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7. April 2000 Neue Zürcher Zeitung

Ein Pragmatiker mit Visionen

Der niederländische Architekt Kees Christiaanse

Durch ihre einfachen geometrischen Volumen wirken die Arbeiten des Holländers Kees Christiaanse zunächst eher unauffällig. Die städtebauliche und gestalterische Qualität der oftmals terrassenförmig aufsteigenden oder mäandernd ineinandergreifenden Baukörper - überwiegend Wohnbauten - erschliesst sich meist erst auf den zweiten Blick.

Direkt am Wasser erhob sich schon eines der ersten Projekte von Kees Christiaanse: Als Teil eines grösseren städtebaulichen Entwurfs zur Umgestaltung des nördlichen Rotterdamer Maasufers (1988-91) errichtete der 1953 in Amsterdam geborene Architekt eine schwarze Terrazzo-Arkade mit einer zum Wasser hin gerichteten Tribüne und entwickelte damit eine gelungene Überbrückung des Höhenunterschieds zwischen dem Boompjes Boulevard und dem tiefer gelegenen Quai. Christiaanse schuf mit seiner eleganten Inszenierung nicht nur einen visuellen Rahmen für den angrenzenden Fluss, sondern auch eine würdige Bühne für den verspielten Boompjes-Pavillon, den die Delfter Mecanoo-Architekten als Bestandteil des Entwurfs ans Maasufer stellten.


Rationale Entwurfsprozesse

Vom Boompjes Boulevard aus schliesst sich nach Norden die sogenannte Wijnhaven-Insel an. Das Herz der «Rotterdamer Wasserstadt» wurde nach dem Krieg mit geschlossenen Büroblöcken mit einer Traufhöhe von 20 Metern bebaut, doch heute steht ein Grossteil der Gebäude leer. Um aus dem niedergehenden Dienstleistungsgebiet ein lebendiges Quartier mit Funktionsmischung zu entwickeln - ohne dabei die wirtschaftliche Entwicklung des Stadtteils zu blockieren -, schlug der 1993 erstellte Bebauungsvorschlag von Christiaanse Spielregeln vor, die gleichsam selbstregulierend Höhe und Dichte im Quartier steuern sollen. Die wichtigste Regel ist dabei die Schlankheitsregel, die (ähnlich wie in Greenwich oder Soho) die Höhe der einzelnen Baukörper an ihre Schlankheit koppelt. Mit einem Minimum an derartigen städtebaulichen Regeln gelang es Christiaanse, ein System zu erzeugen, das der Architektur grösste Freiheiten gewährt und gleichzeitig Besonnung, Aussicht und Orientierung im Quartier garantiert.

«Entwerfen ist kein romantisches Abenteuer, sondern ein logischer und rationaler Prozess, der hauptsächlich aus Ja/Nein-Entscheidungen besteht», behauptete Christiaanse 1990 in einem ausgerechnet als «Manifesto» überschriebenen Essay. Eine deutliche Absage an die Vorstellung eines visionären Masterplans, mit der Christiaanse zwar keine Rückkehr in die städtebaulichen Irrwege der sechziger Jahre verfolgt, aber immerhin feststellt, dass reine Bildentwürfe keine adäquate Antwort auf die komplexen ökonomischen und politischen Bedingungen der Gegenwart seien. «Stadtplanung organisiert die öffentlichen Belange und muss zur Architektur ein bestimmtes Mass an Neutralität wahren, damit die Architektur 1000 Blumen blühen lassen kann», meint Christiaanse statt dessen und lässt dem Architekten und Städtebauer dabei die Rolle eines jonglierenden Navigators innerhalb einer komplexen Dynamik zukommen - ein Pragmatismus, den Christiaanse bereits während seiner neunjährigen Tätigkeit als Partner in Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture (OMA) in Rotterdam (1980-89) entwickelt hat. So ist es nicht zuletzt Christiaanse zu verdanken, dass auch in der Anfangsphase von OMA nicht nur theoretisiert, sondern hin und wieder auch gebaut wurde.

Unmittelbar im Anschluss an seine Zeit bei OMA eröffnete Christiaanse seine eigenen Büros in Rotterdam (seit 1989) und in Köln (seit 1990). Neben der Entwicklung von städtebaulichen Konzepten gilt sein Engagement seitdem vor allem dem grossflächigen Wohnungsbau. Von Beginn an gelang es Christiaanse dabei, das Ideal von einer lebenswerten Umwelt in abwechslungsreicher, lebendiger Stadtlandschaft mit sozialem Engagement zu verbinden - kaum verwunderlich also, dass er 1993 zum Leiter der Architekturabteilung des niederländischen Rijksgebouwendienst berufen wurde. Beim Entwurf für das Delfter Studentenheim «Westlandhof» (1991-93) etwa, das zu grossen Teilen von ausländischen Studierenden bewohnt wird, ermöglichte Christiaanse, dass diese für unterschiedlich lange Zeit auch Familienangehörige mit nach Delft bringen können: Die einzelnen Wohneinheiten lassen sich problemlos zu Dreipersonenhaushalten umrüsten. Urbanistisch folgt der «Westlandhof» dem Verlauf einer stark befahrenen Strasse vor dem Gebäude; der bananenförmig geschwungene, von vier auf neun Etagen anwachsende Bau wurde deshalb mit zahlreichen Lärmschutzvorkehrungen ausgerüstet und fungiert gleichzeitig als breiter Lärmschutzwall für die dahinterliegende Wohnbebauung.


Materialkontraste

Ähnlich war auch die Ausgangssituation für den ebenfalls in Delft angesiedelten Hooikade- Wohnkomplex (1994-97), wo vier abstrakte, fast minimalistische Blöcke einen breiten Lärmschutzwall zwischen der Bahnlinie und einem nach hinten sich anschliessenden Wohngebiet bilden. Um einen einheitlichen Gesamteindruck und einen fliessenden Übergang zwischen den einzelnen Volumen zu erreichen, legte Christiaanse an den Stirnseiten der Gebäude eine Hülle aus Beton um die sonst überwiegend mit Holz verschalten Fassaden. Zur Strassenseite hin fungiert statt dessen eine zwei Meter breite Wintergartenzone als Lärmpuffer. Auffällig dabei, dass die so oft konstatierte Nüchternheit der Architektur von Christiaanse keineswegs in eine schlichte Materialästhetik mündet: Das warme Zedernholz bildet einen spannenden Kontrast zu den eher kühlen Materialien Beton, Glas und Stahl.

Etwa zur gleichen Zeit (1994-98) stellte Christiaanse zwei ebenso elegante wie freundliche Wohnkomplexe in einer Amersfoorter Nachkriegssiedlung fertig. Ihm gelang dabei ein neuer Typus von Galeriewohnung, bei dem der von der Holzfassade abgelöste Laubengang zu einer drei Meter breiten Wohnstrasse erweitert wurde. Auf diese Weise wird nicht nur die Privatsphäre der Bewohner gewahrt, sondern auch das bei Galeriewohnungen sonst übliche Problem der Verschattung stark gemindert. Die Zugänge zu den einzelnen Wohnungen in der Spreeuwen- und Koekoek-Strasse führen über jeweils 3 mal 3 Meter grosse Brücken - eine Art Zwischenzone zwischen der öffentlichen Wohnstrasse und den eigentlichen Wohnungen, die von den Bewohnern als private Terrasse genutzt werden kann, die aber auch Raum für Nachbarschaftskontakte schafft.


Wohnbauprojekte

Einen ganz anderen Massstab galt es in Berlin zu bewältigen. Die künftige «Wasserstadt am Spandauer See» soll bis zum Jahr 2010 rund 14 000 neue Wohneinheiten für rund 35 000 Bewohner bereitstellen - eine «städtische Landschaft» mit hoher Dichte in topographisch einmaliger Lage. Teil des gigantischen Projektes ist ein 1994 von Christiaanse eingereichter und inzwischen fast vollständig realisierter städtebaulicher Entwurf für rund 1800 Wohnungen und 45 000 m² Büro-, Einzelhandels- und Dienstleistungsflächen auf dem sogenannten Siemens- Quartier, einer Halbinsel im westlichen Uferbereich der Oberhavel, die sich bereits seit Jahrzehnten im Besitz des Elektronikherstellers befindet und wo aus den Anfangsjahren noch die 1929 von Hans Poelzig erbaute Fertigungshalle erhalten ist. Christiaanses Entwurf, an dessen architektonischer Umsetzung neben ihm auch Josef Paul Kleihues beteiligt gewesen ist, überzeugt vor allem durch seine Betonung des Inselcharakters und seine sensible Gestaltung der Uferzonen als wichtigster öffentlicher Raum: Die Strassenzüge öffnen sich zum Wasser hin konisch und formen sich in entgegengesetzter Richtung unter dem Einfluss des kurvigen Ufers zu unregelmässigen Vierecken. Dadurch ergeben sich interessante Sichtbeziehungen vom Wasser zur terrassenförmig angelegten Dachlandschaft und umgekehrt.

