieder ab.

Sie versuchen mit reduziertem Material und gezieltem Lichteinsatz die räumliche Wirkung zu steigern und die Loslösung von der Aussenwelt, die Kapselwirkung des Kerns im Gegensatz zur umgebenden Hülle zu formulieren. Eine Studie in dieser Richtung ist das Modulhotel Diogenes, das als Studie für die Expo 2001 entworfen wurde. Die Minimalcontainer bestehen aus einem Raum mit Nasszelle und sind mit acht mal drei Metern auf grösstmögliche Vielfalt der Nutzung ausgelegt. Als mobile Serienhäuser können sie per Bahn oder Lastwagen transportiert und als Notunterkünfte, Ateliers oder Wohnungen für das Existenzminimum eingesetzt werden. Diese stapelbaren Einheiten werden vielleicht demnächst als erste Snowboard-Hotels zu sehen sein. Zwar hat das Projekt seine Wurzeln unverkennbar in den sechziger Jahren. Dank der Technik der computergesteuerten Lignamatik ist esaber auch heute interessant.

Stücheli und Mathys entwickelten in Bern eine «Wahrnehmungsschärfe für Randphänomene». Sie wollen ästhetische Phänomene, die sie aus den heutigen Kommunikationsstrukturen ablesen, auf ihre Architekturen und Transformationen übertragen. So verstehen sie die Module des Diogenes-Projekts als digitale Einheiten: «Der Optimismus der sechziger Jahre ist weg. Trotzdem oder gerade deswegen entwerfen wir Minimal-Utopien.» Im Kräftefluss zwischen gesellschaftspolitischen Veränderungen und selbstreferentieller Architektur sehen sie eine Möglichkeit der Auflösung festgefahrener
Wahrnehmungen.

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