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Wohnen bis 100 plus
Spectrum

Wie aus einem Sonderkrankenhaus mit 328 Betten ein wohnliches Milieu wird: zur Erweiterung des Geriatriezentrums in Wien-Ost.

1. August 2009 - Franziska Leeb
Anfang Juli wurde der EU-weit ausgelobte Architektenwettbewerb um das beste Konzept zur Sanierung und baulichen Erweiterung des bestehenden Geriatriezentrums im Sozialmedizinischen Zentrum Ost entschieden: zugunsten von Delugan Meissl Associated Architects (DMAA). Die Wiener Baukünstler haben nicht nur fast zeitgleich auch den Wettbewerb um die neue Unternehmenszentrale der Bestattung Wien am Zentralfriedhof gewonnen, sondern reüssieren seit Jahren international auf hohem Niveau. In ihrem Portfolio befindet sich bislang kein Krankenhaus, aber gut ein Dutzend großvolumiger Wohnbauprojekte – ein Know-how, das beim Geriatriezentrum kein Nachteil war. Wohnatmosphäre statt Krankenhauscharakter lautet nämlich die Devise für die neuen Wohn- und Pflegeheime des Wiener Krankenanstaltenverbunds, die bis 2015 im Zuge der Geriatriereform fertiggestellt sein werden.

Das Geriatriezentrum beim SMZ Ost war das erste Haus für die geriatrische Pflege, das die Stadt Wien nach der Monarchie errichtete. Ab 1972 wurde das für knapp über 400 Betten ausgelegte Pflegeheim geplant, im Jänner 1982 ging es in Betrieb.

Delugan/Meissl befreien den aus drei in der Diagonale aneinandergeschobenen Türmen bestehenden Baukörper von zwei Annexbauten und schließen mittels L-förmiger Anbauten die zerklüftete Figur zu einem kompakten Baukörper. Zwei Pflegestationen können nun sinnvoll auf den zwei Karrees mit innen liegendem Atrium pro Geschoß sinnvoll organisiert werden. Das ganze Gebäude wird mit einer Loggienzone ummantelt, die jedes der Einzel- und Doppelzimmerum einen barrierefrei zu erreichenden Freiraum erweitert. Das geforderte neue Zentrum für Wachkoma-Patienten und Langzeitbeatmete bringen sie in einem winkelförmigen dreigeschoßigen Bau an der Langobardenstraße unter. Über einen eingeschoßigen Verbindungsbau erfolgt der Zugang in beide Häuser. Im städtebaulichen Kontext findet die Anlage nun besser Halt als bisher. Routiniert wurde das verborgene Potenzial der bestehenden Anlage entdeckt und in Form gebracht. Wie aber wird aus einer insgesamt 328 Betten umfassenden Sonderkrankenanstalt ein wohnliches Milieu? Die Bewohner und Bewohnerinnen sind hochbetagt, oft dement und bedürfen intensiver pflegerischer und medizinischer Betreuung. Im neu errichteten Bauteil werden Langzeitbeatmete und Wachkoma-Patienten jeden Alters betreut. Wie man einen Menschen in bestimmten Räumen zur Ruhe kommen lassen und ihm andererseits Motivation geben kann, sei ein interessantes Spannungsfeld, so Roman Delugan. Das Zimmer ist die Ruhezelle. Ausblick gibt es auch im Liegen, und die an Boden, Wänden und Decke in Holz gehaltene Loggia kann auch im Pflegebett befahren werden. Vorhänge schirmen die gläsernen Brüstungen ab und gewähren Sicht- wie Sonnenschutz. Die Loggientrennwand kann zum Nachbarn geöffnet werden, wenn der Wunsch nach Kommunikation und Gemeinschaft besteht.

Statt uniformer Krankenhausgänge mit Tagräumen an den Enden sind spannungsreiche Raumsequenzen ausgebildet. Die Atrien bringen Tageslicht, schaffen Durchblicke und sind Schauplatz von Inszenierungen mit luftbewegten Mobiles und aufsteigenden Wolken. Die Gärten, gestaltet von den Landschaftsarchitekten Isolde Rajekund Oliver Barosch, sind nicht nur von den Allgemeinbereichen aus zugänglich, sondernvon allen angrenzenden Räumen, ob Therapieraum oder Raucherzimmer, ob Personaldienstzimmer oder Angehörigenraum.

Trotz der Einschränkungen, die die bestehende Struktur mit sich bringt, gelingen in den Erschließungsbereichen abwechslungsreiche Raumsequenzen mit belebteren Zonenund Nischen, die außerhalb des Zimmers intime Refugien bilden. Der Zugang zum Thema sei leichter gefallen, so DMAA-Partner Dietmar Feistel, indem man so ein Geriatriezentrum zwar als eine ernste Angelegenheit, schlussendlich aber als doch nichts anderes als ein Wohnraum für einen bestimmten Lebensabschnitt betrachtete.

Zu Anfang der 1950er-Jahre kamen auf 120 Erwerbstätige zwei demente Personen. Hochrechnungen prognostizieren für das Jahr 2050 ein Verhältnis 15 zu eins. Geriatriezentren werden also zu normalen Wohnorten werden müssen. Wie und wo wohnen aber jene Senioren, die von der Demenz verschont bleiben und dank Pharma- und Kosmetikindustrie lange fit und fesch bleiben? Oder die, die in der eigenen Wohnung vereinsamen würden, oder jene, die gar keine eigene Wohnung haben? – Die Ausstellung „Ich wohne, bis ich 100 bin. Red Vienna, Grey Society“, die das Architekturzentrum Wien in Kürze eröffnet, transferiert die Erkenntnisse einer Studie des Wohnforums der ETH Zürich über die Wohnbedürfnisse der Alten in eine Inszenierung zum Mitmachen und Nachdenken.

Das Team Arquitectos (Heidi Pretterhofer, Dieter Spath) ergänzen die aus Zürich übernommene Schau und geben einen kurzen Überblick über die Entwicklung vom Siechenhaus zur Geriatrie mit Wohnambiente und zeigen ausgewählte aktuelle und geplante Beispiele vom Wohnheim für obdachlose Senioren über Mehrgenerationen-Wohnprojekte bis zu Pflegeheimen und Geriatriezentren. In Form von Piktogrammenliefern sie zu den vorgestellten Bauten schnellverständliche Zusatzinformationen, wie jene,dass der Pflegeheimbewohner in den meistenFällen weiblich ist. Ob dies so ist, weil zwar die Frauen ihre Männer pflegen, bis sie selber zum Pflegefall werden? Und umgekehrt? Diese Frage drängt sich auf. Auch die, ob man statt der vielen Themenwohnungen für Alte und Junge, Singles und Familien, Urbanisten und Insulaner nicht einfach dafür sorgen könnte, dass alle geförderten Wohnbauten so angelegt sind, dass sie unterschiedlichen Lebensstilen und -stadien gerecht werden. Den kühlen Einlagerungsraum neben der Wohnungstür, wo die gebrechliche Oma mühelos den vom Zustelldienst gelieferten Kartoffelsack einlagern kann, könnten alle anderen auch gut gebrauchen. Und wer wäre nicht froh, wenn sie beim Austritt auf ihre Loggia die Stolpergefahr gebannt wäre. Bitte mehr altengerechte Wohnungen, auch die Jungen werden dankbar sein!

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