Durch ihre Lage am Wasser zeichnen sich auch zwei gegenwärtige Projekte von Christiaanse aus: Im östlichen Hafengebiet von Amsterdam, wo der Architekt bereits 200 Wohnungen auf dem nach einem städtebaulichen Konzept von Sjoerd Soeters bebauten «Java-Eiland» (1992-98) und 44 Wohnungen auf der nach Plänen von West 8 bebauten Mole «Borneo-Sporenburg» (1994-98) realisieren konnte, wurde vor kurzem mit der Umgestaltung der alten Speichergebäude entlang dem langgestreckten IJ-Ufer begonnen. Nach den Entwürfen von Christiaanse wird der heute ungenutzte Gebäudezug zu einem zusammenhängenden Ensemble mit Büroflächen, Wohn- und Arbeitslofts, Luxusappartements und Sozialwohnungen umgestaltet, wobei neben neuen Volumen auch die alten Speichergebäude «Afrika», «Asien» und «Europa» integriert werden sollen. «Es sind die Grenzen zwischen den alten und neuen Stadtfragmenten, die die Stadt bewusst machen», erklärt Christiaanse. «Wir versuchen sie zu stärken und ihnen eine Identität zu geben. Die Stadtteile bekommen so einen neuen Eingang zur Geschichte.»

Unmittelbar vor der Ausführung stehen auch drei Gebäude am Holzhafen in Hamburg-Altona, die auf Grund ihrer zentralen, elbnahen Position ein wichtiges Element bei der weiteren Entwicklung der Hamburger Wasserfront bilden sollen. In städtebaulicher Hinsicht wird das Elbufer hier vor allem durch die Abwechslung von massiven Speichergebäuden und offenen Zwischengebieten bestimmt - durch Christiaanses Bebauung wird das Gebiet um einen weiteren dieser typischen «trichterförmigen Räume» erweitert, die die Elbe mit weiter zurückliegenden Gebieten wie Fischmarkt oder Fischereihafen verbinden: Zwei Backsteinbauten sollen einen wuchtigen Rahmen für das alte Hafenbecken und einen Vorplatz formen; etwas zurückversetzt plant Christiaanse ausserdem einen kristallinen Wohnturm. Um die ufernahe Lage noch weiter zu betonen, sollen mäandrierende Grundrisse und Fassaden sowie das Aushöhlen der Bauvolumen durch grosszügige Innenhöfe vielfältige Ausblicke aufs Wasser gewähren.


Schulhaus mit gummiartiger Hülle

Eine Bauaufgabe ganz anderer Art hat Christiaanse unlängst auf dem Rotterdamer Maashalbinsel Kop van Zuid fertiggestellt: Von der anliegenden Strasse aus zeigt sich die inmitten des Wohngebietes Stadstuinen angesiedelte Pijler Grundschule (1996-98) als minimalistischer, nahezu geschlossener Baukörper. Die eher aneinandergeleimten als mit Mörtel vermauerten und dabei mit ihren Grundflächen nach aussen gekehrten Ziegel erzeugen den Eindruck einer nahtlosen und straffen, fast gummiartigen Aussenhaut mit gleichzeitig abstrakter und taktiler Textur. Zum Innenhof hin hat Christiaanse dagegen mit grossen Glasflächen für helle Klassenräume gesorgt. Besonders begeistert aber sind die Schüler über eine ganz in Holz ausgeführte Veranda - ein «Open-air Klassenraum», von dem aus sie über eine externe, ebenfalls in Holz ausgeführte Aussentreppe direkt hinunter in den Schulhof gelangen können!

7. Januar 2000 Neue Zürcher Zeitung

Manhattan an der Maas

Metamorphose des Rotterdamer Stadtquartiers Kop van Zuid

Seit den sechziger Jahren haben sich die Aktivitäten in den meisten europäischen Hafenstädten verlagert: in Rotterdam beispielsweise in Richtung Europort an der Maas-Mündung. Brachliegende ehemalige Hafenflächen und leerstehende Gebäude waren die Folge. Auf der Maas-Halbinsel Kop van Zuid wandeln sie sich nach einem städtebaulichen Plan von Teun Koolhaas seit Mitte der achtziger Jahre zu einem zentrumsnahen Quartier.

Die Gegensätze zwischen Amsterdam und Rotterdam sind seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich stärker geworden: Während sich die pittoreske, historisch gewachsene Innenstadt von Amsterdam nach wie vor durch eine homogene Höhe auszeichnet, erinnern in Rotterdam nur noch wenige Strassenzüge und Einzelbauten an die Zeit vor 1940, als deutsche Bomben die Stadt weitgehend zerstörten. Nach dem Krieg wurde die Maas- Metropole fast vollständig in neuen Formen wiederaufgebaut. Sie bietet heute fast das Bild einer amerikanischen Stadt.


Musterstadt der Moderne

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hatte sich die Bebauung Rotterdams noch ausschliesslich auf die Bereiche nördlich der Maas erstreckt. Erst als die Hafenbecken nach und nach zum südlichen Ufer hin verlegt wurden, begann sich die Stadt zunehmend auch hierhin auszubreiten. Im Verlauf von nur 25 Jahren wurden mehr als 120 Hektar Agrarland zum Hafengebiet umgewandelt. Die stetig ansteigende Einwohnerzahl - die Bevölkerung Rotterdams wuchs um 1900 jährlich um rund 10 000 Menschen - führte seit 1916 zum Bau zahlreicher öffentlicher Wohnkomplexe, darunter bedeutende Projekte von Michiel Brinkman und dem damals neu eingesetzten Stadtarchitekten Jacobus J. Oud, der zwischen 1919 und 1930 Siedlungen in den Stadtteilen Spangen, Tusschendijken und Kiefhoek schuf. In der Folge entwickelte sich Rotterdam zu einer regelrechten Musterstadt der Moderne. Aus der gleichen Zeit stammt auch die im Nordwesten Rotterdams gelegene Van-Nelle-Fabrik von Brinkman & Van der Vlugt (1925-31), die noch heute als Ikone des Neuen Bauens gefeiert wird.

Nach dem deutschen Angriff im Mai 1940 blieben nur noch wenige innerstädtische Gebäude erhalten, darunter das Rathaus von 1920, das Postamt von 1923 und die gerade erst fertiggestellte Rotterdamer Börse. Statt eines Wiederaufbaus entschied man sich in Rotterdam jedoch konsequent für einen grossflächigen Neuaufbau. Federführend zeigte sich dabei vor allem das Büro Van den Broek & Bakema, das seit Beginn der fünfziger Jahre unter Beibehaltung der Maximen der Moderne unter anderem die berühmt gewordene Fussgängerzone De Lijnbaan errichtete.

War es seit Ende der sechziger Jahre eher Amsterdam, das mit den Forum-Architekten um Herman Hertzberger und dem vor kurzem verstorbenen Aldo van Eyck den niederländischen Architekturdiskurs bestimmte, so prognostizierte Rem Koolhaas Anfang der achtziger Jahre, dass nun in Rotterdam in städtebaulicher und architektonischer Hinsicht vieles geschehen werde. Koolhaas sollte recht behalten, denn tatsächlich wurde seitdem eine stattliche Anzahl städtebaulicher Projekte geplant und realisiert, mit teilweise atemberaubender Geschwindigkeit, die in anderen europäischen Städten - abgesehen vielleicht vom wiedervereinigten Berlin - so niemals denkbar wäre: Fast zeitgleich mit dem Bau der Kunsthalle von Rem Koolhaas (1988-92) wurde unweit davon Jo Coenens Niederländisches Architekturinstitut fertiggestellt. Im sogenannten Weena-Gebiet im Inneren der City, wo eine von Koolhaas entworfene Busstation am Hauptbahnhof die ankommenden Bahnreisenden begrüsst, war schon ab Mitte der achtziger Jahre in nur fünf Jahren Bauzeit ein Boulevard mit Hochhäusern im amerikanischen Stil errichtet worden.

Der Höhepunkt der städtebaulichen Entwicklung steht Rotterdam jedoch wohl erst noch bevor: Waren es durch die Verlegung der Hafenaktivitäten zum Europort hin zuerst die nördlichen Hafengebiete (De Oude Haven, De Leuvehaven und Delfshaven-Buitendijks), die eine Wohnfunktion bekamen, konzentriert sich die Entwicklung Rotterdams gegenwärtig auf die südliche Maas- Halbinsel Kop van Zuid. Bis zu Beginn der achtziger Jahre wohnten hier fast ausschliesslich Hafenarbeiter. Die Auslagerung der Hafenaktivitäten und die damit einhergehende Rezession führten im Viertel zu hoher Arbeitslosigkeit und steigender Kriminalität. Die Stadt erklärte die alten Hafengebiete daher zum Sanierungsgebiet.

Im Auftrag der Stadt Rotterdam entwickelte Teun Koolhaas, der Neffe von Rem Koolhaas, 1987 einen städtebaulichen Plan, der - durch die Londoner Docklands inspiriert - eine für die damalige Zeit neuartige Metamorphose des heruntergekommenen Hafengebietes vorsah. Ausgangspunkt des Konzepts war eine neue Verbindung zum Festland, die den zuvor durch die Maas abgeschnittenen Süden Rotterdams an das Zentrum anschliessen und die infrastrukturelle Voraussetzung für den Bau von 5300 Sozial- und Eigentumswohnungen, 380 000 Quadratmetern Bürofläche sowie Läden, Restaurants, Sport- und Freizeiteinrichtungen bilden sollte. Der Plan zeigt sich ähnlich rigoros, wie die Planungen zum Wiederaufbau der Stadt nach dem Weltkrieg: Auch bei der Neuordnung des ehemaligen Hafenquartiers Kop van Zuid sollten nur wenige der historischen Bauten erhalten bleiben.

Die Anbindung an die Innenstadt wurde 1996 durch die Eröffnung der atemberaubenden, deutlich an Arbeiten von Santiago Calatrava orientierten Erasmus-Brücke von Ben van Berkel erreicht - ein regelrechter «Quantensprung über die Maas», wie die Rotterdamer meinen. Seitdem wandelt sich die Maas-Halbinsel vom ehemaligen Industriegebiet zu einem nur noch wenige Minuten von der Innenstadt entfernten Quartier mit Wohn- und Dienstleistungsflächen. Um die architektonische Qualität der Neubauten zu sichern, werden die eingereichten Pläne der vorgesehenen Neubauten regelmässig durch die Mitglieder eines von der Stadtverwaltung eingesetzten internationalen Ausschusses von Sachverständigen begutachtet. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere dem städtebaulichen Zusammenhang der architektonischen Entwürfe. Ohne ein positives Gutachten des Quality Team erteilt die Stadt keine Baugenehmigung.


Architektonische Qualitätskontrolle

Erster Höhepunkt des neuen Stadtquartiers war die grossflächige Wohnbebauung de Landtong von Frits van Dongen (de Architekten Cie, Amsterdam), die fast zeitgleich mit der Erasmus- Brücke fertiggestellt wurde. Das Raumprogramm der dreiseitig vom Wasser umspülten «Landzunge» zwischen Spoorweghaven und Binnenhaven besteht aus insgesamt 623 Wohneinheiten, die von van Dongen auf unterschiedlich ausgebildete Wohnblöcke verteilt wurden: In einer wohlüberlegten Komposition aus Masse, Material und Typologie gehen fünf frei gestellte, zum Teil terrassierte Riegel in drei Turmbauten über, die aus dem viergeschossigen Sockel des Komplexes emporsteigen. Einem elfgeschossigen Riegel zur nördlich gelegenen Maas hin, der in seiner strengen Komposition die Backsteinarchitektur industrieller Hafengebäude zu zitieren sucht, steht dabei nach Süden hin ein etwas flacher gehaltener Riegel mit immerhin noch acht Geschossen entgegen. Besonders markant sind jedoch die mittleren drei Riegel der Landtong ausgebildet, die terrassenartig von vier Geschossen im Süden bis auf elf Geschosse im Norden ansteigen. Weiter südlich schliesst sich dem Komplex ein offeneres Wohngebiet mit überwiegend zwei- bis viergeschossigen Häusern an.

Im gegenüberliegenden Entrepothaven, einem inzwischen als Jachthafen genutzten Teil des Binnenhavens, wurde hingegen versucht, die besondere Atmosphäre des Ortes zu bewahren. Neben alten Hafenkränen blieb hier auch das für Rotterdamer Verhältnisse schon fast «antike» ehemalige Lagerhaus Der vijf Werelddelen (Die fünf Kontinente) aus dem Jahr 1879 erhalten. In den oberen Geschossen des Backsteingebäudes wurden rund einhundert neue Wohneinheiten eingerichtet, im Erdgeschoss sorgen Restaurants und Läden für Hafenatmosphäre. Weniger gelungen erscheint dagegen die gegenüberliegende Seite des Hafenbeckens, wo vergeblich versucht wurde, mit einer modernen Architektursprache an das Vorbild des alten Lagerhauses anzuknüpfen.

Mehr Einfühlungsvermögen beweist ein halbkreisförmig angelegter, mit Fassaden aus Holz verkleideter Wohnblock von Cepezed (1994-95), der am nordwestlichen Ende des ehemaligen Lagerhauses einen fliessenden Übergang zwischen einem Platz und dem angrenzenden Binnenhaven schafft. Mit seiner Kreisform zitiert das Gebäude überdies geschickt die ebenfalls halbkreisförmigen Enden eines langgestreckten, annähernd V-förmigen Wohnblocks von Carel Weeber, der südlich des Entrepothavens 549 Wohnungen zur Verfügung stellt. Der Bau sorgt für einen wichtigen städtebaulichen Akzent im östlichen Bereich des Kop van Zuid.


Türme und Theater

Die Rosestraat weiter abwärts, direkt neben dem Bahnhof Rotterdam-Zuid gelegen, schliesst das 1997 durch das Architektenduo Bolles & Wilson aus Münster und das Rotterdamer Büro Kruisheer Elffers fertiggestellte Albeda College den Kop van Zuid nach Süden hin ab. Auf dem dreieckigen Gelände treffen zwei unterschiedlich genutzte dreigeschossige Gebäudeflügel auf spitzem Winkel zusammen und steigen von dort zu einem raffiniert gestalteten, vertikalen Baukörper auf. Die Fassade des imposanten Turms weicht im Erdgeschoss des Gebäudes einige Meter zurück und neigt sich in den oberen Stockwerken weit nach vorn, so dass der Turm fast zu schweben scheint - ein überaus gelungener Bezug zum expressiv geknickten Pylon der Erasmus-Brücke!

Vom Albeda College führt der Rundgang wieder nach Norden; vorbei am Hillekop Plein, wo die Delfter Mecanoo-Architekten Ende der achtziger Jahre einen wellenförmig angelegten Wohnkomplex geschaffen haben, und schliesslich wieder zurück zur Erasmus-Brücke. Kurz vor der Brücke trifft der Blick auf den wuchtigen Wilhelminahof vom Rotterdamer Büro Kraaijvanger & Urbis (1994-97), der auf insgesamt 15 Geschossen rund 120 000 Quadratmeter Bürofläche bietet. Der in orangerotem Backstein gehaltene Baukörper dient als weithin sichtbare Eingangssituation des neuen Quartiers und stellt den zurzeit noch wichtigsten städtebaulichen Punkt für die Erschliessung des Kop van Zuid dar - sein gewaltiges Nordportal wirkt dabei fast wie eine steinerne Kulisse für das ebenfalls von Kraaijvanger & Urbis entworfene Gerichtssaalgebäude sowie für einen halbkreisförmig angelegten Büroturm von Cees Dam. Nach Osten und Süden hin wird der Wilhelminahof in den nächsten Jahren durch einen rund 135 Meter hohen Büroturm sowie durch zwei weitere grossflächige Gebäudekomplexe erweitert: auf der Zuidkade 1 sollen in vier Gebäuden Wohn- und Büroflächen von insgesamt 50 000 Quadratmetern entstehen, auf der Zuidkade 2 ist ein Ensemble mit rund 80 000 Quadratmeter Bürofläche geplant.

Direkt gegenüber dem Wilhelminahof wird gegenwärtig nach Plänen von Bolles & Wilson das Luxor-Theater errichtet. Hinter seinen tomatenroten Aussenwänden soll das Musicaltheater Platz für rund 1500 Besucher bereitstellen. Das Münsteraner Büro konnte sich mit seinem ungewöhnlichen Entwurf unter anderem gegen einen Vorschlag von Rem Koolhaas durchsetzen. Von der Baustelle des Luxor-Theaters sind es nur noch wenige hundert Meter zum Wilhelminapier, dem historischen Zentrum des Kop van Zuid. Rotterdam spielte eine wichtige Rolle bei der Emigration nach Amerika, seit 1873 stachen vom Wilhelminapier aus Tausende von Passagieren auf Schiffen der späteren Holland-Amerika-Linie (HAL) in See. Zurzeit wird die schmale Landzunge noch durch das prachtvolle, mit Jugendstilmotiven geschmückte Verwaltungsgebäude der HAL bestimmt, das zwischen 1901 und 1920 vom Büro Müller und Van der Tak realisiert wurde. Nach der aufwendigen Restaurierung des Gebäudes mit den zwei kupferfarbenen Türmen hat sich hier 1993 das Hotel New York eingerichtet, das als Geheimtip unter Rotterdam-Reisenden gilt.


Zukunftsprojekte

Einige Meter weiter schliesst sich das von Brinkman, Van den Broek & Bakema errichtete Schiffterminal (1937-53) und Norman Fosters Meerforschungszentrum (1994) an. Doch der nostalgische Blick in die Vergangenheit trügt: Schon die Baukräne verraten, dass sich das Gesicht des Wilhelminapiers in einigen Jahren vollständig gewandelt haben wird. Nach Fosters Plänen soll auf dem langgestreckten Pier eine doppelreihige Hochhaus-Skyline entstehen - die Rotterdamer sprechen schon jetzt erwartungsvoll von «Manhattan an der Maas». Den Auftakt des gigantischen Vorhabens bildet das von Foster geplante World Port Center, mit dessen Bau 1998 begonnen wurde.

Weniger lang brauchen die Rotterdamer auf Renzo Pianos neues Hauptgebäude der PTT Telecom zu warten. Der rund 100 Meter hohe Bau am Fuss der Erasmus-Brücke soll demnächst fertiggestellt sein. Die nach Norden, zur Stadt hin ausgerichtete Fassade neigt sich ähnlich wie das Albeda College von Bolles & Wilson weit nach vorn. «Das Gebäude ist Teil des Rotterdamer Hafens, die Kräne stehen hier auch nicht gerade», erläutert der italienische Architekt seinen Entwurf. Dessen zentrales Element ist ein ebenfalls rund 100 Meter hoher und schräg stehender, durch einen mächtigen Pfeiler gestützter Bildschirm, der die Reklamewände auf dem Times Square in New York, dem Piccadilly Circus in London, vor allem aber von «Blade Runner»-City zitiert. Die im oberen Teil verbreiteten Botschaften dieser überdimensionalen Zeitung sollen auch noch am anderen Maasufer lesbar sein. Wer immer also eines der 290 Luxusappartements in De Hoge Heren am gegenüberliegenden Kopf der Erasmus-Brücke beziehen wird, der kann aus den auf einem wuchtigen Sockel stehenden Zwillingstürmen von Wiel Arets stets die neusten Nachrichten erblicken.

Das ehrgeizige Projekt Kop van Zuid stellt gegenwärtig die zentrale städtebauliche Aufgabe Rotterdams dar. Ein gewaltiger Umbruch - die Betriebsamkeit des einst grössten Binnenhafens der Welt weicht Schritt für Schritt der postindustriellen Stadt mit ihren wuchtigen Büro- und Wohnkomplexen. Schnell drängen sich da Vergleiche mit der Umnutzung der ehemaligen Osthäfen in Amsterdam auf, wo auf den erhalten gebliebenen Hafenmolen KNSM, Java, Borneo und Sporenburg demnächst Häuser für insgesamt 20 000 Bewohner fertiggestellt sein werden (NZZ 5. 3. 99) - ein ähnlich gewaltiges Projekt, das jedoch anders als der umgestaltete Kop van Zuid kaum gewerbliche Flächen vorsieht.

Die Erneuerung des Kop van Zuid wird zwar erst in einigen Jahren abgeschlossen sein, doch schon jetzt sieht sich die Stadtverwaltung dazu ermutigt, weitere potentielle Stadterneuerungsgebiete in den Blick zu fassen. Und als sei es damit noch nicht genug, sollen demnächst zwei Bauwerke die Höhe des seit 1960 höchsten Turms der Niederlande, des Euromastes, überbieten: Für ein Wohnhaus am Boompjes Boulevard am nördlichen Maasufer ist eine Höhe von über 200 Metern vorgesehen, und für einen in unmittelbarer Nähe des Euromastes geplanten Turm werden sogar 300 Meter angestrebt.

18. Dezember 1999 Neue Zürcher Zeitung

Unter Aluminium

Das «Museum Het Valkhof» von Ben van Berkel in Nijmegen

Im niederländischen Nijmegen wurde vor wenigen Wochen ein architektonisch bedeutendes Museum eröffnet, das sowohl moderne Kunst als auch Archäologie ausstellt. Der Neubau besteht aus einem achtzig Meter langen, extrem flach gehaltenen Körper, dessen seegrüne Milchglasfront von der dunklen Silhouette der dahinter sich erhebenden Baumriesen eingerahmt wird.

Als Nijmegen noch Noviomagus hiess, war der Ort die bedeutendste römische Festung auf dem Gebiet der heutigen Niederlande. Jahrhunderte später liessen hier zunächst Karl der Grosse und dann Friedrich Barbarossa die Valkhof-Pfalz (775) und die Valkhof-Burg (1152) errichten. In unmittelbarer Nähe dieses Ensembles hat im September das «Museum Het Valkhof» seine Pforten geöffnet. Mit der jüngsten Schöpfung des Amsterdamer Architektenduos Ben van Berkel und Caroline Bos kann die bewegte Geschichte der Stadt endlich an einem angemessenen Ort präsentiert werden. Das Haus zeigt neben Exponaten älterer und moderner Kunst vor allem die hier ausgegrabenen Zeugnisse aus römischer Zeit.


Supermarkt und Musentempel

Wie ein Chamäleon spiegelt die langgestreckte Milchglasfront die Launen des Wetters; und bei Dunkelheit scheint der Museumsbau wie ein lichter Goldbarren über dem Platz zu schweben. Über einen schwarzen Ziegelboden ins Innere gelangt, treffen die Besucher unversehens auf eine wuchtige Treppenskulptur aus beinahe weissem Beton - eine weitläufige, helle und fliessende Stufenlandschaft mit grünlichgrauen Betonböden und blanken Balustraden aus Birkenholz, die schnell das Bild eines römischen Amphitheaters hervorruft. Mit ihren weit ausgreifenden Armen verbindet die breite Treppe die auf drei Ebenen angesiedelten Abteilungen des Museums miteinander: Im Erdgeschoss befinden sich Buchhandlung, Café, Bibliothek, Verwaltung, Archive und pädagogische Abteilung, die «eigentlichen» Museumsräume sind fast ausschliesslich im oberen Geschoss angesiedelt. Im Untergeschoss haben Architekten und Ausstellungsmacher einen archäologischen Pavillon eingerichtet.

Das seit einigen Monaten zum UN Studio erweiterte Büro Van Berkel & Bos plant räumliche Arrangements, die «abtauchenden, niederstürzenden, aufschliessenden, zerschneidenden, faltenden Bewegungen folgen». Ob die Rotterdamer Erasmusbrücke oder die unweit von Amsterdam errichtete Möbius-Villa (NZZ 5. 2. 99) - die Aushebelung des Orthogonalen zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeiten des Büros. Weniger um vordergründige dekonstruktivistische Effekte zu erzielen, als vielmehr um «allumfassende Strukturen und Raumgefüge zu schaffen, die Konstruktion, Funktion und Benutzerströme zu einem Ganzen zusammenführen», wie van Berkel beschreibt.

«Supermarkt, Tempel und soziale Begegnungsstätte - programmatisch ist dieses Museum ein hybrider Raum»: dies konstatieren die Architekten in ihrem jüngst veröffentlichten, dreibändigen Manifest «Move», in dem das schnell wachsende Œuvre des UN Studio als flüchtiger Film vorbeizieht. Statt aus einer herkömmlichen Struktur mit abgetrennten eigenen Flügeln besteht das Raumgefüge des neuen Museums aus fünf parallelen Gängen mit unterschiedlich breiten Querverbindungen; ein Labyrinth der kurzen Wege, in dem sich die durch einfallendes Licht oder Sichtbeziehungen zwischen den einzelnen Strassen angelockten Besucher ihre individuellen Routen durch die verschiedenen Abteilungen suchen können. «Insgesamt sind 88 Wege durch das Museum möglich», rechnet van Berkel vor. 88 Möglichkeiten also, zwischen den einst im Provinzmuseum G. M. Kam aufbewahrten archäologischen Beständen und den bisher im Nijmegener Museum Commanderie van Sint Jan untergebrachten Kunst hin und her zu pendeln.


Erhebung in der Landschaft

Das spektakulärste Element des Museums ist seine ungewöhnliche Deckenkonstruktion: Die wellenförmig durch die Räume und Gänge mäandernden Aluminiumpaneele nehmen nicht nur alle technischen Installationen auf, sondern lassen darüber hinaus die unterschiedlichen Räume und Abteilungen des Museums zu einer Einheit verschmelzen. Die Reise des schillernden Aluminium-Plafonds beginnt wie die der breiten Treppe im Eingangsbereich; zusammen steigen dann beide in einer grossen Bewegung zu einer im oberen Geschoss gelegenen L-förmigen Galerie auf, von wo aus man einen guten Überblick über das Gebäudeinnere und eine traumhafte Aussicht auf den alten Stadtwall, den Valkhof sowie auf den dahinter gelegenen Fluss Waal und weite Teile der Provinz Gelderland geniesst.

Hier oben wellt sich die Aluminiumdecke über die Köpfe der Besucher hinweg und lädt dabei zum Vergleich mit dem wohl berühmtesten wellenförmigen Plafond der modernen Architekturgeschichte ein, der 1934 von Alvar Aalto geschaffenen Holzdecke im Vortragssaal der Stadtbibliothek von Viipuri. Aalto strebte mit seiner in sieben Teilen gleichmässig mäandernden Decke nach einer idealen Akustik, für van Berkel war statt dessen das Binnenklima das Hauptmotiv: Die fast chaotische Decke dämpft nicht nur das einfallende Tageslicht, sondern nimmt auch die technischen Installationen der Beleuchtungs-, Klima-, Sprinkler- und Alarmanlage in sich auf. Dabei richten sich ihre so mutigen Schwingungen keineswegs nach ästhetischen Idealen, sondern folgen ausschliesslich den erwarteten Besucherzahlen: In Räumen, in denen die Ausstellungsmacher mit grossem Publikumsandrang rechneten, mussten mehr Installationen untergebracht und damit auch heftigere Wellen erzeugt werden: eine Lösung, die Funktion, Konstruktion und das Verhalten der Benutzer auf verblüffende und einleuchtende Weise zum Einklang bringt. Und das Ergebnis? Auffallend ruhig und gelassen verhält sich die Decke über den Arbeiten der modernen Künstler. Zu etwas mehr Rührung lässt sie sich dann über den Werken der alten Meister verleiten; am meisten aber reagiert sie auf die vielen römischen Fundstücke. Wie gesagt: die Stadt hat eine bewegte Geschichte.

Robert Uhde


Museum Het Valkhof, Kelfkensbos 59, Nijmegen. Öffnungszeiten: Di bis Fr 10-17 Uhr, Sa, So und Feiertage: 12-17 Uhr.

3. September 1999 Neue Zürcher Zeitung

Verdichtete Utopien

Das Rotterdamer Architekturbüro MVRDV

Mit einem Doppelwohnhaus in Utrecht, einem Sendegebäude in Hilversum und einem Altenwohnheim in Amsterdam erregte das junge Rotterdamer Architekturbüro MVRDV viel Aufsehen. 1998 schoben die drei Architekten Winy Maas, Jakob van Rijs und Nathalie de Vries ein «Theoriejahr» ein, um ihre Utopien einer Stadt der Zukunft weiter zu verdichten.

Ein wuchtiges, quaderförmiges Hafengebäude nahe dem ältesten Teil des Rotterdamer Hafens. Ganz oben, im dritten Stock, befindet sich das Büro von MVRDV. Zwischen zahllosen Modellen aus Holz, Harz, Karton oder Kork schwirren 25 junge Mitarbeiter durch die grosszügig angelegten Räume. Zwischendurch fällt der Blick auf die gewaltigen Wassermassen der Maas - Sturm und Drang hier wie dort, eine Stimmung fast wie an der Amsterdamer Börse. Immer häufiger kommt es inzwischen vor, dass das nach den Namensinitialen der drei Gründungsmitglieder benannte Büro Aufträge ablehnen muss.


Sturm und Drang

Der Gründung von MVRDV durch Winy Maas (1959), Jakob van Rijs (1964) und Nathalie de Vries (1965) vor sieben Jahren gingen ein gemeinsames Studium an der TU in Delft und Erfahrungen bei Rem Koolhaas in Rotterdam, bei Berkel & Bos in Amsterdam und bei Mecanoo in Delft voraus. Winy Maas hatte überdies ein Landschaftsarchitektur-Studium absolviert und für die Unesco in Nairobi gearbeitet. Danach lief alles sehr schnell: Nachdem sich die drei Architekten schon 1991 mit dem Projekt «Berlin Voids» für eine Wohnbebauung im Prenzlauer Berg in Berlin einen Preis im Europan-2-Wettbewerb hatten sichern können, folgte 1993 der Auftrag für den Ende 1997 vollendeten Bau eines zentralen Sendegebäudes für den Alternativ-Radio-Sender VPRO in Hilversum (NZZ 27. 1. 98). Die Radiomacher wollten die 13 über die gesamte Stadt verteilten Standorte des Senders zu einem Gebäude zusammenführen. Als moderne Adaption von Herman Hertzbergers Centraal-Beheer-Bürogebäude in Apeldoorn (1968-1972), das in der Ära nach Achtundsechzig eine partizipatorische Architektur versucht hatte, errichtete MVRDV einen vollständig transparenten, fünfgeschossigen Betonbau, dessen mäandrierende Ebenen durch raffiniert angelegte Stege, Rampen und Treppen fliessend ineinander übergehen. Damit ergibt sich ein spielerisch gestaltetes Raumkontinuum von eher öffentlichen Zonen bis zu intimeren Räumen.

Zeitgleich mit dem VPRO-Gebäude stellten die MVRDV-Architekten ihren Woonzorgcomplex (WoZoCo) in Amsterdam Osdorp vor. Ausrichtung und Höhe der Gartenstadt aus den fünfziger Jahren waren baurechtlich festgelegt. MVRDV machte daraus eine gestalterische Tugend und hängte 13 der 100 Wohnungen als freischwebende Volumen von der Fassade ab. Eine perfekt inszenierte Ausnutzung des vorhandenen Raumes! Ähnlich auch der Grundgedanke für die Villa KBBW, ein viergeschossiges Zweifamilienhaus in Utrecht, das Winy Maas gemeinsam mit dem Architekten Bjaerne Mastenbroek (De Architektengroep, Amsterdam) errichtete: Mit den beiden zickzackartig miteinander verklammerten Wohnungen, deren transparente Fassaden ein völliges Verschmelzen von Innen- und Aussenraum erzeugen, zeigen die Architekten, dass sich das von ihnen vertretene Prinzip des Verschachtelns und Verdichtens auch auf den Wohnungs- und Siedlungsbau anwenden lässt.

Je mehr man sich mit den städtebaulichen Theorien von MVRDV auseinandersetzt, desto mehr geraten die vor Ort so individuellen Lösungen zu gebauten Manifesten von Urbanität und Verdichtung. In «Farmax», einem 753 Seiten dicken Buch von MVRDV, in dem die Leser durch utopische Szenarien für die Rotterdamer und die Amsterdamer Innenstadt geführt werden, propagieren die Architekten eine Steigerung der Kapazitäten unseres derzeitigen Lebensraumes durch horizontales und vertikales Zusammenballen mit maximaler Konzentration verschiedener Funktionen. Deutlich sichtbar bleibt dabei der Einfluss von Rem Koolhaas, dessen Buch «S,M,L,XL» einen neuen Typus Architekturbuch darstellte. Zwar behandelte Koolhaas nur seine Projekte und dachte weniger stark in Manifesten, dennoch beschwörte auch er auf essayistische Weise ein neues architektonisches Zeitalter herauf.


Kultur der Verdichtung

Für Koolhaas besteht der bedeutendste Beitrag Amerikas zum urbanen Design in den geballten Hochhaus-Zentren der Städte, ein Phänomen, das er als «Culture of Congestion», «Kultur der Ballung», bezeichnet. Ähnliches schwebt auch den Architekten von MVRDV vor: «Immer mehr Regionen der Welt sind zu mehr oder weniger durchgehenden städtischen Ballungsgebieten geworden.» In Europa zeige das allmähliche Zusammenwachsen von Gegenden in Oberitalien, im Schweizer Mittelland, im Rhein-Main-Gebiet, im Ruhrgebiet oder in der «Randstad» zwischen Rotterdam und Amsterdam, wie wichtig es sei, sich Gedanken über die Stadt der Zukunft zu machen, meinen die Architekten von MVRDV. Der zunehmenden Langeweile, die aus dieser homogenen Zersiedelung resultiere, stellen sie das Konzept einer abwechslungsreichen Kombination von vertikal und horizontal verdichteten Ballungszentren und «künstlichen» Naturflächen («Light Urbanism») entgegen.

Gegenwärtig arbeiten Maas, van Rijs und de Vries an der Computeranimation Metacity/Datatown. Das jüngst in der Berliner Galerie Aedes East und zuvor bereits in Den Haag gezeigte Projekt stellt einen visionären Stadtentwurf vor, der auf einer Extrapolation niederländischer Statistiken beruht. In einem begehbaren Kubus, dessen Wände aus Projektionsflächen bestehen, wurden die Besucher auf eine digitale Reise durch einen virtuellen Stadtstaat entführt. «Wie können wir die Stadt in Zeiten der Globalisierung und Bevölkerungsexplosion verstehen? Verlieren wir in dieser unübersichtlichen Fülle die Kontrolle, oder können wir den Ursachen nachgehen und sie manipulieren?» fragen die Architekten und fordern: «Lasst uns die dichteste Stadt der Welt erfinden, die erlaubt, Raum für eine wachsende Weltbevölkerung zu schaffen.» Ähnlich wie die im letzten Jahr vorgestellten Pläne des niederländischen Architekten Carel Weeber für ein «Wildes Wohnen» folgt auch Metacity/Datatown einer klassischen Annäherung zur Stadt, nämlich der Dauer von einer Reisestunde (im Mittelalter noch 4 Kilometer, mit einem modernen Hochgeschwindigkeitszug sind es heute bis zu 400 Kilometer). Der autarke Stadtstaat ist damit viermal so gross wie die Niederlande. Bei einer ebenfalls viermal so hohen Bevölkerungsdichte von rund 1500 Einwohnern je Quadratkilometer (der Kanton Genf zählt 1400, der Kanton Basel-Stadt 5200 Einwohner je Quadratkilometer) würden hier 250 Millionen Einwohner leben - die Bevölkerung der USA in einer einzigen Stadt!

Innerhalb von Metacity/Datatown unterscheiden die Architekten von MVRDV 26 Sektoren, variierend zwischen Landbau und Wald, Müllplatz und Friedhof, und stellen Berechnungen darüber an, wieviel Wald nötig ist, um das anfallende CO2 umzuwandeln, oder welcher Platz gebraucht wird, um die benötigte Energie durch Windkraft zu erzeugen - eine typisch holländische, fast calvinistische Methode: pragmatisch, klar und streng geordnet, beinahe spartanisch. Auch wenn man zweifelt, ob Metacity/Datatown tatsächlich die Visualisierung einer begehrenswerten Utopie oder eher die Darstellung eines Albtraums zeigt - in der Realität greift die Strategie der Verdichtung allemal und führt sogar zu ungeahnten Freiheiten, wie die bisher fertiggestellten Projekte des Büros beweisen. Im östlichen Hafengebiet von Amsterdam, dem derzeit kompaktesten Neubaugebiet in den Niederlanden, stellt MVRDV gegenwärtig zwei radikal in die Tiefe organisierte, schmale Reihenwohnhäuser fertig. Eine der beiden zwischen 4 und 5 Meter breiten und 16 Meter tiefen Parzellen wird sogar nur zur Hälfte bebaut! An die vollständig transparente Innenfassade des Hauses wollen die Architekten zwei Volumen hängen, die frei über dem unbebauten Teil des Grundstückes schweben. Innen- und Aussenraum sollen so unmerklich ineinander übergehen.

Als weitere Projekte entwickeln die Architekten gerade die «Z-Mall» für das staatlich festgesetzte Vinex-Gebiet Leidschenveen und den niederländischen Pavillon für die Expo 2000 in Hannover (NZZ 22. 4. 99). Das vertikale Mini-Öko-System soll aus verschiedenen Typen künstlich angelegter Landschaften (Pflanzen, Wasser, Regen, Wind, Strand, Häuser, Wald oder Landwirtschaft) bestehen, die auf insgesamt 35 Metern Höhe durch quadratische Geschossplatten voneinander getrennt und übereinander geschichtet werden. «Die Niederlande, ein Staat mit hoher Bevölkerungsdichte, haben eine lange Tradition der Landgewinnung aus dem Meer. Mit unserem Projekt wollen wir diese Künstlichkeit weiter radikalisieren», meint Maas optimistisch. Und weiter gedacht: Warum sollen unsere Kinder in Zukunft nicht tatsächlich im 12. Stock spielen? Dort gibt es immerhin einen kleinen See, und ausserdem fahren hier oben keine Autos!

4. Juni 1999 Neue Zürcher Zeitung

Bauen mit wenig Theorie und viel Engagement

Die Architektengruppe Mecanoo aus Delft

Mit einem kreativ gestalteten Wohnblock in Rotterdam haben die Mecanoo-Architekten Mitte der achtziger Jahre demonstriert, dass auch sozialer Wohnungsbau schön sein kann. Inzwischen zählt das nach dem dadaistischen Pamphlet «Mecanoo» von Theo van Doesburg benannte Team zu den erfolgreichsten niederländischen Architekturbüros der letzten Jahre.

Der Entwurf war stimmig, keine Frage. Aber dass sie den Wettbewerb zur Bebauung des Rotterdamer Kruisplein tatsächlich auch gewinnen könnten, daran hatten die drei Delfter Architekturstudenten Francine Houben, Henk Döll und Roelf Steenhuis wohl selbst nicht geglaubt. Eilig mietete die inzwischen durch die beiden Studienkollegen Chris de Weijer und Erick van Egeraat erweiterte Gruppe daraufhin einen kleinen Büroraum in der Delfter Innenstadt, und kaum achtzehn Monate später wurden die letzten der insgesamt 97 Sozialwohnungen im Rotterdamer Zentrum fertiggestellt. Um die verschiedenen Formen gemeinschaftlichen Wohnens mit hoher gestalterischer Qualität verbinden zu können, setzten die Architekten dabei von Anfang an auf einen intensiven Dialog mit Bauherren, künftigen Bewohnern und Nachbarn - eine Strategie, die bis heute die Planungsphase ihrer Projekte bestimmt.


Wohnungsbau

Seit der Fertigstellung des Wohnkomplexes am Kruisplein vor nunmehr 14 Jahren hat Mecanoo mehr als 220 Projekte entworfen. Etwa 80 davon sind bereits realisiert worden, weitere 35 Projekte befinden sich noch in der Planung. Das kleine Hinterzimmer in de Oude Delft 203 dient dabei nur noch als Bibliothek, denn längst haben sich die Aktivitäten des Büros über das gesamte Gebäude ausgeweitet. Zwei grossflächige Etagen mit einem kirchenähnlichen Raum im Zentrum bieten fast schon fürstliche Arbeitsbedingungen für die mittlerweile rund 60 Mitarbeiter von Mecanoo.

Die Bedeutung des staatlich gelenkten Wohnungsbaus, der vielen jungen Architekten als Sprungbrett zur Selbständigkeit dient, ist in den Niederlanden nach wie vor gross. Für die Architekten von Mecanoo bildete die Bebauung des Kruisplein den Auftakt zu einer ganzen Reihe weiterer Wohnbauprojekte. Allein in Rotterdam entwickelte die Gruppe Stadtquartiere am Tiendplein (1984-90), an der Hillelaan (1985-89) und am Ringvaartsplas (1988-93). In Maastricht folgte fast zeitgleich die Bebauung des Herdenkingsplein, in Den Haag stellte das Büro vor zwei Jahren ausserdem ein kompaktes Wohngebiet mit rund 800 Wohnungen am Groothandelsmarkt fertig. Die Idee der Gartenstadt, realisiert durch kleinteilige Reihenhausparzellen am Rand des Geländes, wird dabei mit wellenförmig angelegten Blöcken und einem zentralen Hochhaus verknüpft, das - ähnlich wie der zentrale Baukörper in der Rotterdamer Hillelaan - eine deutliche Nähe zu Alvar Aaltos «Neuer Vahr» in Bremen erkennen lässt.

Wo sich andere niederländische Architekturbüros, vor allem OMA oder MVRDV, in manifestartigen Schriften der Utopie einer maximal verdichteten Grossstadt anzunähern versuchen, bekennen sich die Architekten von Mecanoo offen zur Tradition der niederländischen Moderne; zu Jacobus Oud und Gerrit Rietveld oder zu den «Forum-Architekten» um Herman Hertzberger und den vor kurzem verstorbenen Aldo van Eyck, denen vor allem an der sozialen und integrativen Dimension der Architektur gelegen war. Wirkliche theoretische Programme sucht man bei Mecanoo jedoch vergeblich. «Wir sind frei von Dogmen, und das bedeutet, dass wir nie vorab Stellung beziehen», beschreiben Houben, Döll und de Weijer ihre Arbeit (van Egeraat, der bis 1995 massgeblich an zahlreichen Projekten beteiligt war, hat Mecanoo inzwischen ebenso verlassen wie Steenhuis). «Alles andere würde bedeuten, dass sämtliche Diskussionen über Architektur schnell in puren Stilfragen versanden, und die interessieren uns nicht. Wir suchen statt dessen bewusst eine langsame Annäherung. In manchen Fällen muss man ein bestehendes Gewebe fortsetzen und verstärken. In anderen Fällen ist es dagegen ratsamer, das vorgefundene Gewebe durch ein neues zu ersetzen. Die Entscheidungen sind vor allem vom Ort abhängig.»

Besonders eindrucksvoll lässt sich die Philosophie der Mecanoo-Architekten beim Rotterdamer Wohnhaus von Francine Houben am Kralingse Plas (1990-91) verfolgen. Durch eine fast vollständig gläserne Fassade bietet die lichtdurchflutete Villa am Ende einer Reihe von Häusern aus dem 19. Jahrhundert eine schöne Aussicht auf das Wasser und die Bäume des gegenüberliegenden Parks. Im dreigeschossigen, raffiniert verschachtelten Inneren, mit dem die Architekten an den eleganten Modernismus von Alvar Aaltos Villa Mairea (1937-39) anknüpfen, wurden grosse, durchgehende Räume mit überraschenden Durchgängen geschaffen, die sämtlich in offener Verbindung zueinander stehen. Deutlich zeigt sich dabei die Sensibilität gegenüber den Materialien: Die Projektarchitekten Houben und van Egeraat kontrastierten warme Materialien wie Holz, Kupfer und Bambus mit kühlen Baustoffen wie Glas, Stahl und Beton und erzeugten so ein raffiniertes Design mit ausserordentlich sinnlichen und taktilen, fast schon poetischen Effekten und Reizen. Den für den Boden verwendeten Beton behandelten sie mit einer Lage aus Wachs, die dem rauhen Material einen subtilen Glanz verleiht. Je nach Intimität der Räume wird das Material wärmer, durch das Zusammensetzen von Holz und Stein wird ausserdem die natürliche Farbe verstärkt.


Landschaftsplanung

Ein anderes eher kleinformatiges Projekt hatten die Architekten von Mecanoo ein Jahr zuvor ein paar Kilometer weiter südöstlich am Maasufer errichtet. Die frech verspielte, scheinbar ungleichgewichtige Formgebung des «Boompjes»-Pavillons (1989-90) fügt sich nahtlos in die Hafenaktivitäten sowie eine von Kees Christiaanse errichtete schwarze Arkade mit einer zum Wasser hin gelegenen Tribüne ein und bildet zudem ein gelungenes städtebauliches Pendant zum zeitgleich gebauten 16stöckigen Hochhaus von Wim Quist auf der gegenüberliegenden Strassenseite.

Mit Beginn der neunziger Jahre lässt sich eine deutliche Erweiterung des Aufgabenfeldes von Mecanoo beobachten. Lag der Schwerpunkt des Büros in den ersten Jahren ausschliesslich in den Bereichen Wohnungs- und Städtebau, ist Mecanoo seit einigen Jahren auch auf den Gebieten Landschafts- und Innenarchitektur tätig. Ein überaus gelungenes Projekt haben die Architekten dabei auf dem nach Masterplänen von Rem Koolhaas erweiterten Utrechter Universitätscampus «de Uithof» geschaffen: Die nach dem Vorbild einer arabischen Kasbah errichtete Fakultät für Wirtschaft und Management (1993-95), ein kompakter, relativ flach gehaltener Gebäudeblock aus Beton, Glas, Stahl und Holz, umschliesst in ihrem Inneren drei hofartig angelegte Gärten - einen üppigen Dschungel-Patio, einen japanisch inspirierten Zen-Patio und einen mit Teich und Felsbrocken gestalteten Wasser-Patio.

Zu noch spektakuläreren Mitteln hat Mecanoo beim Bau der neuen Bibliothek der Technischen Universität in Delft (1992-98; NZZ 2. 6. 98) gegriffen. Von aussen zeigt sich der gegenüber dem 1966 gebauten «Béton-brut-Koloss» des berühmten Hörsaalzentrums von van den Broek & Bakema gelegene Bau weit eher als skulpturale Landschaft denn als universitäres Gebäude. Ein schräg ansteigendes, begehbares Grasdach, das am Fuss der breiten Eingangstreppe beginnt und nach etwa 80 Metern seinen Höhepunkt erreicht, mündet in ein rund 40 Meter hohes kegelförmiges Element, das in seinem Inneren vier Leseebenen beherbergt. Die übrigen Räume der Bibliothek, das Magazin, die Verwaltungsräume und den grossen Arbeitssaal, der durch seine transparenten Glasfassaden einen schönen Blick nach aussen ermöglicht, haben die Mecanoo-Architekten raffiniert unter dem aufsteigenden Grasdach verborgen.


Typologische Erneuerungen

Durch die zunehmende Online-Bereitstellung von Informationen verwandelt sich der repräsentative Bücherspeicher von einst mehr und mehr zur multimedialen Schnittstelle zwischen Benutzern und Informationseinheiten. Mit der Strategie, den weitaus grössten Teil des Buchbestandes kurzerhand ins Erdreich zu versenken, wo auf Regalen von insgesamt 45 km Länge rund eine Million Bücher ruhen, haben die Architekten auch eine zeitgemässe typologische Erneuerung der Bauaufgabe Bibliothek geschaffen. Den Besuchern unmittelbar zugänglich sind nur 80 000 wichtige Publikationen in einem vier Geschosse hohen Bücherregal, das an der Stirnseite des grossen Lesesaals vor eine ultramarin leuchtende Wand gehängt wurde. Die Bewegungen der Besucher vor den Regalen verleihen der Wand Tiefe und machen sie zu einem fast schon theatralisch inszenierten Schaufenster. Das gleiche Ultramarin, das sich im übrigen auch bei den Bodenbelägen im Kegel der Bibliothek wiederfindet, hatte die Projektarchitektin Francine Houben schon kurz zuvor beim sensiblen Umbau einer protestantischen Kirche aus dem 18. Jahrhundert zu einem Theater für die Amsterdamer Theatergesellschaft «De Trust» verwendet. Trotz einem Budget von nur 3 Millionen Franken war es ihr dabei gelungen, mit Hilfe von wenigen Akzenten wie Farbe und Licht die Aufmerksamkeit des Publikums auf bestimmte Bereiche zu lenken.

Zuletzt haben die Mecanoo-Architekten zwei Wohnbauten in Amsterdam fertiggestellt. In der Vinkenstraat das Domizil einer Wohngruppe älterer homosexueller Männer und Frauen, in der im gleichen Block gelegenen Brouwersgracht ein auf den ersten Blick wenig spektakuläres Doppelwohnhaus mit grossen Fensterpartien und Holzvertäfelungen, hinter dessen leicht nach vorne geneigtem Mauerwerk sich jedoch eine um so freiere Anordnung des Grundrisses verbirgt. «Je mehr man in der Lage ist, die Essenz eines Ortes zu verstärken, um so freier ist man in der architektonischen Formgebung. Das könnte man unseren Ausgangspunkt nennen», erklären die Architekten schlicht.

Robert Uhde

9. April 1999 Neue Zürcher Zeitung

Ein Fenster zum Wald

Die Villa «Aurora Borealis» von Paul de Ruiter

Als der Amsterdamer Architekt Paul de Ruiter mit dem Bau einer Seniorenvilla für ein älteres Ehepaar in der niederländischen Gemeinde Moergestel bei s'Hertogenbosch beauftragt wurde, liess er sich von Le Corbusiers «petite maison» am Genfer See inspirieren. Entstanden ist eine kleine Hommage eines Jungarchitekten an den grossen Meister.

Die Villa La Roche in Paris war gerade bezogen und «Vers une architecture» soeben erschienen, da machte sich der 37jährige Le Corbusier daran, seinen Eltern ein einfaches Haus in Corseaux bei Vevey am Ufer des Genfersees zu entwerfen. «Unser Haus ist einfach, so einfach wie sein Architekt», sollte seine Mutter später über die kleine Villa sagen. Le Corbusiers Vater lebte nur ein knappes Jahr in der «petite maison», er verstarb schon 1925. Seine Mutter, sollte jedoch noch 35 Jahre hier verbringen, bis zu ihrem Tod im Alter von 100 Jahren. Kurz darauf wurde die Villa unter Denkmalschutz gestellt. Eine späte Ehrung für die «längliche Kiste auf der Erde», wie der Meister das Haus nannte.

Ein Haus fürs Alter

Als der 1962 geborene Amsterdamer Architekt Paul de Ruiter vor einigen Jahren mit dem Entwurf einer Villa für ein etwa sechzigjähriges Ehepaar betraut wurde, erinnerte er sich an das Haus in Corseaux. Ihm schwebte kein originalgetreues Abbild, kein einfaches Zitat vor, sondern eine zeitgemässe und freie Übersetzung, die das Vorbild Le Corbusiers eher als assoziativen Hintergrund denn als konkrete Handlungsvorgabe begreifen wollte. Schon die Kulisse der «Villa Aurora Borealis», der «Morgenröte des Nordens», hätte kaum besser gewählt werden können: Der kompakte und fast minimalistische flache Bau aus Glas, Backstein und Zedernholz fügt sich sensibel in die waldige, leicht hügelige Landschaft Brabants ein. Dem Grundgedanken folgend, dass die Bewohner unabhängig bis ins hohe Alter in der Villa leben können sollten, hat Paul de Ruiter den 230 Quadratmeter grossen Grundriss des Hauses in zwei rechteckige, ineinander gedrehte Baukörper aufgeteilt. Beide Bereiche sind so angelegt, dass sie sich jederzeit zu zwei getrennten Wohnungen umstrukturieren lassen. Bei Pflegebedarf können also etwa die Kinder oder andere Personen mit in die Villa einziehen.
Um die Möglichkeit der Aufteilung in zwei getrennte Wohnungen auch nach aussen sichtbar werden zu lassen, haben beide Volumen eine eigene Materialsprache und Detaillierung erhalten: Nach Norden hin, wo Le Corbusier die Villa seiner Eltern in futuristische Blechschindeln hüllte, schliesst sich die Brabanter Villa durch anthrazitfarbenen Backstein und ein mit Kupfer beschichtetes Schrägdach von der Aussenwelt ab. Hier befindet sich der Gästebereich mit eigenem Bad und ein Arbeitszimmer. Der nach Süden zum Wald hin sich anschliessende «eigentliche» Wohnbereich mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und grossem Bad ist dagegen in rötlichem Zedernholz gehalten. Für ausreichend Licht im langen Flur zwischen beiden Baukörpern sorgt ein 16 Meter langes Oberlicht, das den Höhenunterschied zwischen dem flachen Wohnbereich und dem schrägen vorderen Bereich ausgleicht.

Nach Süden schafft viel Glas offene und helle Räume in der waldigen Umgebung. Besonders schön ist der Blick auf die Bäume aus dem vier Meter breiten Fenstervorsprung aus rahmenlosem, verleimtem Isolierglas – eine Spezialanfertigung, die für ein Höchstmass an Transparenz und Abstraktion sorgt und in diesen Ausmassen in den Niederlanden bisher noch nicht realisiert worden ist. Vom Garten aus wird dann ein weiteres Detail sichtbar: Hier hat de Ruiter den Höhenunterschied des Grundstückes genutzt, um einen Teil des in Holz gehaltenen Baukörpers spielerisch über dem Boden schweben zu lassen.
Um den Bewohnern im Alter ein möglichst barrierefreies Wohnen zu ermöglichen, weisen die einzelnen Räume der Villa keine Höhenunterschiede und keine Treppen auf und gehen fliessend ineinander über. Sämtliche Türen wurden dabei so verbreitert und proportional erhöht, dass man sie auch mit dem Rollstuhl benutzen kann. Wenn die mattgläsernen Türen offen sind, entsteht quer durchs Haus eine 15 Meter lange Sichtachse, die vom Badezimmer zum äusseren Ende des Wohnzimmers reicht. Im Zentrum befindet sich dabei das Schlafzimmer, «denn auch bei einer eventuellen Bettlägerigkeit sollen sich die Bewohner nicht an den Rand des Hauses abgeschoben fühlen», meint der Architekt.

Ästhetik und Ökologie

Paul de Ruiter, der nach seinem Studium an der TU in Delft zwischen 1991 und 1992 im renommierten Amsterdamer Büro van Berkel & Bos gearbeitet hat, sucht in seiner Arbeit nach einem ästhetisch wie energetisch sinnvollen Zusammenspiel von Gebäude, Fassade und Umraum. «Es imponiert mir, wie Jean Nouvel moderne Technologie als selbstverständlichen Teil von Kultur betrachtet», meint er und erwähnt dann auch den Minimal-Künstler Donald Judd und dessen Verständnis von Raum und Licht. Für das soeben fertiggestellte Mercator-1-Gebäude, das erste von insgesamt sechs Gebäuden, die Paul de Ruiter für den neuen Wissenschafts- und Technologiepark der Universität Nijmegen plant, hat er eine neuartige zweischalige Fassade aus Glas und transparentem Stoff entwickelt, deren abstrakte Rahmeneinteilung in der Tat interessante Bezüge zu Judd erkennen lässt. Aber Paul de Ruiter denkt schon weiter: «Mercator 6 soll dann ausschliesslich mit Wind- und Sonnenenergie auskommen. Gebäude können auf diese Weise zu Energieproduzenten umgestaltet werden.»

Neben der Villa «Aurora Borealis» und dem Mercator-1-Gebäude hat Paul de Ruiter in den vergangenen vier Jahren die Orchard Business Area in Wageningen, den ebenfalls in Nijmegen gelegenen Houtlaan Technology & Science Park und das Unternehmerzentrum Simon Stevin in Arnheim realisiert – eine beachtliche Referenzliste für einen erst 36jährigen Architekten, die aber in den Niederlanden keinen Einzelfall darstellt. Während andernorts über die schwierige Lage von Berufseinsteigern geklagt wird und Architekten noch mit vierzig als «jung» gelten, sorgen in den Niederlanden neben kurzen Studienzeiten vor allem der gegenwärtige Wirtschaftsboom und eher günstige Baukosten dafür, dass eine beachtliche Zahl junger, innovativer Büros sich profilieren kann. Paul de Ruiter jedenfalls muss sich kaum Gedanken über die Zukunft seines Büros machen: Mit dem Mercator-Projekt in Nijmegen wird er die nächsten acht Jahre beschäftigt sein, noch in diesem Jahr wird er ausserdem drei weitere Senioren-Villen bauen. Was ihn stört, ist, dass dieser Bautypus noch immer mit einem negativen Image behaftet ist, «dabei sind ältere Menschen heute oft erstaunlich aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen».

Die Entwurfsarbeiten zur ersten der drei Villen sind so gut wie abgeschlossen; im Zentrum des Hauses hat Paul de Ruiter ein kleines Atrium mit einem Schwimmbecken vorgesehen. Noch nicht entschieden hat er dagegen über das Dach der Villa. Gegenwärtig beabsichtigt er, erneut Kupfer zu verwenden. «Im Verlauf von etwa 20 Jahren wechselt das Dach dann seine Farbe und erhält dabei seine typische leuchtend-grüne Patina.» Ein schönes Bild des Alterns.

Publikationen

2008

Neue Architektur in den Niederlanden
Amsterdam + Rotterdam. Aufbruch zu neuen Ufern

Seit Jahren werden die Niederlande als Eldorado modernen Bauens gefeiert. Nirgends sonst ist in den letzten 15 Jahren eine derartige Vielzahl ungewöhnlicher Projekte entstanden. Besonders gut aufzeigen lässt sich diese Experimentierfreude am Beispiel der beiden Metropolen Rotterdam und Amsterdam. Mit
Autor: Robert Uhde
Verlag: Aschenbeck & Holstein